Tia hatte ihre drei Gefährten in der Kammer zurückgelassen, die angrenzende Höhle betreten und einen tunnelartigen Felsspalt auf der linken Seite entdeckt. In diesen zog sie sich einige Meter zurück, bis sie sicher war, außer Hörweite zu sein. Dann lehnte sie sich an den kühlen Fels in ihrem Rücken und atmete tief durch.
Ausgerechnet eine unschuldige Bemerkung Justins hatte die entscheidenden Assoziationskreise in ihrem Kopf geschlossen, auch wenn es ein bisschen gedauert hatte. Die Worte waren einfach hängengeblieben und hatten eine Art fortwährendes Echo in ihrem Geist erzeugt. Nun endlich begriff sie den Grund dafür.
Von Anfang an hatte Tia geahnt, dass die Fässer in der Höhle irgendeine giftige Chemikalie enthielten, und es hatte sie irritiert, dass ihr Geruchssinn nicht darauf ansprach. Die Tatsache, dass keiner ihrer Begleiter Vergiftungserscheinungen zeigte, hatte sie vorerst beruhigt. Nun aber erinnerte sie sich an einen Artikel in einer Fachzeitschrift, den sie erst vor wenigen Monaten gelesen hatte – einen Artikel über Pilze.
Dass ich nicht früher darauf gekommen bin, dachte sie kopfschüttelnd. Was soll ich denn jetzt tun?
Ihre Finger zitterten, als sie das Mikrophon ihres Headsets nahe zum Mund bog.
«Herr Böttcher?»
Atmosphärisches Rauschen erfüllte den Äther, durchsetzt von leisem Knistern und Knacken, seelenlos, steril.
«Kann mich irgendjemand hören?»
Sie wartete, wiederholte die Durchsage, wartete erneut. Eigentlich war es nicht erstaunlich: Zwischen ihr und den Menschen draußen lagen mindestens sechzig Meter solides Gestein. Dennoch war es nicht ausgeschlossen, dass man sie hörte. Die Art und Weise, wie Langwellen sich unter Tage ausbreiteten, war tendenziell unberechenbar. Außerdem musste sie sprechen – es aussprechen, um sich davon zu befreien.
«Falls mich jemand hört: Wir sind am Leben und weitgehend unverletzt, ich selbst, Leon Berner, Justin Bringshaus und Dana Novak. Wir schlagen uns quer durch ein bislang unentdecktes Höhlensystem nach Nordwesten. Ich hoffe, Sie finden den Ausgang und kommen uns entgegen. Falls Sie das tun, treffen Sie bitte medizinische Vorkehrungen besonderer Art, und zwar …»
Sie machte eine Pause und sammelte ihre Kräfte. Dann sprach sie aus, was es auszusprechen galt. Sie wiederholte die Durchsage mehrmals, wartete einige Sekunden, lauschte angespannt dem Konzert der Naturkräfte im Äther. Schließlich schaltete sie ab. Es war unwahrscheinlich, dass ihre Botschaft gehört worden war, aber unter glücklichen Umständen konnte sie eine Erhöhung ihrer Überlebenschancen bedeuten.
Und wie mochten die stehen?, fragte sich Tia. Fünfzig zu fünfzig? Dreißig zu siebzig?
Eine plötzliche Hoffnungslosigkeit überfiel sie. Sie hatte es fertiggebracht, die anderen aus der Höhle herauszubringen, auf den Weg zu einem Ausgang, der es ihnen vielleicht erlaubte, nach einigen Stunden das Tageslicht wiederzusehen. Doch für wie lange würden sie es wiedersehen? Für Stunden, Tage, Wochen? Kehrten sie in ihr früheres Leben zurück – oder auf eine Isolierstation, wo ihre letzten Wahrnehmungen grelles Kunstlicht, Infusionsapparate und Ärzte in Schutzanzügen sein würden, die ihre hoffnungsleeren Gesichter hinter Helmvisieren aus bruchsicherem Glas verbargen?
Leise Schritte näherten sich der Abzweigung, in die sie sich zurückgezogen hatte. Tia erschrak. Sie musste ungewöhnlich tief in Gedanken gewesen sein, da sie das Geräusch nicht schon früher wahrgenommen hatte. Unter normalen Umständen war es unmöglich, sich an sie heranzuschleichen.
«Tia?»
Sie brauchte nicht erst Leons Stimme zu hören, denn als er sich um die Ecke tastete, verriet ihn sein Geruch.
«Hier», antwortete sie, als seine Hände sich suchend in dem engen Durchgang bewegten. «Warum schleichst du mir nach?»
«Ich wollte nur …» Er blieb stehen. «Ist jetzt egal. Ich hörte dich funken. Hast du jemanden erreicht?»
«Nein.»
