Bringshaus war froh, das Bergwerk zu verlassen. Es war tröstlich, aus dem Eingangsstollen zu treten und wieder die frische Nachtluft zu atmen. Allein der Anblick von Bäumen, Büschen und offenem Gelände wirkte beruhigend auf ihn. Die Nacht war lau und klar, der Himmel von Sternen übersät. Die Einsatzfahrzeuge standen noch immer an der Zufahrt, und auf einer offenen Wiese hinter dem Parkplatz konnte Bringshaus die erleuchtete Silhouette des Hubschraubers erkennen. Danas Mutter wartete nicht mehr am Tor, wie er mit heimlicher Erleichterung feststellte, sondern hatte sich zu einigen der Feuerwehrleute gesellt, die am Führerhaus ihres Wagens lehnten. Havermann übernahm die Aufgabe, sie über die jüngste Änderung der Lage zu informieren, während Schultze die Suchtrupps einteilte und die nötigen Gerätschaften ausgeben ließ.
«Drei Teams zu je vier Mann! Jedes Team bekommt eine Hacke und einen Spaten. Erdspalten werden vorsichtig angegraben, um zu sehen, ob sich Hohlräume darunter befinden. Wer etwas entdeckt, benachrichtigt sofort die anderen Teams. – Und Sie gehen erst einmal zum Arzt!», wandte er sich an Bringshaus, der bereits zwei Stablampen und eine Hacke in Empfang genommen hatte. «Sie können ja später zu uns stoßen.»
Bringshaus wollte widersprechen, doch Böttcher ergriff ihn unerwartet beim Ärmel. «Er hat recht, Jörn.»
«Und geben Sie mir das Funkgerät!», bat Schultze. «Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass wir die Verbindung wiederherstellen können, aber für alle Fälle möchte ich es dabeihaben.»
Böttcher zögerte kurz, bevor er ihm Tias Grubenfunkgerät übergab. Dann zog er Bringshaus mit sich fort und steuerte den Wagen des Notarztes an.
Schon wieder bin ich allein mit diesem Kerl, dachte Bringshaus wütend. Was hindert mich eigentlich daran, auf der Stelle auszupacken und der Sache ein Ende zu machen? Habe ich mehr Angst vor den Folgen – oder vor ihm?
Er schalt sich selbst wegen seiner Feigheit. Es gab nicht einmal eine vertraute Person, der er sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit eröffnen konnte. Flüchtig dachte er daran, sich unter einem Vorwand davonzustehlen und seine Exfrau anzurufen, verwarf den Gedanken aber sofort. Karin würde vermutlich am allerwenigsten zu ihm halten. Es war das Beste, wenn sie vorläufig überhaupt nicht erfuhr, dass ihr Sohn verunglückt war. Andernfalls würde sie vermutlich sofort mit ihrem neuen Lebensgefährten angerast kommen, einen fürchterlichen Aufstand machen, die Rettungskräfte herumkommandieren und ihrem Exmann vor aller Ohren eine Standpauke halten. Im Übrigen: Hatte sie nicht gesagt, sie wäre heute abend mit ihrem Lover in der Spätvorstellung im Kino? Dort konnte er sie ohnehin nicht erreichen – Handyverbot.
«Hast du irgendeine Ahnung, wo der Höhlenausgang liegen könnte?», unterbrach Böttcher seine Gedanken. «Du hast doch seinerzeit das Gelände vermessen. Denk mal nach!»
«Was glaubst du eigentlich, was ich die ganze Zeit tue?», schoss Bringshaus wütend zurück. Schon seit sie den Hauptschacht hinaufgeklettert waren, hatte er sich den Kopf zermartert, war jedoch auf keine zündende Idee gekommen. «Ich habe nicht die geringste Ahnung! Mein Job war, das Bergwerk auf Stabilität zu prüfen. Ich habe keine geodätische Analyse des gesamten Naturschutzgebiets gemacht. Weiß der Himmel, ob es da irgendwo eine Felsspalte gibt.»
Er verstummte, als er neben dem Rettungswagen nicht nur den Arzt und seine Helfer, sondern auch zwei Personen in Zivil bemerkte. Eine davon war die Reporterin Carolin Frey, die eben versuchte, den Arzt in ein Gespräch zu verwickeln. Etwas abseits stand ein älterer Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe, womöglich ein Schaulustiger.
