••• 23 : 00 ••• TIA •••

Tia durchquerte die Höhle und näherte sich erneut dem Müllberg unter der Schachtöffnung. Der Gipfel des Hügels war der höchste erreichbare Punkt, und von dort aus würde es am leichtesten sein, Luftströmungen zu lokalisieren. Als sie den Hang aus Schutt und Fässern erklettert hatte, wandte sie das Gesicht zur Decke, breitete die Arme aus und konzentrierte alle Sinne. Dabei benetzten einige dünne Wasserfäden ihre Haut, die aus der Schachtöffnung wie aus einem undichten Duschkopf herabtropften.

Es sickert also immer noch Wasser durch, dachte sie unbehaglich. Das bedeutet, dass der Wasserspiegel weiter steigen wird – als ob es hier unten nicht schon ungemütlich genug wäre. Bis das Bergungsteam zu uns durchgedrungen ist, sind wir entweder ertrunken oder erfroren.

Ein ungebetenes Bild erstand vor ihrem inneren Auge: vier Menschen, eng zusammengedrängt zu einer Traube aus erstarrten Gliedmaßen – und überwuchert von einer Wolke aus Pilzhyphen wie eine Handvoll verschimmelter Früchte. Wenn sie in dieser Höhle blieben, würden sie sterben und zur Nahrung für das monströse Gewächs werden, das mit unsichtbaren Fingern nach ihnen tastete und nur darauf wartete, dass sie sich nicht mehr regten.

Nein, das wird nicht geschehen, beschloss Tia. Nicht, solange ich noch Kraft und vier meiner fünf Sinne beisammenhabe. Ich bringe uns alle hier heraus. Das verspreche ich.

Es war eine besondere Angewohnheit Tias, sich selbst Versprechen zu geben – in der Regel beflügelte es ihre Kräfte und vertiefte ihre Konzentration. Schon vieles hatte sie auf diese Weise bewältigt, angefangen mit dem Schock nach jenem lange zurückliegenden Unfall, der zu ihrer Erblindung geführt hatte. Sie hatte in einem Krankenhausbett gelegen, zur unsichtbaren Decke hinaufgestarrt und die Worte des Arztes gehört, der ihr die Sachlage auseinandersetzte. Sie hatte begriffen, dass sie ihr gesamtes weiteres Leben im Dunkeln verbringen würde. Und sie hatte sich selbst ein Versprechen gegeben: Sie würde es schaffen, damit zu leben, und sie würde ein gutes Leben haben. Dieses Versprechen hatte sie gehalten.

«Sind Sie noch da?», drang Böttchers Stimme aus dem Headset. Tia erschrak, denn in den vergangenen Minuten hatte sie ihren Funkpartner beinahe vergessen.

«Ja, ich bin hier. Ich habe die anderen an einem halbwegs sicheren Ort zurückgelassen und versuche gerade, einen Ausweg zu finden.»

«Ich weiß», sagte Böttcher, «ich habe mitgehört. Kaum zu glauben, was Sie über diesen Pilz gesagt haben. Ist das denn wirklich …?»

«Bitte seien Sie einen Moment still!», unterbrach ihn Tia. «Ich glaube, ich habe etwas entdeckt.»

In der folgenden Stille verharrte sie reglos mit ausgebreiteten Armen, atmete tief und versuchte ihre Wahrnehmung zu überprüfen. Es dauerte eine Weile, bis sie sicher war, wobei sich das Wasser auf ihrer Haut als hilfreich erwies, denn es machte die Bewegungen der Luft als schwache Kälteschauer fühlbar.

«Irgendwo an der linken Längswand», murmelte sie, «ein gutes Stück über dem Boden.»

«Verraten Sie mir, wovon Sie sprechen?», schaltete Böttcher sich wieder ein.

«Ich spüre eine Konvektion.»

«Konvektion?»

«Eine Luftströmung», erklärte Tia. «Wenn der Raum allseitig geschlossen wäre, dürfte die Luft sich nicht mehr bewegen, weil der Schachtzugang verschüttet ist. Aber ich spüre einen schwachen Sog. Offenbar findet irgendwo ein Luftaustausch statt – vielleicht mit einem anderen Raum, wo die Temperatur höher und der Druck geringer ist.»

«Sie meinen, die Höhle könnte noch mit einem anderen Teil des Bergwerks verbunden sein?»

