Justin spürte kaum, wie man ihn unter den Armen packte und in die Höhe zog. Widerwillig wie jemand, der aus tiefem Schlaf geweckt wird, bewegte er seine Füße, wobei er bemerkte, dass die Koordination seiner Muskeln ihm Schwierigkeiten bereitete. Immerhin gelang es ihm, sich auf den Beinen zu halten und an Danas Seite vorwärtszustolpern, die ihn am Arm führte.
«Wir haben es bald geschafft», redete sie beständig auf ihn ein. «Du musst nur noch ein wenig durchhalten.»
Vage wunderte er sich, wie ungewohnt diese Worte für ihn klangen. Normalerweise war er es, der Dana Mut zusprach, und dieser Rollentausch berührte ihn selbst in seinem benebelten Zustand eigenartig.
Allerdings verstand er nur phasenweise, was Dana sagte. Ein Teil seines Geistes wusste, was vor sich ging: dass sie sich immer noch in der Höhle befanden und nach dem Ausgang suchten. Jedes Mal, wenn es eine Felsstufe oder eine andere Unebenheit zu überqueren galt, war er für Sekunden etwas wacher und schaffte es sogar, seine Füße mit Bedacht zu setzen. Ging es jedoch längere Zeit ohne Hindernisse voran, begann sein eigener monotoner Schrittrhythmus ihn einzuschläfern, und Dana musste ihn an der Schulter rütteln, weil er mitten im Gehen einzuknicken drohte.
Justin hatte Tias Worte verstanden, auch wenn es ihm schwerfiel, sie mit einer sinnvollen Bedeutung anzureichern. Es war von einem Gift die Rede gewesen, einem lähmenden Gift. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er dagegen angekämpft. Erfahrungsgemäß war er in der Lage, sich selbst nach reichlichem Genuss von Alkohol oder Marihuana noch so weit zu disziplinieren, dass er laufen, Fahrrad fahren, Handball spielen und zur Not sogar seine Schulaufgaben machen konnte. Er gehörte zu jenen Menschen, denen man selbst einen Vollrausch kaum anmerkte, die niemals schwankten oder lallten und stets wussten, was sie taten – «resistent gegen psychotrope Substanzen», wie sein Biologielehrer es formuliert hätte, oder schlicht «hart im Nehmen», um mit Finns Worten zu sprechen.
Der gegenwärtige Zustand jedoch unterschied sich von jedem Drogenrausch, den Justin bisher erlebt hatte. Während das Grasrauchen zumeist nur eine angenehme Entspannung erzeugte, fühlte er sich jetzt, als sei seine Wirbelsäule aus weichem Gummi und sein Kopf mit Watte gefüllt. Tanzende Lichtflecke erschienen vor seinen Augen, verdichteten sich zu schemenhaften Gestalten und irrlichterten hierhin und dorthin wie Gespenster. Es fühlte sich an wie ein Traum, dessen Irrealität er erkannte und der ihn dennoch unwiderstehlich in eine fremde Welt hinüberzog. Am liebsten wäre er niedergesunken, wo er gerade stand, um augenblicklich in tiefen Schlaf zu fallen, zusammengerollt wie ein Säugling.
«Aufstehen, Justin! Bleiben Sie bei uns!», schnitt eine mitleidlose Stimme durch die zähe Masse, die sich über die Oberfläche seines Bewusstseins gelegt hatte. Es war nicht Danas Stimme, sie klang dunkler und kühler. Ihm wurde bewusst, dass er auf die Knie gesunken war und dass jemand ihm mit der flachen Hand die Wange klopfte. «Es ist dieser verdammte Pilz! Er will, dass Sie sich hinlegen und einschlafen, damit er Sie in aller Ruhe überwuchern kann. Sie sind doch sonst ein Kämpfertyp – wehren Sie sich dagegen!»
«Ich bin so müde», raunte er. «Können wir nicht … eine Pause machen …?»
«Auf gar keinen Fall!», beschied die Stimme. «Sie müssen in Bewegung bleiben. Aufstehen, Justin! – Dana, legen Sie seinen Arm über Ihre Schulter und sehen Sie zu, dass er vorwärts kommt!»
