••• 00 : 15 ••• TIA •••

Der unterirdische Gang, der von der Nebenhöhle abzweigte, führte in gerader Linie voran und war breit genug, um aufrecht gehend durchquert zu werden. Dennoch kämpfte sich die kleine Gruppe nur zentimeterweise vorwärts. Tia hatte allen eingeschärft, sich extrem langsam und vorsichtig zu bewegen, denn sie wusste, wie leicht sehende Menschen in vollkommener Dunkelheit ins Stolpern kamen, über Hindernisse stürzten oder sich die Köpfe anschlugen. Das hier war etwas anderes, als sich durch einen dunklen Flur zu tasten, um den Lichtschalter zu finden: Eine Ganghöhle war nicht sauber geschlagen wie ein Bergwerksstollen, sondern voller Verwerfungen, Vorsprünge und Engpässe. Zudem war der Boden keineswegs eben, sondern neigte sich ständig in unterschiedlichen Winkeln, sodass aufrechtes Gehen einen erheblichen Balanceakt erforderte. Trotzdem hatte Tia beschlossen, dass sie nicht auf allen Vieren kriechen würden, solange es sich vermeiden ließ. Zum einen musste Dana auf diese Weise ihren verletzten Arm nicht belasten, zum anderen blieb es ihnen erspart, ständig die Pilzranken zu berühren.

Mittlerweile hatte Tia ihre erfolglosen Versuche aufgegeben, die Funkverbindung wiederherzustellen. Stattdessen konzentrierte sie sich gänzlich auf die Erkundung des jeweiligen Streckenabschnitts, tastete die Wände ab und benutzte wie immer die Echomethode, indem sie halblaut mit der Zunge schnalzte. Auf dem Fuß folgte Justin, der sich weisungsgemäß mit einer Hand an ihrem Gürtel festhielt und mit der anderen Dana hinter sich herzog. Leon bildete die Nachhut. Gesprochen wurde kaum. Nur gelegentlich warnte Tia, wenn der Boden sich neigte oder Felsvorsprünge aus der Decke ragten.

Gegenüber den anderen hatte sie entschlossener argumentiert, als sie es tatsächlich war. In der Tat schien es wahrscheinlich, dass die Ranken des Pilzes zu einem Ausgang aus dem Höhlensystem führten, und die Luftströme ließen hoffen, dass dieser Ausgang nicht sehr weit entfernt lag. Unter der Erde jedoch, das wusste Tia nur zu gut, galt für Entfernungen ein anderes Maß als an der Oberfläche. Hundert Meter Luftlinie, die man sonst in wenigen Minuten überwand, konnten einen stundenlangen Hindernislauf bedeuten, einen ganzen Parcours aus Engpässen, Spalten, Irrwegen und anderen Gefahren. Außerdem befanden sie sich immer noch tief unter der Oberfläche, und es war möglich, dass sie senkrechte Schächte überwinden mussten. Zwar besaßen sie immer noch das Kletterseil, doch für Tias Begleiter, die über keine entsprechende Erfahrung verfügten und zudem nichts sehen konnten, war Klettern praktisch unmöglich.

Und unbegrenzt Zeit haben wir auch nicht, dachte sie.

Zehn Grad Umgebungstemperatur waren eine heikle Sache, vor allem, wenn man erschöpft und die Luft sehr feucht war. Wenn sie es nicht innerhalb von sechs bis acht Stunden zur Oberfläche schafften, konnten sie erfrieren. Dana würde die Erste sein.

Tia hörte den zittrigen Atem des Mädchens hinter sich. Ihre durchnässten Sachen hatte sie in der Höhle zurückgelassen, doch Tias Overall aus warmem Fleece war eigentlich als Überbekleidung gedacht, während Dana ihn notgedrungen auf der nackten Haut trug. Die Decke, die sich das Mädchen über die Schultern geworfen hatte, half auch nur bedingt. Zudem war es nicht möglich gewesen, ihre nassen Schuhe zu ersetzen – und die Schuhe brauchte sie, schon wegen der Pilzranken am Boden, ganz zu schweigen von Geröll oder scharfen Felszacken. Immerhin war ihr Kopf geschützt, denn Tia hatte darauf bestanden, dass das Mädchen ihren Helm trug, während Leon den seinen an Justin weitergegeben hatte.