Der Notarzt erblickte Bringshaus, winkte ihn heran und begutachtete kritisch die geplatzte Lippe.
«Eigentlich sollten Sie ins Krankenhaus fahren», meinte er. «Zwei oder drei Nahtstiche könnten eine Narbe verhindern.»
«Ach, so schlimm ist es nicht», murmelte Bringshaus. «Ein Pflaster wird genügen.»
«Wie Sie meinen.» Der Arzt zuckte die Achseln und griff nach einem Koffer mit Verbandszeug.
«Ah, Herr Bringshaus!», nutzte Carolin sofort die Gelegenheit. «Da sind Sie ja! Ist es wahr, dass Ihr Sohn zusammen mit den anderen verschüttet wurde?»
«Da Sie es offenbar schon wissen, warum fragen Sie?», gab Bringshaus gereizt zurück.
«Ich hörte gerade, dass die Rettungsmannschaft jetzt nach einem weiteren Zugang zur Höhle sucht, wahrscheinlich in einiger Entfernung vom Berg. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo das sein könnte?»
Bringshaus, der diese Frage zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten hörte, wollte bereits etwas Heftiges erwidern – doch er riss sich zusammen, als Böttcher ihm unauffällig eine Hand auf den Arm legte.
«Nein, keine Ahnung», erwiderte er beherrscht. «Im ganzen Umkreis der Stadt sind keine Höhlen bekannt, also muss der Zugang bisher verborgen geblieben sein.»
«Vielleicht ist die Höhle mit einem anderen Grubenbau verbunden», warf plötzlich der ältere Mann ein, der bislang abseits gestanden hatte. Er sprach mit rauer, leicht krächzender Stimme.
«Wie kommen Sie darauf? Es gibt kein anderes Bergwerk in der Nähe.»
«Vor 1900, als es noch nicht die nötige Technik für Erkundungsbohrungen gab, hat man oft Probestollen angelegt», erklärte der alte Mann. «Wenn sie nicht ergiebig waren, wurden sie wieder aufgegeben, und man buddelte an einer anderen Stelle weiter. Manche alten Bergbaugebiete sind durchlöchert wie ein Schweizer Käse.»
«Sie kennen sich damit aus?», fragte Bringshaus.
«Ich war früher selbst Bergmann», bestätigte der Alte, «leider nicht hier in der Gegend. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie ein unbekanntes Loch in der Erde suchen, dann sollten Sie einen einheimischen Bergmann auftreiben. Sie glauben gar nicht, wie viele Gruben mit den Jahren einfach vergessen wurden! Es wächst buchstäblich Gras darüber, irgendwelche Leute bauen Häuser auf dem Gelände, und eines Tages beschwert sich jemand bei der Gemeinde, dass in seinem Keller der Boden einbricht, weil eine unversetzte Strecke darunterliegt.»
«Eine was?», fragte Carolin.
«Ein nicht zugeschütteter Stollen», dolmetschte Bringshaus und musterte den Sprecher interessiert. Was der alte Mann sagte, war nicht von der Hand zu weisen. In der Tat gab es in Bergbaugebieten oft uralte Anlagen, die auf keiner Karte verzeichnet waren. «Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wo wir suchen sollen. Wir haben nur die Richtung: Südosten.»
«Sie sollten einen Bergmann fragen», wiederholte der alte Mann. «Irgendjemanden, der früher hier gearbeitet hat.»
«Das ist doch eine gute Idee!», sagte Carolin, deren journalistischer Instinkt geweckt war.
Bringshaus winkte ab. «Das Bergwerk wurde 1966 geschlossen. Es wäre ein Wunder, wenn irgendjemand, der hier gearbeitet hat, heute noch am Leben wäre.»
«Gibt es einen Verein ehemaliger Bergleute?», fragte der alte Mann.
Bringshaus schüttelte resigniert den Kopf.
«Eine Chronik des lokalen Bergbaus?»
«Ja, aber sie liegt in der Stadtbibliothek. Vor morgen Mittag kommen wir da nicht heran.»
