Carolin Frey sah auf die Uhr. Mittlerweile hielt sie sich seit mehr als zwei Stunden auf dem Vorplatz des Bergwerks auf, doch ans Nachhausefahren dachte sie nicht mehr. Der Freitagabend war ohnehin gelaufen, und in ihrer Dreizimmerwohnung erwartete sie niemand, abgesehen von einem vermutlich leeren Anrufbeantworter und dem garantiert leeren Bett. Ursprünglich hatte sie nur die Bitte ihres Chefredakteurs erfüllen, einige Fotos schießen und ein paar Zeilen für die Samstagsausgabe formulieren wollen. Als ihr jedoch klar geworden war, dass es sich um einen der spektakulärsten Rettungseinsätze seit Jahren handelte, war sie geblieben und hatte die Zeit vergessen.
Der journalistische Instinkt allerdings war ihr in den vergangenen Stunden ein wenig abhandengekommen. Nachdem sie sich über die Sachlage informiert und die Rettungskräfte interviewt hatte, war sie bis zu Danas Mutter vorgedrungen – und deren desolate Verfassung hatte es ihr unmöglich gemacht, das übliche Bild der «betroffenen Angehörigen» mit professioneller Distanz zu zeichnen. Die arme Frau Novak war einem Nervenzusammenbruch nahe, und Carolin brachte es nicht übers Herz, ihr taktlose Fragen zu stellen. Stattdessen war sie schon nach kurzer Zeit so weit gewesen, der Frau Mut zuzusprechen, sie mit Taschentüchern zu versorgen und am Ende gar ihre Hand zu halten.
Bittrich hätte mir einiges zu sagen, dachte sie seufzend. Ihr Chefredakteur krittelte stets, Carolin habe ein allzu weiches Herz und gehe nicht forsch genug auf mögliche Informanten zu. «Schonen Sie niemanden, das müssen Sie noch lernen!», mahnte er stets, wenn sie Unfallopfer interviewen sollte, trauernde Hinterbliebene, Hartz-IV-Empfänger unter Betrugsverdacht oder Lokalpolitiker, die in Ungnade gefallen waren. Carolin missachtete diese Weisung bewusst und nicht ohne Trotz: Sie war entschlossen, keinem Menschen die Würde zu nehmen, ihn öffentlich zu blamieren oder mit Zudringlichkeiten zu überrumpeln. Insgeheim hatte sie für jene Art von Journalismus, die Bittrich vorschwebte, nur Geringschätzung übrig. Vermutlich – so dachte sie manchmal – war genau das der Grund, warum sie es nur bis zum Lokalressort einer Kleinstadtzeitung gebracht hatte: Ihr fehlte, um es mit Bittrichs Worten zu sagen, die nötige Frechheit.
Als gegen halb elf Männer mit einer Trage aus dem Eingangsstollen auftauchten, glaubte Carolin wie alle anderen, die Tochter der Novaks sei gerettet worden.
Gut! Gleich ist alles vorbei, dachte sie und hob ihr Fotohandy für einen finalen Schnappschuss. Letztes Bild: Glückliche Mutter schließt unversehrte Tochter in die Arme, die nach bangen Stunden der Ungewissheit endlich geborgen wurde.
Doch ihr Finger erstarrte auf dem Auslöser, als sie einen entsetzten Schrei von Danas Mutter hörte. Auf der Trage lag nicht das Mädchen, sondern einer der Notärzte, eine blutende Platzwunde im Gesicht. Eilig drängte sich Carolin zu den Novaks durch, denen der Rettungsleiter der Feuerwehr gerade die Lage erklärte.
«Es tut mir sehr leid», sagte er, nahm seinen Helm ab und wischte sich die Stirn. «Die Menschen in der Höhle sind unverletzt, aber vorläufig von der Außenwelt abgeschnitten. Wir werden Räumgeräte anfordern müssen.»
«Wie ist das passiert?», fragte Carolin.
«Die Decke ist eingestürzt», beschied Havermann knapp. «Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss telefonieren.»
Danas Onkel versuchte ihn aufzuhalten, doch seine Schwester hatte sich ihm schluchzend an den Hals geworfen, sodass er nicht von der Stelle kam.
Da sie die beiden nicht bedrängen wollte, schloss sich Carolin den Männern an, die den verletzten Notarzt zum Einsatzwagen seines Kollegen trugen. Es war derselbe, der den jungen Finn ins Krankenhaus gebracht hatte und bereits vor einigen Minuten zurückgekehrt war.
«Oh nein – Holger!», begrüßte er seinen lädierten Berufsgenossen. «Du hast ja ganz schön was abgekriegt! Dass das genäht werden muss, brauche ich dir wohl nicht zu sagen.»
«Schon klar», stöhnte der andere. «Hast du irgendwas vom Labor gehört?»
«Ja.» Sein Kollege grinste schief. «Tut mir leid, aber deine Wette hast du verloren! Sie sagen, dass die Forscherin recht hat: Es ist tatsächlich ein Pilz. Offenbar hat er die halbe Höhle dort unten überwuchert. Wahrscheinlich eine Schimmelspezies, aber mit dicken Rizomorphen voller Chitin, wie bei Holzpilzen.»