Eine halbe Stunde ging dahin. Der Gang führte immer noch stetig geradeaus, wobei nur hier und dort ein seitlicher Spalt abzweigte. Tia vergewisserte sich, dass sie immer noch auf der Fährte des Pilzes war, indem sie alle paar Meter in die Hocke ging, um die Ranken am Boden zu befühlen. Auch an den Wänden schlängelten die Faserbündel sich dahin, jedoch in geringerer Zahl und kaum verzweigt, sodass Tia das Gestein zwischen ihnen tasten konnte. Die Wuchsrichtung des Myzels war eindeutig, und das ermutigte sie.

Doch ihr Glück hielt nicht lange an. Nach einiger Zeit begann der Boden sich abzusenken, statt wie erhofft anzusteigen, und der Korridor knickte nach links. Tia ortete eine niedrige, sternförmige Kammer mit zahlreichen Abzweigungen in verschiedene Richtungen. Einige waren zu eng, um durchquert zu werden, andere führten so steil aufwärts, dass es unmöglich war, sie zu erklettern. Der Boden neigte sich in einem Winkel von nahezu vierzig Grad, sodass aufrechtes Gehen nicht in Frage kam, zumal die zerklüftete Decke zahlreiche Vorsprünge hatte, an denen man sich den Schädel einrennen konnte.

«Ab hier müssen wir kriechen», kündigte sie an.

«Aber dann müssen wir mit den Händen diesen Pilz berühren!», flüsterte Dana entsetzt.

«Das tue ich schon die ganze Zeit! Er kann Ihnen nichts anhaben, Dana, solange Sie in Bewegung bleiben. Geben Sie mir Ihre Hand, damit wir uns nicht verlieren.»

Sie fühlte Danas Hand ziellos im Bereich ihrer Hüfte tasten, ergriff sie – und erschrak. Die Finger des Mädchens waren eiskalt.

Wir müssen eine Pause machen, um sie aufzuwärmen, beschloss Tia. Bei nächster Gelegenheit.

Vorläufig aber war nicht daran zu denken, bevor sie den Engpass überwunden hatten. Also kroch sie vorwärts, zog Dana hinter sich her und tastete mit der freien Hand den Boden ab. Selbst die Pilzranken schienen an dieser kritischen Stelle den richtigen Weg nicht gleich erkannt zu haben: Sie verknäulten sich zu Netzen, strebten sternförmig in verschiedene Richtungen und verzweigten sich wie Fühler, die die Umgebung erkundeten. Erst nach mehreren Minuten war sich Tia sicher, dass der Großteil der Fasern auf eine Öffnung im linken Teil des Hohlraums zustrebte. Es war nicht mehr als ein Tunnel, kaum einen Meter breit und ebenso hoch.

«Hier hinein! Vorsicht, es ist eng da drinnen. Dana, bleiben Sie dicht bei mir!»

Sie krochen hinein, einer hinter dem anderen. Tia hörte die Geräusche hinter sich, das Scharren von Kleidung auf Stein, das Keuchen und Stöhnen, eigentümlich verstärkt in der engen Röhre. Inbrünstig hoffte sie, dass niemand einen Anfall von Panik erlitt, wie es in derartigen Situationen nicht selten vorkam. Klaustrophobie steckte in jedem Menschen, es kam lediglich auf den Grad der Beengung an. Manche bekamen bereits Schweißausbrüche, wenn sie einen Fahrstuhl benutzen sollten, bei anderen wurde die Schwelle erst überschritten, wenn man sie in den Wolframzylinder eines Computertomographen schob. Manchmal schlugen die Betroffenen wild um sich – und hier, in diesem engen Tunnel, würde ein derartiger Anfall leicht zu Verletzungen führen.

