••• 19 : 12 ••• DANA •••

Als Dana erwachte, war ihre erste Empfindung Kälte, gefolgt vom unangenehmen Druck einer vollen Blase. Verwirrt öffnete sie die Augen, stützte sich auf einen Ellbogen und brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, wo sie war. Justin lag schlafend neben ihr. Auf der anderen Seite des Mattenlagers bildeten Finns und Lauras Körper ein regloses Knäuel.

Beklommen erinnerte sich Dana, dass sie sich sechzig Meter unter dem Erdboden befand. Solange die Stimmen und das Gelächter der anderen den Raum erfüllt hatten, hatte sie das bedrückende Gefühl beherrschen können, aber jetzt, in der Stille, kroch die Angst in ihr empor. Schon immer hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet, und der rötliche Schein der Karbidlampe, der gespenstisch auf den kahlen Wänden der Kammer lag, trug kaum zu ihrer Beruhigung bei. Schatten brüteten in den Ecken, und der Zugang zu dem toten Gang im Hintergrund gähnte wie ein aufgesperrter Rachen.

Dana schauderte. Wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie sich ausgemalt, dass aus dieser schwarzen Öffnung Hände nach ihr griffen oder Geräusche hervordrangen, als krieche etwas Großes, Unförmiges auf sie zu – etwas, dessen gieriger Atem hörbar schnaufte und dessen Krallen leise über den Boden schabten. Es fiel ihr schwer, solche Vorstellungen zu verdrängen und einigermaßen die Nerven zu behalten, wenn nicht jeder Winkel ihrer näheren Umgebung hell erleuchtet war.

Was für eine saublöde Idee, dachte sie, den Blick auf Justin gerichtet, der neben ihr friedlich schlummerte. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, hier herunterzusteigen?

Sie kannte die Vorliebe ihres Freundes für gewagte Unternehmungen. Tatsächlich hatte sie sich nicht zuletzt deshalb in ihn verliebt. Justin war immer der Erste, wenn es darum ging, etwas Heikles auszuprobieren, und oft riss sein Elan sie mit. Ohne ihn hätte sie es nie gewagt, eine Achterbahn zu besteigen, bei Nacht im Baggersee zu schwimmen oder diese berühmte Frankfurter Szenekneipe aufzusuchen, in der Fernsehstars ein und aus gingen. Für ihn war die Welt ein bunter Rummelplatz voller Verlockungen und Abenteuer. Manchmal freilich ging er zu weit – insbesondere, wenn es sich um Drogen handelte oder um das Autofahren ohne Führerschein. Gelegentlich konnte Dana ihn von solchen Aktionen abbringen. Diesmal jedoch hatte er ihr keine Chance gelassen, sondern seine Absicht bis zur letzten Minute verschwiegen. Er hatte nur von einem Picknick im Naturschutzgebiet gesprochen, geheimnisvoll gelächelt – und dann zielsicher das alte Bergwerk angesteuert.

Mama würde ausrasten, wenn sie wüsste, wo ich bin, dachte Dana.

Der Gedanke steigerte ihr Unbehagen. Im Geist hörte sie die besorgte Stimme ihrer Mutter: «Geh abends nicht alleine raus! Halt dich vom Stadtpark und vom Bahnhof fern! Geh nirgendwohin, wo es dunkel ist und komische Leute herumlungern. Du hast keine Ahnung, wie es in der Welt zugeht!»

Gewöhnlich verdrehte Dana bei diesen Predigten die Augen. Inzwischen wusste sie längst mehr von der Welt als ihre Mutter, die von so vielen Ängsten geplagt wurde, dass sie das Haus nur zur Arbeit und zum Einkaufen verließ – stets bewaffnet mit Desinfektionstüchern wegen «gefährlicher Bakterien», Pfefferspray und einer Trillerpfeife zum Abschrecken von Vergewaltigern. Altersgemäße Freiheiten hatte Dana sich nur mit viel Geduld erkämpfen können. Immerhin durfte sie mittlerweile bis zehn Uhr abends fortbleiben und auch einmal «bei einer Freundin» übernachten – eine Ausrede, die sie gewöhnlich vorschob, um die Nacht mit Justin verbringen zu können.

Im Augenblick jedoch, tief unter der Erde in einer schummrig beleuchteten Steinkammer, erschienen Dana die Unheilsprophezeiungen ihrer Mutter gar nicht so abwegig, und sie hätte einiges darum gegeben, sich rasch nach Hause teleportieren zu können.

