••• 20 : 30 ••• BRINGSHAUS •••

Jörn Bringshaus ging unruhig auf dem Parkplatz auf und ab, der zum Aussichtsplatz auf dem Kugelberg gehörte. Drüben, beim Eingang des Bergwerks, blitzten Blaulichter: Feuerwehr und Notärzte waren angerückt, sahen sich jedoch vorerst außerstande, den Verunglückten zu helfen. Immerhin wirkte ihre Anwesenheit notdürftig beruhigend auf Danas Mutter, die vor kurzem in Begleitung eines älteren Verwandten eingetroffen war. Bringshaus, der die beiden nicht kannte, hatte es Justin überlassen, sich um sie zu kümmern. Es war nur gerecht, dass der Junge seine Dummheit ausbadete und sich von Danas aufgebrachtem Onkel anschreien ließ, während die Mutter in Tränen aufgelöst daneben stand. Finns Eltern befanden sich – zum Glück – auf einer Urlaubsreise in Nordafrika, und Laura hatte sich freiwillig bereit erklärt, sie anzurufen und die Hiobsbotschaft zu überbringen.

Bringshaus war froh darüber, denn er hätte es nicht geschafft, sich auch noch um die Angehörigen zu kümmern. Er hatte bereits genug damit zu tun gehabt, den Feuerwehrleuten die Sachlage zu erklären und sie von einem übereilten Rettungsversuch abzuhalten, da keiner von ihnen Erfahrung im Höhlenklettern besaß. Zwar machte sich Bringshaus Sorgen um Dana, denn er hatte die Freundin seines Sohnes immer gemocht, und auch das Schicksal Finns ließ ihn nicht kalt. Seine größte Sorge jedoch war eine andere: dass Tia Traveen so schnell wie möglich eintraf und die Sache erledigte, bevor es jemand anders versuchte.

Von seinem erhöhten Aussichtsplatz konnte Bringshaus einen großen Teil der umliegenden Landschaft überblicken. Die Sonne ging eben unter, Schatten krochen über die Wälder drüben an der Hauptstraße. Als die Lichter eines Wagens sich näherten und in die Zufahrt zum Kugelberg einbogen, fühlte er sein Herz schneller schlagen.

Lass es die Frau sein!, wünschte er inbrünstig.

Doch als der Wagen sich näherte, erkannte er Hartmut Böttchers dunkelblauen Mercedes. Ungeduldig wartete er, bis sein alter Geschäftsfreund den Parkplatz erreicht hatte, ausstieg und ihm mit versteinerter Miene entgegenkam.

«Ist diese Höhlenspezialistin auf dem Weg?», fragte er statt einer Begrüßung.

Bringshaus nickte. «Sie müsste jede Minute hier sein.»

«Dann lass uns hoffen, dass sie es schafft! Eine andere Chance haben wir nicht mehr.»

«Hast du Wildhauer erreicht?»

Böttchers Miene verfinsterte sich noch mehr. «Ja, habe ich.»

«Und?»

«Begeistert war er natürlich nicht gerade.»

«Können wir auf ihn zählen?»

«Vergiss es! Er hat es nicht so deutlich formuliert, aber zwischen den Zeilen klargemacht, dass er nichts tun kann – mit anderen Worten: nichts tun will.»

«Das ist doch unglaublich!», erregte sich Bringshaus. «Hat er keine Angst?»

«Wovor denn? Er steht ohnehin kurz vor der Pensionierung. Schlimmstenfalls muss er von seinen Ämtern zurücktreten, was lediglich bedeutet, dass er seinen gutbezahlten Ruhestand ein paar Wochen früher antritt. Und wenn es hart auf hart kommt, wird er nicht zögern, ein paar alte Freunde über die Klinge springen zu lassen.»

«Stronzo», flüsterte Bringshaus kopfschüttelnd. Es war sein erlesenstes Schimpfwort, ursprünglich für den Liebhaber seiner Exfrau reserviert, inzwischen jedoch auf jede Art von Schurken ausgeweitet, die über Geld und öffentliches Ansehen verfügten. «Dieser Wildhauer …»

Bringshaus verstummte, als er einen warnenden Blick seines Freundes auffing. Er wandte sich um und sah den Einsatzleiter der freiwilligen Feuerwehr eilig auf sich zukommen, begleitet von einer attraktiven Frau um die vierzig. Im ersten Moment glaubte er, es sei Tia Traveen, dann erst wurde ihm bewusst, dass sie viel zu alt war und keinerlei Ähnlichkeit mit dem Foto in der Zeitung hatte.