«Oder mit einer Nebenhöhle. Es ist natürlich möglich, dass es sich nur um einen schmalen Spalt handelt, aber ich werde mir die Sache genauer ansehen.»

Tia kletterte an der linken Flanke des Hügels hinab, die aus Dutzenden durcheinanderliegender Metallfässer bestand. In Bodennähe wurde das Pilzmyzel dichter, einzelne Fadenknäuel spannten sich wie Spinnennetze zwischen dem Hügel und der seitlichen Höhlenwand. Tia fühlte die Fasern über ihre nackten Schenkel streichen.

Nur die Ruhe!, mahnte sie sich selbst, wischte die Fäden beiseite und unterdrückte den Impuls, mit beiden Händen um sich zu schlagen. Der Pilz konnte ihr nichts anhaben, solange sie in Bewegung blieb. Außerdem erinnerte sie sich daran, dass sie fast eine halbe Stunde lang versucht hatte, Dana zu befreien, wobei sie die meiste Zeit auf den Knien gelegen hatte, sodass ihre nackten Beine ständig mit dem Myzel in Berührung gewesen waren. Offenbar war sie für den Pilz weniger verwundbar als andere Menschen, auch wenn ihr zurzeit noch kein plausibler Grund dafür einfiel.

Tia erreichte die Höhlenwand und tastete sich daran entlang. Dabei verstärkte sich der Geruch, den sie schon beim ersten Betreten der Höhle wahrgenommen hatte, eine faulige Mischung aus Ammoniak und Schwefel – Verwesungsgestank.

Das ist nicht der Pilz, dachte sie.

Sie zwang sich, innezuhalten und in die Knie zu gehen, um die kreuz und quer verflochtenen Fasern auseinanderzuschieben und den Boden zu betasten. Ihre Fingerspitzen berührten eine zähe, glitschige Substanz.

«Oh mein Gott.»

«Was ist los?», meldete sich Böttcher.

Unter gewöhnlichen Umständen war Tia bemerkenswert unempfindlich gegenüber Dingen, die anderen Menschen Ekel verursachten. Es hing mit ihrer Blindheit zusammen. Seit das Erlöschen ihres Augenlichtes sie auf Geruch und Tastsinn als wesentliche Erkenntnisquellen verwiesen hatte, war ihr die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gerüchen ebenso abhandengekommen wie zwischen angenehmen und unangenehmen Konsistenzen. Die Welt der Körper und ihrer feinstofflichen Ausdünstungen war vielgestaltig und wunderbar, voller Informationen, die den Menschen gewöhnlich entgingen, weil sie sie mit dem universalen Odium von Reinigungs- und Körperpflegemitteln übertünchten.

Diesmal jedoch ergriff sogar Tia das Grauen. Was dort nahe der Längswand am Boden lag, war eindeutig eine menschliche Leiche. Ihre Konturen waren kaum noch erkennbar, da der Pilz die unregelmäßigen Erhebungen wie mit einer Decke aus Watte überzogen hatte. Dennoch konnte Tia mit ziemlicher Sicherheit einen Oberschenkel identifizieren, dann ein Knie und schließlich ein Schienbein. Die Zuordnung der übrigen Körperteile war schwierig. Einige waren zu formlosen Massen zusammengesunken, andere so stark überwuchert, dass kaum noch zu erraten war, ob es sich um Gliedmaßen oder Teile eines Rumpfs handelte. Dann jedoch strichen Tias Fingerspitzen über die Augenhöhle eines Schädels, an dem noch intakte Haut samt Haaren klebte.

Korrektur: zwei Leichen!, erkannte sie, als ihr klar wurde, dass der Schädel in einem anatomisch unmöglichen Winkel zum Rest des Körpers lag.

Sie zwang sich, ihre Erkundung fortzusetzen, stieß auf eine Stablampe mit ausgelaufenen Batterien, einen Oberarm und schließlich einen weiteren Schädel. Es handelte sich um die Überreste von mindestens zwei Menschen, die dicht beieinander zwischen geborstenen Metallfässern lagen. Ihre Kleidung war nahezu vollständig zerfallen. Lediglich eine Gürtelschnalle und einige Hemdknöpfe aus Kunststoff hatten überdauert. Die Körper jedoch waren nur teilweise verwest und sämtliche Knochen noch von Fleisch umhüllt, das Gewebe war lediglich von einer schleimigen Schicht bedeckt, die vermutlich aus Zersetzungsprodukten der obersten Hautschichten bestand.