«Irgendwelches Brauchtum? Vielleicht eine Kapelle der heiligen Barbara? Sie ist die Schutzpatronin der Bergleute.»
«Es gibt eine Steinfigur auf dem Zentralfriedhof, die Sankt Barbara genannt wird», sprang Carolin ein, die Expertin für Lokalangelegenheiten. «Auf dem Sockel steht der Name des Stifters. Augenblick, vielleicht fällt er mir wieder ein … Helmholtz oder so ähnlich.»
«Helmschrodt?» Bringshaus, der plötzlich einen Gedankenblitz hatte, blickte erstaunt zu ihr auf. «Den Namen kenne ich! Er ist auf einer Tafel eingemeißelt, auf der tiefsten Ebene des Bergwerks: G. Helmschrodt.»
«Na, das ist doch eine Spur!», meinte Carolin, ganz in ihrem Element, und zückte ihr Handy. «Vielleicht gibt es im Telefonbuch eine Familie dieses Namens.»
«Aber Sie können doch um diese Zeit niemanden anrufen! Es ist nach Mitternacht.»
Doch Carolin winkte ab und zog sich ein paar Schritte zurück, das Telefon am Ohr.
«Das ist sinnlos», meinte Bringshaus kopfschüttelnd. «Die Tafel stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wer immer sich dort verewigt hat, ist seit mindestens fünfzig Jahren tot.»
Böttcher jedoch, der das Gespräch stumm verfolgt hatte, blinzelte ihm zu. Lass sie nur machen!, schien sein Blick zu sagen.
«Sie sollten die Hoffnung nicht aufgeben», riet der alte Mann. «Meine Tia tut das schließlich auch nicht.»
«Ihre Tia?» Bringshaus blickte auf.
«Ach, verzeihen Sie.» Der alte Mann lächelte und streckte die Hand aus. «Jürgen Traveen.»
«Traveen?» Bringshaus starrte ihn überrascht an. Er war vermutlich erst Mitte sechzig, wirkte jedoch älter und nicht besonders gesund. Auf seinen Zügen lag ein grauer Schatten, als sei seine Gesichtshaut nicht ausreichend durchblutet, und sein Atem pfiff ein wenig. Die dunkelblauen Augen jedoch strahlten vertrauenerweckend. «Sie sind …?»
«Tias Vater», nickte der Alte. «Leider erfahre ich oft erst aus den Medien, was mein Mädchen gerade wieder treibt. Die Reporterin dort, Frau Frey, hat meine Telefonnummer herausbekommen und mich angerufen. Ich wusste von gar nichts, bin sozusagen aus dem Sessel gefallen, sofort ins Auto gesprungen und erst vor einer Viertelstunde hier angekommen. Leider zu spät – der Feuerwehrchef sagte, dass die Funkverbindung abgerissen ist.»
«Stimmt», bestätigte Böttcher, der den Alten aufmerksam musterte.
«Die Rettungshelfer wollten mich nicht mal in den Stollen lassen», klagte Traveen. «Und das mir, der ich zwanzig Jahre in einer Kohlenzeche geschuftet habe und mich dort unten wahrscheinlich besser zurechtfinden würde als jeder von denen!»
«Sie hätten ohnehin nichts tun können», sagte Böttcher.
«Na ja, immerhin bin ich ein Angehöriger! Sie hat man doch auch hinuntergelassen, oder nicht?»
Böttcher nickte.
«Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?», erkundigte sich Traveen.
«Hartmut Böttcher. Ich bin ein Freund von Herrn Bringshaus.»
Tatsächlich?, dachte Bringshaus. Dass du mein Freund bist – oder jemals warst –, würde ich mittlerweile bezweifeln.
«Freut mich, freut mich», erwiderte Traveen zerstreut und reichte auch Böttcher die Hand. «Na, ich hoffe nur, dass alle bald wieder heil und sicher über Tage sind.»
«Sie selbst scheinen sich keine großen Sorgen zu machen», bemerkte Bringshaus.