«Wie geht es Finn?», mischte sich Carolin rasch ein. «Wissen Sie schon Genaueres?»
Der Arzt verstummte augenblicklich, als er die Journalistin erkannte.
«Wir dürfen darüber keine Auskünfte geben», sagte er zurückhaltend.
«Es war von einem Pilz die Rede», beharrte Carolin. «Was meinen Sie damit? Hat der Junge sich dort unten irgendeine Infektion geholt?»
«Tut mir leid – Schweigepflicht.»
Nachdenklich blieb Carolin zurück, als der Notarzt abfuhr, um seinen Kollegen ins Krankenhaus zu bringen. Die Feuerwehrleute hatten sich ratlos um ihren Chef versammelt, der noch immer telefonierte, und die Novaks hatten sich in den Schatten eines der Einsatzwagen zurückgezogen.
Was nun?, fragte sich Carolin. Es war keine ermutigende Aussicht, herumzustehen und abzuwarten, zumal es niemanden gab, der irgendwelche Auskünfte erteilen wollte.
Wird Zeit, dass ich selbst ein wenig recherchiere, ermahnte sie sich. Immerhin war es einst ihr Traum gewesen, Wissenschaftsjournalistin zu werden und über spannende Naturphänomene zu berichten statt über Ladeneröffnungen, Stadtfeste oder Verkehrsunfälle. Und von einem Pilz, der in einer Höhle wuchs und Menschen angriff, hatte sie noch nie gehört.
Carolin nahm ihr Handy zur Hand, rief das Internet auf und tippte «Pilze» in die Suchmaschine.
Pilze: Ortsfest wachsende Lebewesen, die weder zu den Tieren noch zu den Pflanzen gehören, sondern ein eigenes Reich mit rund 120.000 bekannten Arten bilden. Von Pflanzen unterscheiden sich Pilze dadurch, dass sie keine Energie aus Sonnenlicht gewinnen und daher auch in vollkommener Dunkelheit wachsen können. Im Allgemeinen bevorzugen sie ein warmes und feuchtes Klima, trotzen aber auch ungünstigen Umweltbedingungen. Es wurden bereits Pilze entdeckt, die in der Lage sind, auf Leder oder Glas, in arktischer Kälte und selbst unter dem Einfluss radioaktiver Strahlung zu wachsen (vgl. Pilze von Tschernobyl).
Pilzsporen keimen auf organischen Materialien und bilden ein Geflecht feinster Fasern, mit denen sie ihre Nahrungsquelle überwuchern. Meistens gedeihen sie auf totem Holz, Laub und verfaulenden Pflanzenteilen, aber auch auf Nahrungsmitteln, Tierkadavern und Kot. Parasitische Pilze befallen lebende Pflanzen und Tiere und zählen damit zu den Krankheitserregern (Pathogenen).
Carolin schauderte ein wenig, als sie an das Gesicht des jungen Finn dachte: Seine Wangen waren von einer Art flockigem Pelz bedeckt gewesen, ähnlich wie ein wochenaltes, verschimmeltes Brot. Sie suchte nach «Pilzkrankheiten beim Menschen» und klickte sich durch verschiedene Internetseiten.
Spätestens nach seinem Tod wird fast jeder Mensch zur Nahrungsquelle von Pilzen, die eine wichtige Rolle beim Verwesungsprozess spielen. Doch auch der lebende Mensch hat mit Angriffen parasitischer Pilze zu kämpfen. Mikroskopisch kleine Sprosspilze gehören zur normalen Besiedlung der menschlichen Schleimhäute und führen meist nur bei geschwächtem Immunsystem zu Krankheitserscheinungen. Verschiedene Fadenpilze, die sogenannten Dermatophyten, ernähren sich von dem Eiweiß Keratin, das in Haut, Haaren und Nägeln enthalten ist (vgl. Fußpilz). Die gefährlichsten Erkrankungen werden jedoch von Schimmelpilzen verursacht, die über die Haut, durch offene Wunden oder durch eingeatmete Sporen in den Körper eindringen. Sie sind in der Lage, mit ihren Fasern lebendes Gewebe zu durchdringen, und können lebensgefährliche Infektionen der Unterhaut, der Lunge oder des Nervensystems verursachen. Einige von ihnen sondern Toxine ab, die zu den stärksten bekannten Giften gehören (vgl. Aspergillose, Histoplasmose, Phaeohyphomykose).
Mein Gott, was es alles gibt, dachte Carolin, buchstabierte sich mit Mühe einige der schwierigen Fremdwörter zusammen und versuchte Genaueres herauszufinden. Allerdings stieß sie bald auf Artikel in englischer Sprache, deren medizinisches Vokabular sie nicht verstand. Entmutigt beschloss sie, ihre Erkundung vorläufig abzubrechen.
«Möchten Sie einen Kaffee?», fragte einer der Feuerwehrleute, der mit einer Thermoskanne zu ihr herüberkam.
«Oh ja, vielen Dank.» Abwesend nahm sie die Plastiktasse entgegen. Offensichtlich blieb ihr doch nichts anderes übrig, als abzuwarten.