••• 19 : 24 ••• JUSTIN •••

Justin war eben erst auf die Beine gekommen, als er Danas Schrei hörte. Sein Kopf, gerade noch benebelt wie von einer stundenlangen Ohnmacht, wurde mit einem Schlag klar. Ein Adrenalinstoß rauschte durch seine Adern und ließ ihm die Ohren klingen.

«Dana!», schrie er und hastete in den toten Gang, bis er über einen Metallzylinder am Boden stolperte. Es war die Grubenlampe. Mit zittrigen Fingern griff Justin danach, hielt sie hoch und erkannte unmittelbar vor sich die Schachtöffnung.

«Was ist denn los?», rief eine verwirrte Stimme hinter ihm. Erst als Laura neben ihm stand und die Bruchstelle im Boden bemerkte, schlug sie entsetzt eine Hand vor den Mund.

Justin warf sich zu Boden und spähte in den Schacht hinab, die Lampe am ausgestreckten Arm. Sie erhellte einige Meter nacktes Gestein, der Tunnel jedoch verlor sich in unermeßlicher Tiefe.

«Dana! Finn!»

Einige Sekunden lang hallte nur das Echo seiner eigenen Stimme zurück – doch als es verklungen war, glaubte er Schreie zu hören. Im ersten Moment war er nicht sicher, dass es die Stimme seiner Freundin war – so fern und fremd klangen die Geräusche aus der Tiefe.

«Oh mein Gott», flüsterte Laura.

Justin lauschte mit schmerzhaft klopfendem Herzen. Die Schreie jagten ihm einen Schauder über den Rücken, denn sie waren schrill und unartikuliert, und sie wollten nicht abbrechen. So schrie nur ein Mensch, der entsetzliche Schmerzen litt oder dem der Schrecken die Worte verschlagen hatte.

«Dana!», brüllte er. «Kannst du mich hören?»

«Wir müssen Hilfe holen!» Laura packte ihn an den Schultern und zog ihn auf die Beine. «Eins-eins-zwei anrufen …»

«Handys funktionieren hier nicht», stieß Justin heiser hervor. «Wir sind zu tief unter der Erde.»

«Ich versuch’s trotzdem!» Laura lief den Gang hinunter in die Kammer zurück.

Justin blieb stehen, die Lampe in der Hand, für Augenblicke wie gelähmt. Was tun?, hämmerte es in seinem Kopf. Wir haben nicht einmal ein Seil … Oh mein Gott, ich bin schuld, wenn den beiden etwas passiert ist, ich habe sie hierhergebracht 

«Du hast recht!», schrie Laura zu ihm herüber. «Kein Netzempfang!»

Wir müssen nach draußen, begriff Justin.

Noch einmal beugte er sich über die Schachtöffnung und nahm alle Selbstbeherrschung zusammen, um seiner Stimme einen sicheren Klang zu verleihen.

«Dana! Halte durch! Wir holen Hilfe!»

Dann wandte er sich um und rannte los.

Laura, die in der Kammer über ihrem Handy kniete, blickte erschrocken hoch, als er auf sie zustürmte.

«Komm schnell!», rief er ihr zu. «Wir müssen aus diesem Bergwerk heraus!»

«Aber es dauert viel zu lange, bis wir oben sind – bis dahin könnten die beiden tot sein!»

«Hast du eine bessere Idee?»

Justin haschte nach dem Lageplan des Bergwerks und eilte zu dem Stollen hinüber, der zum Hauptschacht führte. Er rannte, wie er noch nie im Leben gerannt war. Zwei- oder dreimal hielt er keuchend inne, um einen Blick auf die Karte zu werfen, und hoffte inbrünstig, dass ihm in seiner Panik kein Fehler unterlief.

Bitte nicht auch noch verirren!, flehte er. Bitte lass mich den Weg wiederfinden!

Fast war es eine Überraschung, als er unvermittelt auf den Raum mit der Leiter stieß.

«Warte auf mich!», schrie Laura, die hinter ihm zurückgeblieben war.

Er musste sich beherrschen, um die wenigen Sekunden verstreichen zu lassen, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann klemmte er den Henkel der Lampe zwischen die Zähne, um beide Hände frei zu haben, und griff nach den Sprossen.

«Ich kann nicht so schnell!», keuchte Laura unter ihm, als er die erste Plattform erreichte.

Justin ignorierte sie, biss so fest auf das kalte Metall, dass seine Zähne schmerzten, und kletterte weiter.

Ich bin schuld, wenn etwas Schreckliches geschieht. Ich bin schuld 

Der Gedanke hämmerte unbarmherzig in seinem Kopf und verlieh ihm die Kraft, Sprosse um Sprosse im Eiltempo zu erklimmen. Die zweite Plattform glitt an ihm vorbei, dann die dritte.

Dreißig Meter … Halbzeit … Noch einmal so weit 

Seine Hände bewegten sich mechanisch, während die Leiter unter seinen Füßen ächzte. Die vierte Plattform kam in Sicht, die fünfte, endlich die sechste. Justin schwang sich auf das Aluminiumgitter, streckte ungeduldig einen Arm aus und zog Laura zu sich herauf. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, und das schwarze Haar klebte ihr im Gesicht.

Justin gönnte ihr keine Pause, sondern rannte den Gang hinauf, der zum Eingang des Bergwerks führte. Als der erste Tageslichtschimmer in Sicht kam, ließ er die Lampe fallen und zückte noch im Laufen sein Handy. Ein Rechteck aus blendender Helligkeit tanzte auf ihn zu. Als er ins Freie stürzte, kniff er erschrocken die Augen zusammen, schlug mit der Schulter gegen das Gittertor, taumelte und fiel auf die Knie. Benommen fühlte er Gras unter den Händen, rappelte sich auf und suchte einen Moment lang panisch nach dem Handy, das er fallengelassen hatte. Hinter ihm erschien Laura, die sich gegen die Böschung sinken ließ und keuchend eine Hand auf ihr Herz presste.

Justin bekam das Handy zu fassen und drückte mit fliegenden Fingern die Tasten. Er zwang sich, einen Augenblick innezuhalten, um seine Gedanken zu ordnen.

Wen anrufen? Notarzt? – Feuerwehr?

Wer hatte die nötige Ausrüstung, um zwei Menschen aus einem Bergwerksschacht zu bergen? Justin wusste es nicht … und ihm fiel nur ein einziger Mensch ein, der sich gut genug unter Tage auskannte, um die richtigen Maßnahmen zu veranlassen.

«Nun mach schon!», keuchte Laura hinter ihm.

Was soll’s, dachte Justin verzweifelt. Er erfährt es sowieso.

Und kurzerhand klickte er im Adressbuch auf «Papa».