«Ach …» Traveen winkte ab. «Ich habe es schon lange aufgegeben, mir Sorgen zu machen. Meine Tochter reist in der halben Welt herum, krabbelt in jedes Höllenloch und schickt mir Ansichtskarten von Orten, deren Namen ich nicht mal buchstabieren kann. Wenn ich jedes Mal graue Haare bekommen sollte, wenn sie sich in Gefahr begibt, müsste ich mir erst mal neue wachsen lassen.» Er lächelte verschmitzt und klopfte auf seinen kahlen Schädel. «Tia schafft das schon. Und wenn Leute bei ihr sind, die ihre Hilfe brauchen, wird sie auch die wieder ans Tageslicht bringen.»
Er verstummte und blickte zu Carolin hinüber, die in einigen Schritten Entfernung konzentriert telefonierte und sich Notizen auf einem Ringblock machte. Es dauerte einige Minuten, doch als sie schließlich zurückkam, war ihr Gesicht vor Aufregung gerötet.
«Treffer!», verkündete sie triumphierend. «Es gibt nur zwei Helmschrodts im ganzen Landkreis, und gleich der erste war der Richtige: Ein Mann namens Kurt Helmschrodt aus Egendorf. Sein Großvater war Markscheider in diesem Bergwerk – so etwas wie ein Vermessungsingenieur. Der war es, der um 1900 die Statue auf dem Friedhof gestiftet hat, als Dank für seine Rettung nach einem Schachteinsturz. Die ganze Familie war über Generationen im Bergbau tätig, und auch Kurt hat bis 1966 hier gearbeitet.»
«Dann müsste er ja schon ziemlich alt sein», folgerte Böttcher.
«Neunundachtzig», bestätigte Carolin, «und etwas verwirrt im Kopf, zumal ich ihn aus dem Bett geholt habe. Ich glaube nicht, dass er wirklich begriffen hat, wer ich bin und was ich von ihm wollte – aber als ich auf das Bergwerk zu sprechen kam, blühte er förmlich auf und kramte die tollsten Geschichten heraus.»
«Und? Weiß er etwas von einem Nebenstollen?», fragte Bringshaus gespannt.
«Ja! Er selbst hat dort nie gearbeitet, denn der Stollen war schon zu seiner Zeit geschlossen, aber die Bergleute wussten, dass es ihn gab. Er soll an einer Steilwand im Duwengrund liegen.»
«Duwengrund … das ist eine Senke nordwestlich des Bergs», erinnerte sich Bringshaus. «Früher war da mal ein Campingplatz. Schade – falsche Richtung.»
«Wieso?», fragte Traveen.
«Ihre Tochter hat gesagt, dass der Ausgang südöstlich des Bergs liegen muss», erklärte Böttcher.
«Hm … wenn Tia das sagt, wird es stimmen. Schade, in der Tat.»
Enttäuscht blickte Carolin von einem zum andern. «Meinen Sie nicht, man sollte der Sache nachgehen?»
«Wusste dieser Helmschrodt irgendetwas von der Höhle?», fragte Böttcher zurück.
Carolin schüttelte den Kopf. «Zu seiner Zeit wurde nur noch auf den oberen drei Ebenen des Bergwerks gearbeitet. Es war zwar bekannt, dass es auf der untersten Ebene diesen Müllschacht gab, aber niemand wusste, wo er hinführt.»
Bringshaus spürte, wie Böttcher ihn von der Seite anblickte. «Das hilft uns nicht weiter. Wir sollten gehen, Jörn, und uns Schultzes Leuten anschließen.»
Bringshaus seufzte. «Ja, du hast wohl recht.» Er erhob sich, nahm seine Lampe auf und schulterte die Hacke.
«Kann ich Sie begleiten?», erbot sich Carolin.
«Das hätte wenig Sinn», wehrte Böttcher ab, der ihre Schuhe musterte. «Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber mit diesen Absätzen können Sie nicht im Gelände herumklettern. Sie würden uns nur aufhalten.»
Carolin biss sich auf die Lippen und schwieg.
«Trotzdem vielen Dank!», sagte Bringshaus und schenkte der Journalistin einen anerkennenden Blick.
Interessante Frau, dachte er. Hätte ich zurzeit keine anderen Sorgen, dann würde ich mich wahrscheinlich freuen, wenn sie mitkäme.
Carolin erwiderte seinen Blick. «Viel Glück!»
