••• 02 : 00 ••• BRINGSHAUS •••

Bringshaus und Böttcher hatten nach einem längeren Marsch den Bergfuß zur Hälfte umrundet. Sie begegneten keinem Menschen, denn sie folgten einem einsamen Wanderweg quer durch das Naturschutzgebiet, der von Wäldern und Wildwiesen umgeben war. Im Mondschein war der Weg geradezu unheimlich, denn aus der Dunkelheit zwischen den Bäumen drangen alle möglichen Geräusche: Ein Rascheln und Knacken verriet, dass Marder, Wiesel und andere Raubtiere auf der Pirsch waren, und irgendwo in der Ferne glaubte Bringshaus das Geschrei einer Eule zu hören.

Er war froh, als sie einen Rastplatz erreichten, den er selbst im Dunkeln wiedererkannte. Von hier aus führte ein überwucherter Fußpfad in eine Senke, die nordseitig durch einen zwei Meter hohen Steilhang begrenzt war. Der ehemalige Campingplatz war seit vielen Jahren geschlossen, und nur hier und dort verrieten kleine Häufchen aus Blechdosen und anderem Unrat, dass die Verbotsschilder gelegentlich von Wanderern missachtet wurden.

Bringshaus hob die Stablampe und ließ den Lichtkegel über die Steilwand wandern. «Schwer vorstellbar, dass hier irgendwo ein Stollen sein soll. Er wäre doch längst entdeckt worden.»

«Nicht, wenn er gut versteckt ist», meinte Böttcher. «Wir sollten den Hang abschreiten, und zwar Meter für Meter.»

Sie taten es, beide Lampen zu Boden gerichtet. Es war nicht einfach, denn der Fuß des Abhangs war zerklüftet und mit Steinen übersät, zwischen denen hüfthohes Gestrüpp wucherte. Bringshaus nahm einen herumliegenden Stock auf, um die Büsche zur Seite zu streichen und in jeden Winkel zu spähen, wobei er sich vorkam wie ein Dschungelforscher mit einer Machete. Der Steilhang erstreckte sich über fast hundertfünfzig Meter, und es dauerte lange, bis sie ihn abgeschritten hatten und beschlossen, umzukehren und es noch einmal in der Gegenrichtung versuchen.

«Schau mal hier!», rief Böttcher plötzlich, ging in die Knie und bog einen Busch zur Seite.

Bringshaus eilte herbei und erblickte einen kleinen Haufen losen Gerölls, der sich an der Wand zwischen dichtem Gestrüpp türmte. Böttcher schob die Steine auseinander – und was zum Vorschein kam, war eine halbrunde Öffnung, kaum kniehoch und mit einem Eisengitter verschlossen, an dessen rostigen Stangen Kletterpflanzen wucherten.

«Bingo!», sagte Böttcher. «Perfekt getarnt. Das muss der Eingang sein! Kein Wunder, dass er nie entdeckt wurde.»

«Ich glaube, du hast recht.»

Bringshaus leuchtete mit der Lampe durch das Gitter und erkannte die schattenhafte Umrisse eines engen Stollens, der viel tiefer lag als das Gelände draußen.

«Offenbar hat sich der Boden gehoben und den unteren Teil des Eingangs verdeckt», vermutete er, scharrte die Erde rund um die Gitterstäbe fort und stieß auf einen steinharten Absatz. «Das dachte ich mir: Bis auf Brusthöhe mit Beton verplombt. Dieses Gitter verschließt nur das obere Drittel der Öffnung.»

«Aber wenn wir es heraushebeln, müsste man hineinkriechen können», sagte Böttcher, richtete sich auf und spuckte in die Hände. «Gib mir die Hacke und halt die Lampe!»

Bringshaus tat wie geheißen. Eigentlich hielt er den Versuch, das Gitter auszugraben, für nicht sehr aussichtsreich, doch die Tatkraft seines Komplizen steckte ihn an. Mit zwiespältigen Gefühlen sah er zu, wie Böttcher die Hacke schwang, dem Beton einige Risse zufügte, dann ein ansehnliches Loch und schließlich regelrechte Krater, von deren Rändern ganze Stücke abplatzten. Die erstaunliche Körperkraft des Mannes ließ ihn schaudern.

Kein Zweifel, dass er auch jemandem den Schädel einschlagen könnte, dachte er unwillkürlich.

Als das Gitter bei jedem Schlag deutlich vibrierte, hakte Böttcher die Hacke zwischen zwei Stangen und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Griff. Knirschend brach die rostige Konstruktion aus ihrer Verankerung und fiel ins Gras.

«Na bitte!», keuchte er mit hochrotem Kopf. «Da hast du deinen Nebenstollen. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo er hinführt.»

Bringshaus beugte sich vor und leuchtete abermals hinab. Nun war deutlich ein Gang zu erkennen, der in rechtem Winkel zur Steilwand ins Erdreich hineinführte. Den Boden bedeckte ein muffig riechender Mulch aus verwehten Kiefernnadeln und getrocknetem Tierkot.

«Ich weiß nicht … Eigentlich kann es nicht der Ausgang sein, von dem die Traveen gesprochen hat. Die Richtung stimmt nicht.»

«Das werden wir ja sehen», meinte Böttcher und machte Anstalten, sich mit den Füßen voran durch die kniehohe Öffnung zu schieben.

«Vorsicht!», warnte Bringshaus. «Der Boden da drin liegt einen guten Meter tiefer. Es wird nicht leicht sein, wieder herauszuklettern. Wenn etwas schiefgeht, gibt es am Ende noch zwei weitere Vermisste.»

«Das Risiko müssen wir eingehen», sagte Böttcher. «Komm schon, Jörn! Wir sind gut gerüstet: Wir haben Helme, wir haben Lampen, und wir haben eine Spitzhacke. Vergiss nicht, dass dies möglicherweise der Weg ist, auf dem uns dein Sohn entgegenkommt.»

Bringshaus dachte an Justin – irgendwo in der Tiefe unter dem Berg, durch lichtlose Spalten kriechend, frierend und verängstigt, nur unter der Führung einer blinden Frau. Böttcher hatte recht: In diesen Stollen zu steigen erforderte vergleichsweise wenig Mut und war das Mindeste, was man von einem Vater erwarten durfte, dessen Sohn vermisst wurde.

«Also gut. Versuchen wir’s.»