Angespannt lauschte Tia auf Danas Atem, der in ein krampfhaftes Hecheln übergegangen war.

Hyperventilation, dachte sie besorgt. Erste Vorstufe einer Panikattacke.

«Dana, Sie atmen zu schnell! Hier ist genügend Luft, und sie ist kühl und frisch. Ihre Lunge kriegt reichlich Sauerstoff. Alles wird gut! Hören Sie, was ich sage? Alles wird gut. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem: Und ein – und aus», gab Tia langsam das Tempo vor. «Und ein – und aus. Folgen Sie dem Rhythmus: Ein – und aus. Gut so! Es kann nicht mehr weit sein. Bestimmt wird der Tunnel gleich breiter.»

Sie atmete auf, als der Zufall ihre Behauptung Wahrheit werden ließ. Tatsächlich weitete sich der Gang, während er zugleich eine scharfe Biegung nach rechts machte.

«Okay, geschafft. Wir können uns wieder aufrichten. Tasten Sie sich Hände und Gesicht ab! Wenn Pilzfäden auf der Kleidung hängengeblieben sind, wischen Sie sie herunter. Dana, halten Sie still, ich mache das bei Ihnen.»

Sie ahnte, dass das Mädchen mit ihren tauben Fingern kaum noch in der Lage war, sich zu untersuchen. Tia nutzte die Gelegenheit, sie ein wenig zu wärmen, legte ihr die Hände auf Stirn und Wangen und lüftete sogar kurz ihren Helm, um ihr übers Haar zu streichen. Die Haut des Mädchens war kalt wie Porzellan, und ihre Lippen bebten.

«Sie sind sehr tapfer», sagte Tia. «Halten Sie noch ein wenig durch. Wie geht es Ihrer Schulter?»

«Schon okay», flüsterte Dana. «Aber mein Bein … Es brennt so!»

Tia ging in die Knie, um das Hosenbein hochzuschieben und Danas Knöchel zu befühlen. Sie bemühte sich, einen Laut des Erschreckens zu unterdrücken. Die vom Pilz befallene Hautpartie war noch immer geschwollen. Außerdem hatten die übriggebliebenen Fäden sich zu einem festen Belag verfilzt und auf die Größe eines Handtellers ausgebreitet.

Er wächst, erkannte Tia. Er versucht, ein neues Myzel zu bilden … offenbar sagt der Nährboden ihm zu.

«Stillhalten!» Sie zog ihr Messer hervor und begann, den Belag vorsichtig mit der flachen Klinge abzuschaben.

«Was tun Sie da?», flüsterte Dana.

«Ein paar der Fäden haben sich ausgebreitet», erklärte Tia.

«Die wachsen weiter?», fragte Justin ungläubig. «Wie geht das denn?»

«Klonales Wachstum. Ein Pilz ist zwar ein einzelnes Lebewesen, aber wenn man ihn zerstückelt, kann jeder Teil selbständig weiterleben und zu einem neuen Pilz heranwachsen.»

«Was?», fuhr Dana entsetzt auf. «Soll das heißen, dass auf mir ein Pilz wächst?»

«Halten Sie still!», wiederholte Tia, die noch nicht fertig war und fürchtete, das Mädchen mit der Klinge zu verletzen. «Ihr Immunsystem wird verhindern, dass er sich ausbreitet. Sie sind nur unterkühlt, deshalb ist Ihre Abwehr geschwächt. Wir werden rasten, damit Sie sich aufwärmen können – sobald ich einen geeigneten Platz dafür finde.»

«Ich will gar nicht rasten!», wimmerte Dana, deren Stimme gefährlich schwankte. «Ich will hier raus

«Alles wird gut, Dana.»

«Nichts wird gut!», platzte Dana plötzlich heraus. «Seien Sie ehrlich: Sie wissen doch überhaupt nicht, wo der Ausgang liegt, oder?»