Er schwieg eine Weile, und je länger er es tat, desto größer wurde Tias Unbehagen. Sie wusste nicht, wie viel er gehört hatte. Freiwillig jedenfalls würde sie ihren Verdacht niemandem mitteilen – ihm nicht, und erst recht nicht Justin und Dana. Unter den gegebenen Umständen wäre es der größte denkbare Fehler gewesen, die Angst ihrer Begleiter zur Panik zu steigern. Sie musste die Last ihres Wissens allein tragen.
«Was ist los mit dir?», fragte Leon. «Du atmest so schnell.»
«Es … ist nichts», behauptete Tia steif. «Ich wollte es nur noch einmal mit dem Funkgerät versuchen. Es hätte ja sein können …»
«Ich dachte, du wolltest den Weg erkunden.»
«Das auch.»
«Tia, was ist los?», drang Leon in sie. «Du verheimlichst mir irgendetwas – wahrscheinlich schlechte Neuigkeiten, wie meistens. Was hast du entdeckt? Führt der Weg nicht weiter? Stecken wir in einer Sackgasse?»
«Nein, nein», versicherte Tia rasch. «Keine Sorge.»
«Was ist es dann?»
Nichts, wollte Tia wiederholen, doch das Wort blieb ihr in der Kehle stecken, die plötzlich eng wurde.
«Nun sag schon!», drängte Leon, wobei er unwillkürlich näher trat. «Wozu diese Heimlichtuerei? Glaubst du wieder einmal, du müsstest alles mit dir alleine ausmachen?»
«Leon, bitte!»
«Warum traust du mir nicht zu, die Wahrheit zu verkraften? Weil ich nicht mit deiner Leidensgeschichte konkurrieren kann? Weil ich nicht zwei Stunden mit gebrochenem Schädel in einem zerquetschten Auto festgesteckt habe?»
«Hör auf!», bat Tia, der plötzlich die Tränen kamen. «Ich fühl mich schon mies genug.»
Instinktiv wandte sie das Gesicht ab, obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Die ganze Anspannung der letzten Stunden brach sich Bahn und ließ plötzlich ihre Tränen fließen. In der Totenstille empfand sie ihr eigenes Schluchzen als doppelt entwürdigend. Tia weinte selten – sehr selten. Wenn, dann weil sie sich hilflos fühlte, was trotz ihrer Blindheit eine seltene Ausnahme war. Sie hatte sich daran gewöhnt, immer den richtigen Weg zu finden, andere zu führen und sie zu ermutigen, selbst wenn wenig Hoffnung bestand. Nun jedoch fühlte sie die Verantwortung wie eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern.
Leon schwieg. Tia wusste, dass er nur eine Handbreit vor ihr in der Dunkelheit stand, doch er rührte keinen Finger. Die Schnelligkeit seines Atems verriet eine seltsame Art beherrschter Erregung, die sie nicht deuten konnte.
Wenn er mich doch nur in die Arme nehmen würde, dachte Tia. Es fiel ihr schwer, sich diesen Wunsch einzugestehen, denn es nagte an ihrem Selbstbewusstsein, dass ausgerechnet sie, die starke und mutige, sich nach einer Schulter zum Anlehnen sehnte.
«Also gut.» Leon seufzte resigniert. «Wenn du nicht darüber reden willst, dann sag mir wenigstens, was ich tun soll.»
Tia schluckte und verdrängte die Tränen.
«Mich festhalten», flüsterte sie leise, fast beschämt. Zaghaft tastete sie nach seiner Hand. Die Wärme, die sie spürte, durchbrach ihre Hemmungen. Sie schlang die Arme um Leon und schmiegte sich fest an ihn. Das hatte sie noch nie getan – und empfand sofort Gewissensbisse, denn ihr Schutzbedürfnis schien ihn zu überfordern: Sein Körper versteifte sich wie in jäher Abwehr. Erst nach Sekunden hob er eine Hand und legte sie, mehr symbolisch als fest, auf ihren Kopf, der an seinem Hals lag. Sein Atem klang angespannt, und sie konnte fühlen, dass seine Nackenmuskeln verkrampft waren.
Nur einen Moment!, versuchte sie ihm ohne Worte zu signalisieren. Gib mir nur diesen einen, kurzen Moment.
Widerstrebend löste sie sich von ihm, als sie spürte, dass er diesen Grad von Nähe nicht länger ertragen konnte. Ihre Hoffnung, einmal hemmungslos weinen zu dürfen – so wie zuletzt als Kind bei ihrem Vater –, hatte sich nicht erfüllt. Stattdessen bemühte sie sich um Fassung, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und atmete tief, um sich zu beruhigen.
«Ich habe nur eine Vermutung», brachte sie schließlich mit unsicherer Stimme hervor. «Aber sie kann sich als völlig falsch herausstellen.»
«Und? Lässt du mich nun daran teilhaben?»
«Nicht, bevor ich mir sicher bin.»
Leon seufzte abermals. «Na schön. Gegen deinen Dickkopf komme ich ja doch nicht an.»