Sie gingen über den Vorplatz und die Auffahrt hinunter, wo der Wanderweg abzweigte, auf dem Schultzes Truppe sich entfernt hatte. Bringshaus schwieg nachdenklich, wobei er schon wieder bemerkte, dass Böttcher ihn aus dem Augenwinkel musterte.
Er bewacht mich, dachte er ärgerlich. Er will sichergehen, dass ich nichts Unüberlegtes tue. Herrgott, warum habe ich mich je mit ihm eingelassen?
«Eigentlich doch ganz interessant, was diese Reporterin herausgefunden hat», sagte Böttcher überraschend.
Bringshaus zuckte die Achseln. «Leider hilft es uns nicht weiter, wie du schon gesagt hast.»
«Mein Fehler – ich war wohl zu abweisend. Vielleicht wäre es doch eine gute Idee, sich diesen Nebenstollen einmal anzusehen.»
«Aber die Traveen hat gesagt, wir sollen im Südosten suchen.»
«Sie kann sich doch irren! Vielleicht muss sie Umwege machen und unterwegs die Richtung wechseln. Kennst du diesen Duwengrund?»
«Wie gesagt, das war einmal ein Campingplatz. Ich war nur ein einziges Mal dort, vor Jahren mit meiner Exfrau.»
«Immerhin ist das die einzige Spur, die wir haben», gab Böttcher zu bedenken. «Wir sollten uns dort einmal umsehen.»
«Da wären wir aber einige Zeit unterwegs, denn wir müssten den ganzen Bergfuß umrunden.»
«Kommt man nicht mit dem Auto dorthin?»
«Nur über einen langen Umweg. Die Straßen sind gesperrt, seit das Gelände unter Naturschutz steht.»
«Dann laufen wir eben. Lampen haben wir ja.»
«Sollten wir nicht erst einmal Schultze und seinen Männern Bescheid sagen?»
«Ach was!», meinte Böttcher. «Die sind doch längst in die Gegenrichtung abgezogen. Lass uns erst einmal schauen, ob an der Sache etwas dran ist, bevor wir Alarm schlagen.»
Bringshaus blieb stehen und dachte nach. Das klang einleuchtend. Allerdings irritierte ihn der plötzliche Sinneswandel. Normalerweise war Böttcher nicht der Mann, der leicht von einer einmal gefassten Meinung abwich. Und er war ein Stratege – das war immer so gewesen, schon beim Aushecken ihrer Jugendstreiche. Er legte Wert darauf, dass niemand ihm jemals zu tief in die Karten schaute. Konnte Bringshaus es wagen, sich allein mit ihm von den anderen zu entfernen?
Er entschloss sich, reinen Tisch zu machen, und blickte seinem alten Schulfreund gerade ins Gesicht.
«Hartmut? Ich kenne dich. Sei ehrlich: Führst du irgendetwas im Schilde?»
Böttchers graue Augen blieben unergründlich wie stets. Doch als er antwortete, klang seine Stimme aufrichtig.
«Hör zu, Jörn», begann er. «Diese ganze Geschichte ist extrem unerfreulich, für uns beide. Ich gebe zu: Es kam mir gelegen, dass die Traveen beschlossen hat, einen Ausgang aus der Höhle zu suchen, denn dass die Rettungsleute den Müllschacht freigraben und sich da unten umsehen, wäre keine gute Alternative. Ich will mit heiler Haut aus dieser Sache herauskommen – aber ich will auch, dass dein Sohn gerettet wird, das schwöre ich dir. Und ich halte das, was die Reporterin herausgefunden hat, wirklich für eine Spur. Deshalb bin ich dafür, dass wir zu diesem Campingplatz gehen und nach dem Nebenstollen suchen. Ich wäre sogar bereit, es alleine zu machen, falls du dich lieber Schultzes Leuten anschließen willst.» Er zögerte kurz. «Und im Übrigen … tut es mir leid, dass ich dir da unten eine geballert habe.»
Bringshaus musterte ihn prüfend.
«Frieden?», fragte Böttcher fast demütig.
Bringshaus seufzte. «Na schön – Frieden.»
«Gehen wir?»
«Gehen wir.»