••• 05 : 30 ••• CAROLIN •••

«Ralf Horn.»

«Hallo Ralf, hier ist Carolin.»

«Wer?»

«Carolin Frey, Ihre Nachfolgerin beim Lindener Anzeiger.»

«Mein Gott, Carolin … wissen Sie, wie spät es ist?»

«Tut mir wirklich leid! Aber es ist sehr dringend und kann nicht warten.»

«Wo brennt’s denn?»

«Ich brauche wieder einmal Ihr gutes Gedächtnis. Kennen Sie eine Spedition Böttcher?»

«Ja, sicher. Mittelständischer Betrieb im Industriegebiet. Der Inhaber ist gebürtiger Lindener. Hat ein Dutzend Angestellte und eine ansehnliche LKW-Flotte. Und dafür holen Sie mich aus dem Bett?»

«Es ist wirklich sehr wichtig! Leider habe ich nicht die Zeit, Ihnen die Zusammenhänge zu erklären. Erinnern Sie sich an irgendwelchen Klatsch über diese Firma? Stand jemals etwas in der Zeitung?»

«Lassen Sie mich nachdenken. Ja, doch, es gab da mal eine Geschichte, um das Jahr 2000 herum. In die Zeitung kam sie allerdings nicht. Soweit ich mich erinnere, ging es um eine falsch deklarierte Ladung.»

«Ach! Fallen Ihnen noch irgendwelche Einzelheiten ein?»

«Herrje, das ist so lange her. Ich glaube, es ging um einen Transport irgendwohin nach Osteuropa. Die Ladung war als Altöl gekennzeichnet, aber bei der Grenzkontrolle flog dann auf, dass es sich in Wahrheit um irgendeine hochgiftige Substanz handelte – Pestizide oder so was. Der Auftraggeber wurde wegen Verletzung der europäischen Müllverbringungs-Verordnung angezeigt, und eine Zeitlang hieß es, Böttcher könnte von dem Schwindel gewusst und mitgespielt haben.»

«Und was wurde aus der Sache?»

«Die Anklage wurde fallen gelassen. Entweder war der Kerl schlicht unschuldig, oder er hatte einen guten Anwalt. Jedenfalls habe ich nie wieder etwas darüber gehört.»

«Hochinteressant.»

«Hilft Ihnen das weiter?»

«Ich glaube schon.»

«Dann erklären Sie mir doch endlich, worum es geht!»

«Dazu habe ich leider im Augenblick keine Zeit. Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie es bei nächster Gelegenheit erfahren. Besten Dank, Ralf!»

«Na, Sie haben’s aber eilig.»

«Ich muss schnell jemanden anrufen, es ist sozusagen ein Notfall. Schlafen Sie ruhig weiter!»

Carolin beendete das Gespräch und sah Jürgen Traveen triumphierend an. Ihre letzten Zweifel waren beseitigt. Inzwischen konnte sie sein Gesicht auch ohne Taschenlampe erkennen, denn die Morgendämmerung kroch über den Horizont, und bleiches Zwielicht lag über dem Duwengrund.

«Und?», fragte Traveen.

«Böttcher wurde schon einmal angezeigt», erklärte Carolin, «und zwar wegen unerlaubter Beförderung gefährlicher Abfälle ins Ausland.» Erneut rief sie ihr Adressbuch auf und suchte nach der Handynummer, die der Leiter der Rettungseinheit ihr gegeben hatte. «Ich rufe jetzt Schultze an.»

«Und was wollen Sie ihm sagen? Dass er wegen ein paar wirrer Verdachtsmomente vorsichtshalber mit einem Geigerzähler herkommen soll?»

«Genau das», bestätigte Carolin. «Am besten gleich mit einer Spezialeinheit in Schutzanzügen.»

Sie war eben dabei, die Nummer einzutippen, als ihre Aufmerksamkeit von einer Bewegung abgelenkt wurde, etwa zwanzig Meter entfernt im Gebüsch an der Felswand. Zuerst glaubte sie, es sei irgendein Tier, das der Sonnenaufgang aus seinem Bau gelockt hatte. Dann aber sah sie Kopf und Brust eines Menschen auftauchen.

«Mein Gott», flüsterte Traveen, der ihrem Blick gefolgt war.

«Das ist der Junge!», erkannte Carolin, die das Handy sinken ließ. «Justin Bringshaus. Justin, hier!»

Sie begann zu laufen, während Traveen hinterherschlurfte. Inzwischen war eine weitere Gestalt aufgetaucht, die eines Mädchens, soweit Carolin erkennen konnte. Die beiden jungen Leute halfen einem Mann ins Freie, der auf einem Bein hinkte.

«Justin! Sind Sie das?»