Gehorsam mühte Justin sich auf die Beine und stolperte weiter. Seine Füße bewegten sich mechanisch, während sein Kopf schlaff herabhing, als könnten seine Halswirbel das Gewicht des Schädels nicht mehr tragen. Sein Bewusstsein trübte sich ein, driftete davon, füllte sich mit Bildern.
Unversehens stellte er sich vor, er läge neben Dana in seinem Bett, auf einer weichen Matratze, unter einer dicken Daunendecke bei gelöschtem Licht. Das Einzige, was störte, waren die Bewegungen seiner Füße, die Stimmen, die Schritte – doch sie entfernten sich schon wieder, wurden leiser wie Geräusche aus einem Radio, dessen Lautstärke heruntergeregelt wurde.
Dana …
Er dachte an jenen Morgen kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag, als Dana zum ersten Mal die Nacht bei ihm verbracht hatte. Sie hatten in der Tür gestanden und sich mit vielen letzten und allerletzten Küssen voneinander verabschiedet, während seine Mutter vorgefahren war, um ihn wieder einmal für ein paar Tage zu sich zu holen. Als Justin zu ihr ins Auto gestiegen war, hatte sie Dana mit gerunzelten Brauen nachgeblickt.
«Was willst du denn mit der?», hatte sie gefragt. «Das ist doch wohl nicht deine neueste Freundin, oder? Ganz schön breite Hüften, wenn du mich fragst.»
Justin hatte gespürt, wie ihm das Blut in den Kopf gestiegen war. Normalerweise hätte er jedem, der abfällige Bemerkungen über Dana machte, einen saftigen Kinnhaken verpasst. Seine Freunde und Mitschüler hatten dies bereits nach kürzester Zeit begriffen und verkniffen sich jeden Kommentar. Zweifellos tuschelten sie hinter seinem Rücken, doch Justin kümmerte es nicht. Er war so heftig verliebt wie noch nie, und was Danas runde Hüften betraf, so fand er sie unwiderstehlich anziehend, vor allem in hautengen Jeans. Ein wenig staunte er über sich selber, weil sie so gar nicht dem Typ Frau entsprach, für den er sich früher interessiert hatte – doch mit Dana war eben alles anders. Auch die Nacht war etwas Besonderes gewesen und mit keiner früheren Erfahrung vergleichbar. Justin stand, nicht ganz zu Unrecht, im Ruf eines Frauenhelden und hatte sein Ziel stets in kürzester Zeit erreicht. Diesmal jedoch war es ihm nicht auf Eile angekommen. Danas offenkundige Verletzlichkeit hatte ungewohnt tiefe Regungen in ihm geweckt, Gefühle von zurückhaltender Zärtlichkeit und genießerischer Geduld. Selbst als sie – gegen vier Uhr morgens – endlich im Bett gelandet waren, hatte er sie anfangs nur im Arm gehalten, in ihre wundervollen grünen Augen geblickt und vor lauter Ergriffenheit kaum gewagt, sich zu bewegen.
Vor dem Hintergrund dieses Erlebnisses traf ihn die sarkastische Bemerkung seiner Mutter wie ein Schwall eisigen Wassers. Die flammende Verteidigungsrede, die ihm bereits auf der Zunge lag, schluckte er hinunter. Indem er schwieg, stand er treuer zu Dana, als wenn er sich auf Diskussionen eingelassen hätte.
Doch der Ärger schwelte in ihm. Er brauchte keine Ratschläge, schon gar nicht von einer Frau, die mit jemandem wie Onkel Stronzo zusammenlebte. Stronzo, das war der Name, den sein Vater dem neuen Freund seiner Mutter gegeben hatte. Soweit Justin begriffen hatte, war das italienisch und bedeutete schlicht «Arschloch». Eigentlich hieß der Mann Thomas Strunz. «Onkel Tom» wollte er von Justin genannt werden – doch Justin hütete sich, ihm diesen Gefallen zu tun. Er mochte diesen Kerl nicht, der eine luxuriöse Villa bewohnte, seine Mutter in teure Restaurants ausführte und seinen Vater unglücklich gemacht hatte. Seine Besuche bei den beiden sah er als lästige Pflichtübung und war meistens froh, wenn sie vorbei waren.