«Herr Bringshaus!», rief der Einsatzleiter, ein schnauzbärtiger Hüne namens Havermann. «Zwei meiner Männer sind bereit, einen Versuch zu wagen. Sie haben zwar keine Erfahrung im Schachtklettern, werden aber ihr Möglichstes tun. Am besten kommen Sie mit, schließlich sind Sie der Einzige, der sich dort unten auskennt.»

Böttcher und Bringshaus wechselten einen raschen Blick.

«Was ist denn?», drängte der Einsatzleiter. «Nun kommen Sie schon!»

«Bitte warten Sie noch!», bat Bringshaus mit gezwungen ruhiger Stimme. «Nur fünf Minuten. Die Expertin muss jeden Augenblick hier sein.»

Der Einsatzleiter machte ein halb erstauntes, halb unwilliges Gesicht. Offenbar glaubte er, Bringshaus würde an seinen Fähigkeiten zweifeln.

«Bitte!», wiederholte Bringshaus. «Ich kann nicht im mindesten voraussagen, worauf Sie sich da einlassen. Die Höhle wurde nie erforscht, und der Schacht öffnet sich in der Decke, mindestens zehn Meter über dem Boden. Wir brauchen einen Kletterprofi, glauben Sie mir.»

Der Einsatzleiter wollte etwas erwidern, doch die Frau, die sich an seine Seite gedrängt hatte, kam ihm zuvor.

«Sie sind der Ingenieur, nicht wahr?», sagte sie an Bringshaus gewandt.

«Ja. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?»

«Carolin Frey, vom Lindener Anzeiger.» Die Frau zückte einen Presseausweis. «Was ist das für ein Experte, den Sie engagiert haben? Ich hörte einen Namen – Wildhauer, glaube ich.»

Bringshaus tauschte erneut einen raschen Blick mit Böttcher. Glücklicherweise erübrigte sich die Beantwortung der Frage, denn alle Anwesenden wandten sich um, als ein weißer Ford Transit mit Berliner Kennzeichen auf den Parkplatz einbog.

«Gott sei Dank», seufzte Bringshaus und winkte, als er erkannte, dass der Fahrer sich suchend umsah. Der Kastenwagen stoppte. Ein junger Mann mit kurzem blondem Haar stieg aus und eilte zur Beifahrertür, um einer Frau ins Freie zu helfen, die eine tiefschwarz getönte Brille trug. Dann öffnete er die Heckklappe und hob zwei schwere Ledertaschen aus dem Laderaum.

«Das gibt’s doch nicht!», raunte die Journalistin. «Sie haben Frau Traveen angeheuert?»

Bringshaus ignorierte sie und näherte sich der Frau, die wartend neben dem Wagen stand. Seiner Vorstellung von einer Wissenschaftlerin entsprach sie nicht. Eher wirkte sie wie eine Schauspielerin, die sich unter dunkler Kleidung und Sonnenbrille verbarg, um nicht von Paparazzi erkannt zu werden. Sie war jung und hatte ein auffallend ebenmäßiges Gesicht, das von halblangem, kastanienbraunem Haar umflossen war.

«Frau Traveen?» Zögernd trat er vor, streckte die Hand aus und erinnerte sich zu spät daran, dass sie es gar nicht sehen konnte. «Ich bin Jörn Bringshaus. Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell gekommen sind.»

«Ist die Feuerwehr noch da?», erkundigte sich Tia ohne Umschweife.

«Der Einsatzleiter steht dort drüben.»

«Notarzt?»

«Wartet am Stolleneingang.»

«Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Leon?» Der junge Mann schloss eben die Heckklappe des Wagens und trat zu ihnen, eine Tasche über der Schulter, die andere in der Hand, während er Tia den freien Arm reichte. «Leon Berner, mein Partner. Wo geht’s lang?»

«Folgen Sie mir», bat Bringshaus, wandte sich um und strebte auf den Vorplatz des Bergwerks zu. Havermann und Böttcher schlossen sich an, ebenso die Journalistin.

«Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen», sagte Carolin Frey im Gehen.

Tia wandte sich erstaunt zu ihr um, die Nasenflügel geweitet, wie um einen Geruch einzufangen. «Frau Frey – sind Sie das?»

«Sie haben mich erkannt?», fragte die Journalistin verblüfft.

«Kein Kunststück! Ihr Parfüm haben Sie mir ja erst vor einer halben Stunde unter die Nase gehalten.»

Die beiden kennen sich?, dachte Bringshaus alarmiert. Verflixte Reporterin … Am Ende will sie noch mit hinunter in den Stollen. Das muss ich um jeden Preis verhindern.

Die Menschen, die sich vor dem Eingang des Bergwerks versammelt hatten, wichen zurück, als die Gruppe sich näherte. Die Feuerwehrleute musterten Tia und Leon interessiert. Danas Onkel dagegen, der seine in Tränen aufgelöste Schwester im Arm hielt, blickte skeptisch drein. Als Tia an ihnen vorbeiging, hielt sie überraschend inne, wandte den Kopf und trat auf die beiden zu.

«Ihr Sohn – oder Ihre Tochter?», fragte sie ohne jegliche Vorrede.

Danas Mutter blickte auf. Sie schien derart überrascht, dass ihre Tränen für einen Augenblick versiegten.

«Meine Tochter», sagte sie mit leichtem polnischen Akzent. «Dana.»

Tia nickte, tastete nach dem Arm der Frau und drückte ihn sanft. «Bitte versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen. Ich habe Sie gefunden, obwohl ich Sie nicht sehen konnte – und ich werde auch Ihre Tochter finden, wenn es irgend möglich ist.»

Danas Mutter schluckte hart.

«Hier entlang.» Bringshaus öffnete die Gittertür. «Herr Havermann, könnten Sie für Lampen und Helme sorgen?»

Der Einsatzleiter nickte und winkte seine Männer heran, um die Ausrüstung zu verteilen.

«Wir sind versorgt», sagte Leon, der einen Grubenhelm mit eingebauter Lampe aus seinem Gepäck zog. «Und Tia braucht ja kein Licht.»

«Aber ich», meldete sich Böttcher.

«Und ich auch!», schloss sich die Journalistin an.

«Sie bleiben draußen!», wehrte Bringshaus ab und versperrte ihr den Weg. «Kein Zutritt für Zivilpersonen!»

«Und was ist mit dem Herrn da?», fragte Carolin Frey und deutete auf Böttcher.

«Herr Böttcher ist ein Freund der Familie. Seien Sie vernünftig und machen Sie keine Schwierigkeiten! Unsere Zeit ist kostbar.»

Tatsächlich blieb die Journalistin zurück, als die kleine Gruppe den Stollen betrat, wo mehrere Feuerwehrleute und einer der Notärzte zu ihnen stießen. Bringshaus atmete auf. Als sie ein paar Meter hinter sich gebracht hatten und außer Hörweite der Menschen draußen waren, konnte er seine Neugier nicht mehr zurückhalten.

«Wie machen Sie das?», wandte er sich an Tia. «Woher haben Sie gewusst, wo Danas Mutter stand?»

«Ich hörte die Frau leise schluchzen, und der Geruch war unmissverständlich.»

«Der Geruch?»

«Angstschweiß. Er riecht anders als gewöhnlicher Schweiß. Liegt an den Stresshormonen.» Tia wandte sich Leon zu. «Ich glaube, ab hier kann ich frei gehen.»

«Wie du meinst», nickte Leon und ließ ihren Arm los.

«Klassisches Stollenmundloch, zwei mal zwei Meter mit halbkreisförmiger Firste», vermutete Tia, die sich nun mit erstaunlicher Sicherheit bewegte. «In etwa richtig?»

«Perfekt», bestätigte Bringshaus.

«Können Sie hellsehen?», fragte der Einsatzleiter.

«So ähnlich.» Tia drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, während sie leise mit der Zunge schnalzte. «Menschliche Echolokation nach der Kish-Methode. In geschlossenen Räumen kann ich die Lage und Höhe der Wände durch reflektierte Geräuschimpulse abschätzen. Wo genau liegt der Unfallort?»

