••• 04 : 28 ••• TIA •••

Eine halbe Stunde war vergangen, seit die vier den Raum mit dem Syphon verlassen hatten. Wie zuvor waren sie der Luftströmung gefolgt, die Tia immer deutlicher auf ihrem Gesicht spürte. Allerdings kamen sie nur langsam voran, was vor allem daran lag, dass Justin seine Füße wie ein Schlafwandler setzte und bei jedem Schritt gestützt werden musste. Dennoch war Tia zufrieden, denn weder Hindernisse noch Abzweigungen erschwerten den Weg. Er führte mit zunehmender Steigung durch eine ganze Flucht blasenförmiger Hohlräume.

Gut … wird Zeit, dass wir aufwärts gehen, dachte Tia. Es war also die richtige Entscheidung gewesen, durch den Syphon zu schwimmen.

Dass sie vor Kälte beinahe umgekommen war, hatte sie schon fast vergessen. Ihre Körpertemperatur hatte sich rasch normalisiert, nachdem sie ihre Kleidung wieder angelegt hatte. Selbst ihr Haar war inzwischen trocken. Auch Leon hatte sich erholt, wenngleich sein verletztes Bein ihm zu schaffen machte, sodass er kaum schneller vorankam als Justin und Dana.

Der Boden begann in stärkerem Winkel anzusteigen. Aufrechtes Gehen war nun zu gefährlich, also wies Tia ihre Gefährten an, sich auf Hände und Knie niederzulassen. Glücklicherweise war das Gestein terrassenförmig gestuft und bot genügend Halt. Am oberen Ende des treppenartigen Schachts erwies sich der Boden als eben und gut begehbar. Tia richtete sich auf und wandte das Gesicht nach oben – und so erschrak sie heftig, als sie mit der rechten Ferse auf festem Boden aufsetzte, der vordere Teil ihrer Fußsohle jedoch ins Leere knickte.

«Verflixt!»

«Was ist los?», fragte Leon.

«Zurückbleiben!», befahl Tia. «Hier geht’s ziemlich steil abwärts.»

Das war noch gelinde ausgedrückt. Als sie in die Knie ging, die Felsklippe betastete und sich durch ausgiebiges Zungenschnalzen ein Bild machte, sank ihr der Mut.

Bitte … nein! Nicht so kurz vor dem Ziel!

Ein Abgrund von nahezu vier Meter Breite unterbrach den Weg, mit glatten, senkrechten Wänden und unabschätzbar tief. Kein Felsvorsprung, keine natürliche Brücke, kein seitlicher Sims erlaubte eine Überquerung. Von der anderen Seite wehte frische Luft herüber und bewies die Nähe der Erdoberfläche: Es roch nach Gras und feuchter Erde. Tia hatte den richtigen Weg gewählt – doch er war ihnen verwehrt.

Und was jetzt?, fragte sich Tia. Hinüberspringen war ausgeschlossen. Das hätte wohl nur ein Athlet fertiggebracht – vorausgesetzt, er hätte sehen können, wo er landete. Keiner von ihnen würde das schaffen, schon gar nicht Leon mit seinem verletzten Bein, zu schweigen von Justin, der sich kaum auf den Füßen halten konnte. Nicht einmal Tia selbst hätte es gewagt.

«Was ist das Problem?», fragte Leon, der an ihre Seite getreten war.

Tia seufzte. «Das Problem ist ein vier Meter breiter Abgrund.»

«Oh nein. Und was machen wir jetzt?»

«Keine Ahnung.»

«Dann müssen wir wohl umkehren.»

«Und wohin? Seit wir durch den Syphon getaucht sind, lagen keine Abzweigungen mehr am Weg. Wir müssen über diesen Abgrund, es gibt keine Alternative.»

«Immerhin haben wir noch das Kletterseil», sagte Leon. «Wenn wir es zu einem Lasso binden und hinüberwerfen, können wir es vielleicht irgendwo verankern …»

«Und dann? Willst du auf dem Seil zur anderen Seite balancieren – freihändig und im Stockdunkeln?»

«Aber Sie haben doch sicher irgendeine Idee, oder?», meldete sich Dana zu Wort, die dem Gespräch angespannt gelauscht hatte. «Ihnen fällt doch immer etwas ein!»