Am folgenden Abend, als die beiden in die Oper gingen, gönnte sich Justin eine kleine Retourkutsche – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Architekt Strunz wurde von Geschäftsfreunden chauffiert und hatte seinen BMW zu Hause gelassen. Sobald Justin allein war, griff er sich den Autoschlüssel, schlich in die Garage und setzte sich in den Wagen.
Justin war schon mehrmals heimlich mit dem Fiesta seines Vaters gefahren, freilich nur in der Dreißig-Zone der heimischen Vorstadt. Nun aber saß er am Steuer eines Oberklassewagens mit Dreihundert-PS-Dieselmotor. Dieses Auto auf eine Spritztour zu entführen bereitete ihm besondere Genugtuung, denn es war der ganze Stolz von Onkel Stronzo – dem Mann, der Justins Familie entzweit und ihm seine Mutter entfremdet hatte.
Tatsächlich bekam er den Wagen in Gang, bewältigte rasch den Umgang mit dem Automatikgetriebe und kurvte in mäßigem Tempo quer durch die Wohnsiedlung. Mit klopfendem Herzen drehte er drei Runden, bei der vierten jedoch ermutigte ihn die spätabendlich leergefegte Straße, das Gaspedal durchzutreten und die Kraft des Motors zu spüren. Der Wagen schoss geradeaus, als plötzlich im Lichtkegel der Scheinwerfer eine Frau auftauchte, die mit einem kleinen Mädchen an der Hand die Straße überquerte. Justin gelang es in letzter Sekunde, in einem scharfen Bogen auszuweichen, wobei die Räder über den Bordstein schrammten. Die Frau war stocksteif stehengeblieben und hatte das Kind an sich gerissen, ihr Gesicht eine Maske des Entsetzens. Sie starrte Justin nach, während er Gas gab und fluchtartig um die nächste Ecke bog.
Als er Onkel Stronzos Haus erreichte, den Wagen in die Auffahrt bugsierte und ausstieg, zitterten Justin die Knie. Dabei dachte er gar nicht daran, was geschehen würde, wenn die Frau sich das Kennzeichen gemerkt hatte. Nur eines konnte er denken: Mein Gott, ich hätte fast diese Frau überfahren, und das kleine Mädchen dazu … sie hätten tot sein können.
Schrecken und Reue überkamen ihn, und er kanalisierte beides, indem er sich besondere Mühe gab, alle Spuren seines Ausflugs zu verwischen. Als seine Mutter und ihr Freund zurückkehrten, blieb er in seinem Zimmer und ließ hörbar den Fernseher laufen. Bis zum folgenden Morgen schlief er kaum und verblüffte die beiden damit, dass er den Frühstückstisch deckte und betont freundlich mit Onkel Tom umging, als könne er damit die Geschehnisse des Vorabends aus seinem Gewissen löschen.
Seit jenem Tag war er nie wieder heimlich Auto gefahren – und außerdem hatte er sich geschworen, keine unvernünftigen Risiken mehr einzugehen, jedenfalls nicht, wenn Gefahr für andere bestand. Sein guter Vorsatz hatte eine Weile gehalten, allerdings nicht sehr lange. Zwar hatte er kein Steuerrad mehr angerührt, aber als die Schulabschlussfeier näher gerückt war, hatte der Gedanke von der Abenteuerparty im Bergwerk Gestalt angenommen und war genauso unwiderstehlich geworden wie das Schwarzfahren im Zug oder das nächtliche Einbrechen ins Schwimmbad.
Dana … ich habe sie in tödliche Gefahr gebracht.
Der Gedanke brachte Justin erneut in die Gegenwart zurück. Seine Erinnerungen zerflossen in der Dunkelheit, die kein Hintergrund eines Traums, sondern die tatsächliche Abwesenheit von Licht im Innern einer Höhle war. Dana war an seiner Seite.
«Bist du noch bei mir?», raunte sie ihm zu. «Justin, hörst du mich?»
Er antwortete mit einem schwachen Druck seiner Hand und bemühte sich, die Kontrolle über seine Zunge wiederzugewinnen, die sich wie ein unförmiger Kloß in seinem Mund anfühlte.
«Ja», brachte er mühsam hervor.