«Auf der tiefsten Ebene, etwa sechzig Meter unter Tage. Einen Lift gibt es natürlich schon lange nicht mehr. Wir müssen die Leitern benutzen.»

Dies erwies sich als das geringste Problem: Als sie die Plattform zum Hauptschacht erreichten, kletterte Tia ohne Mühe und mit erstaunlicher Geschwindigkeit abwärts, sodass Bringshaus sich beeilen musste, um mit ihr Schritt zu halten. Leon und die anderen folgten als Nachhut.

«Nutzen wir die Zeit!», bat Tia, während sie eine Ebene nach der anderen überwanden. «Bitte schildern Sie mir noch einmal möglichst genau, was geschehen ist.»

«Die beiden Jugendlichen sind in einen Schacht gestürzt, der zur Betriebszeit des Bergwerks für die Müllbeseitigung diente», erklärte Bringshaus. «Der Schacht führt in eine natürliche Höhle, die noch nie erkundet wurde. Mein Sohn sagt, er hörte das Mädchen schreien, konnte aber nicht bis zum Boden hinableuchten. Womöglich sind die beiden ernsthaft verletzt …»

Er verstummte, denn er mochte sich nicht ausmalen, was geschähe, falls Dana oder Finn tot geborgen wurde.

Das darf nicht passieren, wünschte Bringshaus inbrünstig. Bitte … niemals!

«Sie sagten, dass der Schacht in eine Höhle führt», unterbrach Tia seinen Gedankengang. «Sind Sie sicher?»

«Ziemlich sicher, ja», antwortete Bringshaus. «Ich habe seinerzeit eine Messung mit dem Geo-Radar gemacht, die auf einen natürlichen Hohlraum hindeutete. Die Daten zu seiner Ausdehnung waren allerdings unklar.»

«Wie kommen Sie darauf, dass es sich um einen Müllschacht handelt?»

«Recherche. In einer Chronik der Lindener Salzgruben heißt es, die Bergleute hätten damals ihren Abfall in solche Schächte geworfen – ausgediente Fässer, Maschinenschrott, Abraum-Erde und dergleichen. Die Höhle wurde wohl zufällig entdeckt und kurzerhand als Müllhalde genutzt.»

«Und Sie sind für die Verwahrung des Bergwerks zuständig?»

«Ja, als Gutachter der Stadtverwaltung. Die Grube wurde 1966 stillgelegt. Außer mir und den Leuten einer Baufirma, die die Leitern installiert haben, war seit fünfzig Jahren niemand hier drin. Ich sollte überprüfen, ob es irgendwo Stabilitätsprobleme oder Wassereinbrüche gab – was nicht der Fall war. Seitdem mache ich nur einmal im Jahr ein paar Messungen. Ursprünglich war geplant, die Anlage mit einer Salzlösung zu fluten, aber die Stadt konnte das Geld dafür nicht auftreiben. Also wurde beschlossen, die Stabilität des Bergwerks fünfzehn Jahre lang zu überwachen und dann den Eingangsstollen endgültig zu verplomben … in drei Jahren wäre es so weit gewesen.»

«Sie kennen sich mit Bergwerken aus?», folgerte Tia.

«Ja, ich war selbst mehrere Jahre als Vermesser in einer Salzgrube tätig. Als sie geschlossen wurde, habe ich mich als Ingenieur selbständig gemacht.»

So weit zumindest die Kurzfassung, fügte Bringshaus in Gedanken hinzu. Er war Anfang dreißig gewesen, als man ihn auf die Straße gesetzt hatte. Zwei Jahre lang hatte er von Arbeitslosengeld und schließlich von Hartz IV gelebt, bis er den verzweifelten Mut gefunden hatte, sich für die Eröffnung eines eigenen Ingenieurbüros über beide Ohren zu verschulden. Kurz darauf hatte ihn seine Frau verlassen, die es endgültig leid gewesen war, jeden Cent dreimal umdrehen zu müssen. War es ein Wunder, dass er damals, in einer so bedrückenden Situation, einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte? Was für eine Ungerechtigkeit, dass ihn diese Dummheit ausgerechnet jetzt wieder einholte … nach so langer Zeit.

«Sind wir da?», fragte Tia, als sie die unterste Ebene erreichten.