Tia schauderte. So fühlten sich Leichen an, die in nasser Erde oder unter Luftabschluss gelegen hatten. Das Phänomen war ihr aus der Bodenkunde geläufig: Mancherorts hatten die Friedhofsbetreiber Probleme mit Verstorbenen, die noch nach Jahrzehnten nahezu unversehrt in ihren Särgen ruhten, weil die umgebenden Böden zu feucht waren. Nässe und Luftmangel behinderten das Wachstum der Bakterien, die einen Leichnam auflösten, sodass die Verwesung in langwierige Fäulnisprozesse überging. Wie aber war es hier, in frischer, kalter Luft, dazu gekommen?

Es ist der Pilz, erkannte Tia. Natürlich! Pilze sondern Stoffwechselprodukte ab, die für Bakterien giftig sind – um ihre Nahrungsquelle nicht mit ihnen teilen zu müssen.

Soweit Tia tasten konnte, waren sämtliche Körperteile von dichtem Myzel überwuchert, dessen Fäden in die Haut eintauchten und ihre Opfer vermutlich bis in die inneren Organe hinein durchwachsen hatten. Tia hatte sich bereits vergeblich gefragt, woher der Pilz die Nährstoffe für sein monströses Wachstum bezog – nun war dieses Rätsel gelöst: Das Gewächs zehrte von menschlichen Körpern. Deshalb hatte es wohl auch Finn und Dana angegriffen: Weil die beiden längere Zeit am selben Fleck gelegen hatten und unterkühlt gewesen waren. Kalte Haut ähnelte toter Haut, denn Kälte schwächte das Immunsystem und verringerte die Durchblutung – leichtes Spiel für einen Organismus, der sich auf die Verwertung von Leichen spezialisiert hatte. Das erklärte auch, warum Tia selbst bisher verschont geblieben war, denn sie fror nicht leicht.

«Melden Sie sich doch!», drang Böttchers Stimme ungeduldig aus dem Funkgerät. «Was ist passiert?»

Tia tauchte die besudelte Hand in eine Wasserpfütze und rieb sich heftig die Finger. Im Allgemeinen waren ihre Nerven deutlich stärker als die der meisten Menschen, doch diese Entdeckung forderte sogar ihr einige Selbstbeherrschung ab. Mühsam sammelte sie sich und bog das Mikrophon mit der freien Hand näher zum Mund.

«Hier liegen zwei Leichen.» Sie sprach leise, damit nur ihr Funkpartner sie hören konnte. Leon, Justin und Dana befanden sich mindestens zwanzig Meter entfernt, und es war weder ratsam noch notwendig, sie mit einem neuerlichen Schock zu konfrontieren.

«Wahrscheinlich sind sie schon seit Jahren tot. Die Kleidung jedenfalls hat sich vollständig zersetzt.»

Böttcher schwieg eine Weile. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.

«Aber Sie können doch gar nichts sehen!», gab er schließlich zu bedenken. «Sind Sie sicher? Vielleicht handelt es sich um Tierkadaver.»

«Ausgeschlossen. Ich habe menschliche Schädel ertastet, außerdem eine Stablampe mit Zink-Kohle-Batterien …» Sie hielt inne, denn ihre Finger waren am Boden der Pfütze auf einen weiteren Gegenstand gestoßen: klein, rund und metallisch. Vorsichtig hob sie die flache Scheibe aus dem Wasser. «Und ein Geldstück! Wahrscheinlich hatte einer der Toten es in der Tasche.»

«Das ist ja unglaublich!»

«Allerdings. Ich würde gern wissen, wer diese Menschen waren und wie sie zu Tode gekommen sind.»

«Vielleicht stammen die Leichen noch aus der Betriebszeit des Bergwerks.»

«Definitiv nicht», sagte Tia, die das Geldstück zwischen den Fingerspitzen drehte. «Ich habe hier einen Zloty in der Hand.»

«Einen was?»

«Eine polnische Münze – Prägedatum 1992.»

«Wollen Sie behaupten, dass Sie die Prägung entziffern können?»

«Ich bin blind, Herr Böttcher. Mit den Fingerspitzen zu lesen gehört für mich zum Alltag.»

«Und was schließen Sie aus Ihrem Fund?»

«Dass die Toten keine Bergarbeiter waren. Das Bergwerk wurde in den sechziger Jahren stillgelegt, und diese Männer haben es nicht vor 1992 betreten. Außerdem finde ich nirgends Helme.»

