Zum elften Mal tauchte Tia aus dem Syphon auf, kroch an Land und hatte eben noch genug Kraft, um Leon hinter sich herzuziehen.
Dann rollte sie sich auf den Rücken und streckte alle Viere von sich. Sie fühlte sich so erschöpft wie noch nie.
Ein Gutes hat die Sache, dachte sie. Falls wir noch schädliche Partikel auf der Haut hatten, sind sie jetzt gründlich abgewaschen.
«Haben Sie ihn?», rief Dana, die sofort an ihre Seite eilte.
«Ich bin hier», brachte Leon zwischen zwei krampfhaften Atemzügen hervor.
«Oh Gott sei Dank … Gott sei Dank …» Es klang, als kämpfte Dana mit Tränen der Erleichterung. «Wie geht es Ihnen?»
«Ganz okay», keuchte Leon.
«Nur kalt», flüsterte Tia und kreuzte zitternd die Arme vor der Brust.
«Soll ich Sie wärmen?», bot Dana an.
«Lieber nicht.» Tia wusste, dass die beiden jungen Leute sich inzwischen wieder angezogen hatten. «Ihre Kleidung muss um jeden Preis trocken bleiben. Und auch wir dürfen unsere nicht anziehen, solange wir pitschnass sind.»
Ihr fiel auf, dass sie keinen Laut von Justin hörte, der irgendwo in der Nähe am Boden kauern musste. Schon vor ihrem letzten Tauchgang war er schweigsam gewesen, und Leons Rettung schien er kaum zur Kenntnis genommen zu haben.
«Geht es Ihnen beiden gut?»
Dana antwortete nicht sofort. «Nun sagen Sie schon!»
«Na ja», druckste Dana. «Justin …»
«Was ist mit ihm?»
«Er ist … so seltsam. Er reagiert kaum, wenn ich mit ihm rede. Ich musste ihm helfen, sich anzuziehen, weil er sich irgendwie nicht richtig bewegen kann.»
Tia vergaß augenblicklich die Kälte, setzte sich auf, tastete nach dem jungen Mann und bekam seine Knie zu fassen. Er saß zusammengekauert an der Rückwand der Höhle, schwer atmend und mit gesenktem Kopf.
«Was ist los mit Ihnen, Justin?»
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete, als würden ihre Worte nur langsam zu ihm durchdringen. Seine Stimme klang undeutlich.
«Nichts … Ich bin nur … müde.»
Tia legte eine Hand auf seine Wange und horchte auf seinen Atem.
«Was ist mit ihm?», fragte Leon, der an ihre Seite gekrochen war.
«Ich bin mir nicht sicher.» Tia zählte Justins Herzschläge, zwei Fingerkuppen auf seine Halsschlagader gelegt. «Sehr langsamer Puls, unter sechzig.»
«Er friert», meinte Dana mitfühlend.
Tia schüttelte den Kopf. «Dann müsste der Puls erhöht sein. Justin, haben Sie sich irgendwo verletzt? Denken Sie nach!»
Wieder brauchte Justin einige Zeit, um artikuliert zu antworten. «Nur dieser Kratzer … im Nacken.»
Plötzlich erinnerte sich Tia: Bevor sie den Raum mit dem Syphon erreicht hatten, waren sie durch einen engen Tunnel gekrochen, und Justin hatte kurz aufgekeucht, als hätte er sich an einem Wandvorsprung gestoßen. Sie betastete seinen Nacken. Tatsächlich war der Stoff seines Pullovers zwischen Schulterblatt und Halswirbelsäule aufgerissen. Auch in dem Hemd, das er darunter trug, klaffte ein Riss. Tia schob eine Hand hindurch, befühlte die Haut – und erschrak. Die Wunde war nur oberflächlich, nicht mehr als eine Hautabschürfung, aber beulenförmig geschwollen und von einem Netz spinnwebartiger Fäden bedeckt.
«Der Pilz», erkannte sie. «Die Wunde ist infiziert.»
«Aber wie ist das möglich?», fragte Leon. «Du sagtest doch, es könnte nichts passieren, wenn wir in Bewegung bleiben.»
«Justin ist über irgendeine Felszacke geschrammt, als wir vorhin durch den Tunnel krochen. Dabei sind wahrscheinlich ein paar Hyphen abgerissen und an der Wunde kleben geblieben. So hatten sie Zeit zum Einwachsen.»
«Oh nein», flüsterte Dana beklommen. «Aber warum ist er so abwesend? Mich hat dieser Pilz doch auch angegriffen, aber mir geht es gut.»
«Bei Ihnen scheint die Infektion zurückzugehen», vermutete Tia. «Aber als ich Sie fand, Dana, war auch Ihr Puls verlangsamt, und Sie hatten Mühe zu sprechen. Bei Finn war es genauso. Ich nehme an, dass der Pilz irgendein Neurotoxin ausscheidet, das einschläfernd wirkt.»
«Aber das geht vorbei – nicht wahr?» Danas Stimme klang flehentlich. «Bei mir war es doch auch so.»
«Vielleicht spielt es eine Rolle, wo der Infektionsherd sitzt. Bei Ihnen war es nur das Schienbein, aber bei Justin ist die infizierte Stelle nahe dem Rückgrat. Das könnte bedeuten, dass das Gift einen schnelleren Weg ins zentrale Nervensystem findet.»
«Können wir nichts dagegen tun?»
Tia schüttelte den Kopf. «Nur eines: So schnell wie möglich den Ausgang finden.» Sie klopfte Justin mit der flachen Hand die Wange. «Justin? Kommen Sie zu sich! Konzentrieren Sie sich auf meine Stimme! Verstehen Sie, was ich sage?»
Justin nickte fahrig.
«Dana, reden Sie mit ihm!», befahl Tia. «Das hält ihn bei Bewusstsein. Geben Sie mir und Leon zehn Minuten, damit wir ausruhen und uns anziehen können. Dann gehen wir weiter.»
Seufzend ließ sie sich wieder auf den Rücken sinken.
Probleme ohne Ende, dachte sie resigniert. Trotzdem musste sie ein wenig verschnaufen. Sie brauchte ihre Kräfte – umso mehr, da sie nun die Einzige war, die nicht verletzt war oder mit einer Infektion kämpfte.