 

«Justin?»

Sie rüttelte ihn an der Schulter, doch er grunzte nur im Schlaf und warf den Kopf auf die andere Seite. Danas Blick fiel auf seine Armbanduhr.

Mein Gott, dachte sie erschrocken. Haben wir zwei volle Stunden lang hier unten geschlafen?

Offenbar war es keine gute Idee gewesen, Alkohol und Dope zu kombinieren, schon gar nicht in dieser schlecht belüfteten Kammer. Fröstelnd setzte Dana sich auf und bemerkte, dass auch Finn sich regte. Er blinzelte, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und blickte benommen zu ihr herüber.

«Dana! Was ist los? Sind wir eingeschlafen?»

«Scheint so», nickte Dana.

«Wie spät ist es?»

«Viertel nach acht.»

Erschrocken setzte Finn sich auf.

«Im Ernst?»

«Wir sollten die anderen wecken, sonst erfrieren wir hier unten noch.»

«Laura?» Finn wandte sich seiner Freundin zu, doch sie stöhnte nur, ohne die Augen zu öffnen, und schob fahrig seine Hand beiseite.

«Auweia.» Resigniert ließ Finn von ihr ab und rieb sich fröstelnd die Arme. «Das Dope war wohl doch zu viel.»

Dana nickte besorgt.

«Was würde ich für einen Heizlüfter geben!», seufzte Finn, der sich in dem kahlen Raum umsah. «Und für ein Klo.»

Dana lachte verlegen. «Du auch?»

«Tja … entweder warten wir, bis die beiden aus ihrem Koma aufwachen, oder wir kraxeln mal schnell die Sechzig-Meter-Leiter hinauf und schlagen uns draußen in die Büsche.»

«Also, so lange warte ich auf keinen Fall!»

«Ich auch nicht.» Suchend sah Finn sich um, wobei sein Blick auf den schmalen Durchgang im hinteren Teil der Kammer fiel. «Hey! Sagte Justin nicht, dass das ein toter Gang ist?»

«Du meinst …?»

Finn nickte. «Geh du ruhig zuerst. Nimm am besten die Lampe mit.»

Dana erschrak. Nur zu gern hätte sie ihre Blase erleichtert, aber der Gedanke, ganz allein in den finsteren Gang zu gehen und womöglich außer Rufweite zu kommen, erschreckte sie. Am liebsten hätte sie Finn gebeten, sie zu begleiten, doch es war ihr peinlich.

«Nein, geh du zuerst!», gab sie zurück. «Ich … hab’s nicht so eilig.»

Finn zuckte die Achseln, erhob sich und griff nach der Lampe. Beklommen sah Dana zu, wie er in dem dunklen Gang verschwand, wobei er die Lampe im Eingang abstellte, sodass noch Licht in die Kammer herüberdrang.

«Puh, das riecht aber komisch!», hörte sie ihn rufen. «Der Boden ist ganz rutschig … da tropft überall Wasser aus den Wänden.» Er tappte einige Schritte weiter. «Sieh mal an: Hier ist ein Loch im Boden. Würde mich nicht wundern, wenn das tatsächlich mal ein Klo war … Riechen tut’s jedenfalls danach.»

Da gehe ich nicht hinein, beschloss Dana schaudernd. Nie im Leben!

«Justin?» Abermals rüttelte sie ihren Freund, bis er endlich halbwegs zu sich kam und sie verwirrt anblinzelte.

«Was’n los?», lallte er mit schwerer Stimme.

Dana kam nicht zu einer Antwort, denn im selben Augenblick ertönte ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem erschrockenen Keuchen. Das Geräusch hallte aus dem dunklen Gang herüber, in dem Finn verschwunden war.

«Hilfe!»

Das war Finns Stimme: Er schrie aus Leibeskräften, gellend vor Angst.

«Hilfe!»

Dana fühlte, wie ihr Puls sich binnen eines Augenblicks auf das Doppelte beschleunigte.

Oh nein … oh nein 

«Justin!» Sie packte seinen Arm. «Um Gottes willen, wach auf!»

«Wer schreit denn da?», raunte Justin benommen, machte jedoch keine Anstalten, sich aufzusetzen. Dana begriff, dass von ihm keine Hilfe zu erwarten war – jedenfalls nicht innerhalb der nächsten zehn Sekunden, und es ging um jeden Augenblick. Notgedrungen sprang sie auf, rannte quer durch die Kammer in den Stolleneingang und griff nach der Lampe.