«Kleines Stück noch», antwortete Bringshaus.

Wenige Minuten später erreichten sie den Unglücksort. Der tote Gang hinter der Abbaukammer war viel zu eng, um allen Anwesenden Platz zu bieten. Daher bat Bringshaus die Feuerwehrleute, beiseite zu treten, um Leon und Tia durchzulassen. Lediglich der Einsatzleiter und der Notarzt gesellten sich zu ihnen, und gemeinsam umringten sie die dunkle Schachtöffnung. Während Leon sein Gepäck abstellte, war Tia in die Knie gegangen, um Boden und Wände zu befühlen.

«Warum ist es hier so feucht?», fragte sie mit gerunzelter Stirn. «In ein Salzbergwerk dürfte eigentlich kein Wasser eindringen.»

«Ist mir auch unbegreiflich», sagte Bringshaus. «Die Decke muss wohl mit den Jahren brüchig geworden sein.»

«Leon? Glaubst du, wir kriegen hier überhaupt einen Haken fest?»

«Ich versuch’s», sagte Leon, zog eine Bohrmaschine aus einer der Taschen und setzte sie an der Decke unmittelbar über der Schachtöffnung an. Während der Bohrer sich knirschend vorarbeitete, regneten einige kleinere Felssplitter von den umgebenden Wänden.

«Hoffentlich hält die Decke das aus», sagte Havermann skeptisch.

«Wir haben keine andere Wahl», antwortete Leon knapp, griff nach einem Spreizdübel und trieb ihn mit kräftigen Hammerschlägen in den Stein. Dann wandte er sich Bringshaus zu. «Wie lang ist der Tunnel?»

«Nach meinen Messdaten gut zwanzig Meter. Aber von der unteren Öffnung aus dürften es noch einmal zehn Meter bis zum Boden sein.»

«Nimm das Sechzig-Meter-Seil!», entschied Tia, die sich über die Schachtöffnung gebeugt hatte. «Riechst du das?»

Leon nickte, während er den Karabiner befestigte und das Seil in den Schacht hinunterließ. «Kannst du sagen, was es ist?»

«Nicht genau. Ammoniak, eine Spur Schwefelwasserstoff … Aber der dominierende Geruch ist außergewöhnlich. Irgendwie muffig, fast wie Schimmel.»

«Atemschutz?», schlug Leon vor.

«Ungern.»

Tia erhob sich, um ihren Fleecemantel abzulegen. «Unter der Maske würde ich meinen Geruchssinn einbüßen.»

«Geht diese Frau allein runter?», raunte der Notarzt dem Einsatzleiter zu. «Das ist gegen jede Sicherheitsregel.»

«Sie dürfen mich gern begleiten, wenn Sie wollen!», sagte Tia, die seine Worte gehört hatte, während sie ein Headset für den Grubenfunk und darüber einen Helm ohne Lampe aufsetzte.

Der Notarzt erbleichte. Zweifellos hatte er nicht die geringste Erfahrung damit, unbekannte Hohlräume in sechzig Meter Tiefe zu erkunden oder sich durch enge Felsschächte zu zwängen. «Ich meinte ja nur …»

«Schon gut.» Tia nahm ihre dunkle Brille ab. «Machen Sie Ihren Job – ich mache meinen.»

Erstaunt bemerkte Bringshaus, dass ihre Augen keine Spur einer Erkrankung zeigten. Anfangs hatte er geglaubt, die Brille verberge eine Verunstaltung, etwa ein Glaukom oder eine milchig getrübte Linse. Nun jedoch stellte er fest, dass Tia Traveens Augen völlig normal wirkten, hellbraun und mit samtschwarzen Pupillen.

«Ihre Augen …» Trotz der angespannten Situation konnte er die Bemerkung nicht zurückhalten. «Sie sehen so … gesund aus.»

«Das sind sie auch», sagte Tia, während sie ihr Rückengepäck schulterte. «Nur meine Sehnerven sind zerstört. Können wir, Leon?»

Sie stieg in den Hüftgurt und zog die Beinschlaufen fest, während Leon den Karabiner auf Nabelhöhe einhakte und das Sicherungsseil ergriff. Dann ging sie in die Knie, ertastete den Rand des Schachtes und ließ sich hineingleiten.

«Und abwärts!»