Kein angenehmes Gefühl, immer die Heldin zu sein, dachte Tia resigniert. Wie war das noch? Die Anforderungen steigen mit den Leistungen.

Dabei hatte sie in der Tat eine Idee, scheute sich jedoch, sie zu Ende zu denken. Es würde gefährlich sein und ihren ganzen Mut erfordern, ganz zu schweigen von außergewöhnlicher Kraft und Körperbeherrschung. Gab es wirklich keine Alternative?

Nein. Es sei denn, sie blieben an Ort und Stelle und warteten auf Hilfe von draußen, und die war seit Stunden überfällig. Die Rettungskräfte hatten den Höhlenausgang nicht gefunden, sonst wären sie längst eingetroffen.

Sie holte tief Luft. «Leon? Gib mir das Seil.»

«Was hast du vor?»

«Wir werden uns hinüberschwingen – im Tarzan-Stil. Ich muss versuchen, das Seil an der Decke über dem Abgrund festzumachen.»

«Was?» Leon klang erschrocken, als er ihr das aufgerollte Seil reichte. «Und wie zum Teufel willst du das hinkriegen?»

«Ich habe ein halbes Dutzend Klemmkeile im Gepäck. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als mich von einem zum anderen zu hangeln. Du musst mich hochheben, damit ich den ersten verankern kann – die Decke ist zwei Meter hoch, direkt über dem Abgrund sogar drei.»

«Um Himmels willen, Tia! Bist du sicher, dass du das tun willst?»

«Wir haben keine Wahl.»

«Denk daran: Wenn dir etwas passiert, sind wir anderen so gut wie verloren.»

«Ich denke seit Stunden an nichts anderes!», versicherte Tia scharf. «Du kannst mir glauben, dass das kein Vergnügen ist!»

Leon schwieg einen Moment betreten.

«Okay», lenkte er schließlich ein. «Sag mir einfach, was ich tun soll.»

Tia zog die Klemmkeile aus ihrem Rückengepäck und steckte sie nebeneinander in ihren Gürtel. «Heb mich an den Hüften hoch, so weit du kannst.»

Leon zögerte.

«Mach schon!» Sie drängte sich an ihn. «Verschränk die Hände unter meinem Po und lehn dich nach hinten, dann wird es gehen.»

Er tat es und stemmte sie ohne größere Mühe in die Höhe, sodass sein Kopf auf Höhe ihrer Brust war. Tia streckte beide Arme aus und betastete die Höhlendecke. Das Gestein war von zahlreichen Spalten und Fugen durchzogen, sodass es nicht lange dauerte, bis sie eine geeignete Stelle gefunden hatte. Rasch zog sie einen Klemmkeil hervor, schob ihn in eine der Öffnungen und packte die Schlaufe, die normalerweise zum Einhängen des Seils vorgesehen war.

«Lass mich los! Dann kann ich sehen, ob er hält.»

Vorsichtig gab Leon ihren Körper frei.

Ruhig atmen!, befahl sich Tia, als sie frei im Raum schwebte und ihr gesamtes Gewicht an ihrer rechten Hand hing. Du schaffst das. Konzentrier dich!

Mit der linken Hand tastete sie nach dem nächsten geeigneten Punkt in der Decke, die sich in Richtung des Abgrunds kuppelförmig hochwölbte. Sie setzte den zweiten Keil, zog prüfend daran, ergriff die Schlaufe und wagte es schließlich, mit der anderen Hand loszulassen. Dabei keuchte sie vor Anstrengung, während ihre Armmuskeln zitterten.

«Alles in Ordnung?», rief Leon besorgt.

Tia hatte keinen Atem übrig, um zu antworten. Wieder tastete sie sich ein Stückchen vor, setzte den dritten Keil und ließ den zweiten los.

Vier Armlängen – also brauchte sie fünf Keile, den ersten eingerechnet. Keine Zeit zum Ausruhen. Sie hing mitten über dem Abgrund, und ihre Kraft musste noch reichen, um sich wieder zurückzuhangeln. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sich unter ihr ein senkrechter Schacht befand, dessen Echo eine Tiefe von mindestens dreißig Metern signalisierte. Als sie den vierten Keil gesetzt und erneut ihr Gewicht verlagert hatte, knirschte die Halterung bedenklich.