«Dann waren es vielleicht Laienforscher. Sie könnten hier eingedrungen sein, bevor Herr Bringshaus die Überwachung der Anlage übernahm, und sind vielleicht durch einen Unglücksfall zu Tode gekommen.»

«Möglich. Jedenfalls sollte die Angelegenheit polizeilich überprüft werden. Vielleicht passt irgendeine Vermisstenmeldung dazu.» Tia schob die Münze in eine Tasche ihres Cave-Suits. «Aber das muss warten, bis ich die anderen hier herausgeschafft habe.»

«Werden Sie ihnen von den Leichen erzählen?»

Tia biss sich auf die Lippen. «Nein, das sollte ich lieber nicht tun. Sie haben schon genug Angst – besonders Dana und Justin. Wenn ich ihnen sage, dass schon einmal Menschen hier unten waren und nicht mehr lebend herausgekommen sind …»

«Sehr vernünftig», stimmte Böttcher zu. «Es ist bestimmt besser, wenn Sie das für sich behalten.»

«Und wenn ich so schnell wie möglich einen Ausgang finde», fügte Tia hinzu. «Ich gehe jetzt weiter und suche die Quelle des Luftstroms.»

Sie wandte sich zum Gehen, hielt jedoch inne, als sie ein leichtes Brennen an ihrer nackten Wade über dem Stiefelabsatz spürte. Erschrocken tastete sie nach der Stelle – und fand ein kleines Büschel Pilzhyphen, deren Enden ihre Haut berührten.

«Verdammtes Biest!», zischte sie und wischte die Fäden weg. «Lass mich bloß in Ruhe!»

«Tia?», rief eine entfernte Stimme. Sie erkannte Leon. «Ist alles in Ordnung?»

Reiß dich jetzt bloß zusammen!, befahl sich Tia. «Ja, alles in Ordnung!», rief sie mit gezwungen munterer Stimme zurück. «Warte noch einen Moment, ich komme gleich zurück.»

Sie tastete sich voran, bis sie sicher war, den schwachen Luftstrom aus nächster Nähe zu spüren. Unmittelbar vor ihr verschlang sich das Pilzmyzel zu einem kniehohen Haufen und wucherte in parallelen Strängen die Wand hinauf, eng an das Gestein geschmiegt. Tia streckte die Arme aus und erfühlte einen Felsspalt, fast mannshoch über dem Boden, durch den die Fasern sich in einen jenseitigen Hohlraum hinauswanden. Der Pilz hatte den Ausgang also auch entdeckt. Die Öffnung war länglich, immerhin einen halben Meter breit und damit groß genug, um einen Menschen hindurchzulassen – sofern der Betreffende schlank war und gut klettern konnte. Die einströmende Luft war vielleicht ein oder zwei Grad wärmer als am Boden der Höhle.

Das ist unsere Chance!, dachte Tia. Von hier aus gibt es irgendeine Verbindung zur Tagwelt.

Unvermittelt kam ihr die Idee, eines der Metallfässer zur Wand zu schaffen und aufzurichten, um eine Art Stufe zu schaffen. Sie tastete die Umgebung ab, stellte jedoch fest, dass die meisten Fässer zu schwer waren, um gezogen oder getragen zu werden. Schließlich wählte sie ein Fass, dessen Bauch einen Riss aufwies, sodass der größte Teil seines Inhalts – der sich nach feuchter Erde anfühlte – einen Haufen am Boden gebildet hatte.

Als sie über den gerippten Metallkörper strich, um das Pilzgeflecht beiseitezuwischen, erstarrten ihre Finger. Eine plötzliche Schwäche erfasste sie und ließ sie auf die Knie sinken. Mehrmals strich sie über dieselbe Stelle, weil sie nicht glauben konnte – nicht glauben wollte –, was ihre Fingerkuppen erfühlt hatten. Dann aber zuckte ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Auf dem Bauch des Fasses, nahe dem oberen Rand, befand sich ein dreieckiger Aufkleber. Er besaß ungefähr die Größe einer menschlichen Hand, und seine Ecken waren leicht abgerundet. Zweifellos war er stark verschmutzt und selbst bei Licht für sehende Augen kaum zu deuten – doch Tia hätte schwören können, dass seine Originalfarbe einst ein grelles Gelborange gewesen war.

«Nein», flüsterte sie. «Nicht auch das noch …»