«Noch nicht», korrigierte Tia, schob das Hosenbein wieder herab und richtete sich auf. «Aber es kann nicht mehr weit sein. Vertrauen Sie mir.»

«Vertrauen?», schrie Dana schrill. «Ihnen vertrauen? Sie haben mir die Schulter ausgerenkt! Und Sie haben uns aus der Höhle weggeführt, obwohl Sie den Weg überhaupt nicht kennen! Wir hätten dort bleiben und auf die Rettungsleute warten sollen – auf richtige Rettungsleute, die sehen können und Lampen dabeihaben! Wenn wir hier unten alle sterben, ist das Ihre Schuld!»

Betretenes Schweigen trat ein, während das Echo ihrer Stimme in der Dunkelheit nachzitterte. Tia stand vor ihr, spürte Danas Verzweiflung, roch den kalten Schweiß der Angst. Eine plötzliche Woge des Mitgefühls erfasste sie, und sie schloss das Mädchen fest in die Arme.

«Ich bringe Sie hier heraus, Dana», versprach sie. «Glauben Sie mir.»

Dana wehrte sich nicht, auch wenn ihr Körper sich steif wie eine Puppe anfühlte.

«Wir müssen weiter!», mahnte Leon leise.

Tia nickte, löste sich von dem Mädchen und ergriff ihre Hand. «Vorsicht, es geht scharf rechts um die Ecke.»

Der Gang führte einige Zeit geradeaus. Dann brach er plötzlich ab und mündete in eine Kammer mit geröllübersätem Boden, von der wiederum Spalten in verschiedene Richtungen abzweigten.

Aufwärts! Bitte! Bitte!, flehte Tia, schoss eine kleine Kaskade von Zungenlauten ins Leere – und erhielt endlich die gewünschte Rückmeldung: Eine der Spalten, auf die sich die Pilzranken zielsicher zuschlängelten, führte schräg nach oben. Die Steigung war allerdings zu groß, um aufrecht gehend überwunden zu werden. Sie würden also klettern müssen.

Tia wusste, dass Dana das nicht schaffen würde. Nicht an einem Stück – und vor allem nicht, wenn sie kein Gefühl mehr in den Fingern hatte und sich verletzen konnte, ohne es zu bemerken.

Sie inspizierte die anderen Öffnungen – und atmete auf, als sie endlich fand, wonach sie seit langem Ausschau hielt: Einen abseitigen Raum, der vollständig frei von Pilzhyphen war.

«Hier hinein!», ordnete sie kurzentschlossen an.

Sie zwängte sich durch den hüfthohen Spalt, dessen Ränder glücklicherweise stumpf und glatt waren, erkundete den Hohlraum und stellte zufrieden fest, dass er birnenförmig, nicht zu groß und bis auf die Zugangsöffnung allseitig geschlossen war. Der Boden war leicht abschüssig, aber trocken. Vorsichtig zog sie Dana hinter sich her und assistierte dann den beiden Männern beim Einstieg.

«Was ist das?», fragte Leon. «Ich höre kein Echo mehr.»

«Ein geschlossener Raum», nickte Tia, «knapp zehn Kubikmeter. Wir müssen eine Pause einlegen.»

«Und was ist mit dem Pilz?», fragte Dana beklommen.

«Hier drin ist keine einzige Ranke», versicherte Tia. «Er ist hier nie eingedrungen, weil der Raum nicht auf dem Weg nach draußen liegt und auch keine Nahrungsquelle enthält.»

«Aber jetzt enthält er eine Nahrungsquelle!» Danas Stimme klang schon wieder panisch. «Sie haben gesagt, dass dieser Pilz um mehrere Zentimeter in der Stunde wachsen kann!»

«Und das gibt uns mehr als genug Zeit!», unterbrach Tia resolut. «Ich habe nicht vor, hier zu übernachten. Wir müssen uns nur ein wenig ausruhen und aufwärmen – Sie vor allem, Dana.»