«Finn! Finn, wo bist du?»

Ihre Beine zitterten, doch sie ignorierte es und drang weiter vor, während das rötliche Licht über Boden und Wände tanzte.

«Dana! Hier!», brüllte Finn, dessen Stimme nicht mehr weit entfernt klang.

Der Korridor war nur wenige Meter lang und endete abrupt. Geröll häufte sich in den Ecken, und die umgebenden Wände waren rissig und von Spalten durchzogen, aus denen Wasser tropfte. Der Boden glänzte feucht und war so rutschig, dass Dana beinahe ins Stolpern geriet.

«Hol mich hier raus!», schrie Finn, nun aus nächster Nähe.

Erst jetzt bemerkte Dana die Öffnung im Boden, ein kreisrundes Loch von knapp einem Meter Durchmesser. Es führte zu einem steilen Schacht, der sich mit einer Neigung von rund sechzig Grad wie eine steinerne Rutschbahn in die Tiefe wand. Finn hing unterhalb der Öffnung, beide Hände um deren Rand gekrallt. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, und in seinem aufwärts gewandten Gesicht stand nackte Todesangst. Unter ihm verlor sich der Schacht in der Dunkelheit, vielleicht zehn Meter tief, vielleicht auch zwanzig oder mehr.

«Ich kann mich nicht mehr festhalten!», schrie er, während er panisch mit den Füßen austrat, ohne an den glatten Wänden Halt zu finden.

«Oh mein Gott …» Dana ließ die Lampe fallen, ging in die Knie und packte seine Handgelenke. Doch ihre Kraft reichte bei weitem nicht, um ihn hinaufzuziehen.

«Justin!», schrie sie über die Schulter nach hinten. «Laura!»

Ihre Stimme überschlug sich. Einige entsetzlich lange Sekunden vergingen, bis in der Kammer am Ende des Gangs Bewegung zu hören war.

«Dana?», drang Justins Stimme herüber.

«Schnell!», brüllte sie, die Silbe zu einem langgezogenen Schrei dehnend.

Im selben Moment spürte sie einen übermächtigen Ruck. Offenbar hatte Finn den Rand der Schachtöffnung losgelassen, um mit letzter Kraft nach ihrem Arm zu greifen – und was dann geschah, ging so schnell, dass sie es kaum begriff. Danas Körper rutschte über den Boden, verdrehte sich. Eine steinerne Kante schrammte über ihre Schulter. Finn schrie, und sie mit ihm. Ihr rechter Unterarm, von seiner Hand wie von einem Schraubstock umspannt, zog sie mit übermächtiger Gewalt hinab. Dana stürzte über den Rand der Schachtöffnung und glitt in die Tiefe. Ihre Fingernägel schrammten über nackten Fels, doch das glatte, von einem Film aus Salzwasser überzogene Gestein bot keinerlei Halt.

Für einen kurzen Moment flammte ein Bild in ihrem Geist auf, und sie sah sich selber, zehn Jahre alt, wie sie zum ersten Mal die große Rutsche im Freibad hinabgeglitten war – dasselbe Gefühl: der plötzliche Verlust der Kontrolle, das Ausgeliefertsein, die bange Erwartung des Aufpralls. Diesmal jedoch kam ihr kein grünschimmerndes Wasser entgegen, unter dessen klarer Fläche die Kacheln am Beckenboden schimmerten. Stattdessen umfing sie tiefe Finsternis, erfüllt von einem betäubenden Geruch nach Fäulnis und Verwesung. Es war wie der Sturz durch ein Abflussrohr in irgendeine finstere Kloake. Vielleicht war sie mit eisigem Wasser gefüllt, vielleicht mit Schlamm – vielleicht endete die Talfahrt aber auch auf solidem Steinboden.

Es dauerte nur wenige Sekunden, doch in dieser winzigen Zeitspanne formte sich ein glasklarer Gedanke in Danas Geist.

Ich werde jetzt sterben, dachte sie.

Die Gewissheit ließ ihren Körper erschlaffen. Es war nicht mehr notwendig, dass sie ihre Muskeln anspannte, dass sie atmete, dass sie gegen die Kräfte ankämpfte, die sie in die Tiefe zogen.

Bitte lass es schnell gehen.