Komm schon, komm schon!, beschwor sie in Gedanken die Mechanik. Mein Fliegengewicht wirst du aushalten, okay?

Der Keil tat ihr den Gefallen. Tia platzierte den fünften, hängte sich an ihn und griff mit der freien Hand nach dem Seil, das sie sich aufgerollt über die Schulter gelegt hatte. Es dauerte einige Sekunden, bis es ihr gelang, es durch die Schlaufe zu ziehen. Dann klemmte sie sich beide Enden des Seils zwischen die Zähne, um sie auf keinen Fall zu verlieren, und machte sich auf den Rückweg.

Zwar musste sie keine Keile mehr setzen und hatte die Hände frei – dennoch kam ihr der Weg unendlich lang vor, denn sie hatte den größten Teil ihrer Kraft verbraucht. Ihre Armmuskeln schienen vor Schmerz zu schreien, und jeder Umgriff von einem Keil zum nächsten presste ein ersticktes Keuchen aus ihrer Kehle. Wieder und wieder sagte sie sich, dass sie nicht innehalten durfte, biss die Zähne zusammen und tastete sich so schnell wie möglich zum nächsten Haltepunkt. Mit Mühe verdrängte sie den Gedanken, was geschehen würde, wenn ihr Körper der Belastung nicht mehr gewachsen wäre.

Wenn du loslässt, bist du tot.

Sie erreichte den vorletzten Keil und hörte, wie Leon sich zum Rand des Abgrunds vortastete, um ihr entgegenzukommen.

«Wo bist du?», rief er. «Mach irgendein Geräusch!»

Tia sah sich außerstande, die Kraft für den letzten Umgriff aufzubringen. Es war, als wären ihre Muskeln eingefroren. Sie wollte schreien, doch ihr Atem reichte nur noch für ein schwaches Ächzen. In ihrer Not stieß sie die Hacken gegeneinander, sodass ihre Stiefel ein hörbares Klappern von sich gaben.

Eine Hand tastete über ihre frei hängenden Schienbeine. Leon packte ihre Hüften und zog sie an sich. Sie ließ sich fallen, sackte in seinen Armen zusammen und presste für eine Weile das Gesicht gegen seine Brust.

«Geht es Ihnen gut?», flüsterte Dana. Ihre Stimme klang zittrig. Tia ahnte, dass das Mädchen ebenso große Angst ausgestanden hatte wie sie selbst.

«Alles in Ordnung», antwortete sie, als ihr Atem sich beruhigt hatte, und löste sich von Leon. Dann ergriff sie beide Enden des Seils und knotete sie fest zusammen. «Ich werde mich jetzt auf die andere Seite schwingen. Dort mache ich den Knoten wieder auf und versuche, das eine Ende des Seils irgendwo festzubinden. Das gibt uns zusätzliche Sicherheit für den Fall, dass der Klemmkeil versagt.»

«Kann das passieren?», fragte Dana ängstlich.

«Nur eine Vorsichtsmaßnahme», erklärte Tia. «Und dann schwingen wir uns einer nach dem anderen hinüber.»

«Das dürfte schwierig werden», meinte Leon, «besonders für Justin. Er kann sich ja kaum aufrecht halten.»

«Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht. Wir werden es so machen: Ich lasse meinen Klettergurt hier, und sobald ich drüben bin, ziehst du Justin den Gurt an und befestigst ihn am Seil. Er braucht sich also nicht einmal festzuhalten. Du gibst ihm einfach einen ordentlichen Schubs, sodass er über den Abgrund segelt, und ich fange ihn drüben auf. Mit Dana machen wir es genauso. Macht es dir etwas aus, wenn du als Letzter zu uns herüberkommst?»

«Schon in Ordnung», sagte Leon stoisch. «Wie willst du uns auffangen, ohne uns zu sehen?»

«Ihr müsst laut summen, wenn ihr am Seil hängt, dann kann ich euch nach dem Geräusch orten. Oder am besten schreien …»

«Nichts leichter als das», sagte Dana mit einem ungewohnten Anflug von Galgenhumor. «Ich glaube, ich schreie sowieso, wenn ich einfach ins Nichts geworfen werde.»