Alle drei wandten sich erstaunt um, als Carolin mit vor Aufregung gerötetem Gesicht auf sie zueilte. Ihre Frage beantwortete sich von selbst. Aus der Nähe erkannte sie zweifelsfrei den jungen Mann, mit dem sie vor dem Tor des Bergwerks gesprochen hatte, außerdem ein hübsches Mädchen, dessen rote Locken unter einem Grubenhelm hervorquollen, und schließlich Leon Berner, Tias Partner, der eine Lampe trug. Alle drei sahen zum Erbarmen aus, bleich und erschöpft, mit verschmutzter und teilweise zerrissener Kleidung. Hinter ihnen am Fuß der Felswand, umgeben von dichtem Gebüsch, erkannte Carolin eine halbkreisförmige Öffnung im Fels, nah am Boden und kaum einen halben Meter hoch. Das also war der Ausstieg. Kein Wunder, dass sie im Dunkeln mindestens fünfmal daran vorbeigegangen waren, ohne ihn zu bemerken.

Ihr Blick traf den des Mädchens, und ehrliche Erleichterung ließ ihr Herz schneller schlagen. Das musste die Tochter der armen Frau Novak sein – gerettet und unversehrt, wie es schien.

«Gott sei Dank», seufzte Justin, der Carolin wiedererkannte, und ließ sich kraftlos zu Boden sinken. «Sind die Rettungsleute auch hier?»

«Ich rufe sie sofort», sagte Carolin und hob ihr Handy.

«Warten Sie!», bat Leon, der sich gegen einen Baum lehnte, um sein verletztes Bein zu entlasten. «Lassen Sie mich mit ihnen sprechen! Es gibt ein Sicherheitsproblem, von dem noch niemand etwas weiß.»

«Leon!», rief Jürgen Traveen, der eben herangekeucht kam.

Leons Augen weiteten sich erstaunt. «Herr Traveen! Sie hier?»

«Wo ist meine Kleine?»

«Tia ist noch in der Höhle – aber keine Sorge, es geht ihr gut. Bringshaus und Böttcher sind uns entgegengekommen. Dabei hat Bringshaus sich verletzt, und Tia wollte bei ihm bleiben.»

«Was für ein Sicherheitsproblem?», fragte Justin, der mit gerunzelter Stirn von einem zum anderen blickte. «Wovon sprechen Sie, Leon?»

Leon seufzte schwer. «Tia wollte Sie beide nicht beunruhigen, aber …»

«Es hat nicht zufällig etwas mit Strahlung zu tun?», erriet Carolin.

«Was?», flüsterte Dana entgeistert.

Ich hatte recht, dachte Carolin, noch bevor Leon nickte.

«In dieser Höhle lagern illegal verschleppte Abfälle, nicht wahr?», sagte sie. «Und dieser Böttcher hat etwas damit zu tun, darauf würde ich ein Jahresgehalt wetten. Ich habe recherchiert. Er war schon einmal in eine ähnliche Affäre verwickelt …» Sie unterbrach sich, plötzlich alarmiert. «Und Tia ist allein mit ihm dort unten geblieben?»

Alle schwiegen einen Moment. Justin und Leon wirkten verwirrt, Dana entsetzt.

«Augenblick mal», schaltete Jürgen Traveen sich ein. «Wollen Sie etwa sagen, dass der Kerl meiner Kleinen etwas antun könnte?»

«Unmöglich.» Leon schüttelte den Kopf. «Herr Böttcher ist ein Freund von Justins Vater – nicht wahr, Justin?»

Justin jedoch starrte ausdruckslos vor sich hin.

«Stronzo», sagte er. «Mein Vater konnte kaum mehr sprechen – aber er sah zu Böttcher auf und flüsterte: ‹Stronzo.›»

«Was bedeutet das?»

«Es bedeutet: Arschloch. Scheißkerl. Betrüger.»

Einen Augenblick herrschte beklommenes Schweigen.

Carolin war die Erste, die die Sprache wiederfand. «Wir müssen etwas unternehmen! Tia ist dort drinnen womöglich in Gefahr.»

«Ich kann das einfach nicht glauben!», murmelte Leon. «Also gut, ich werde zurückgehen. Nur für alle Fälle.»

«Das schaffen Sie nicht mehr mit Ihrem Bein!», sagte Justin und mühte sich schwankend auf die Füße.

«Sie erst recht nicht!», erklärte Leon brüsk. «Sie haben eine schwere Infektion, Justin. Bleiben Sie sitzen und warten Sie auf den Notarzt.»

«Aber ich komme mit!», rief Dana plötzlich. «Tia hat uns gerettet, und ich will helfen, sie zu beschützen!»

«Seien Sie vernünftig!», sagte Leon scharf. «Sie können nicht mitkommen. Kümmern Sie sich um Justin!»

«Ich werde nicht hier herumsitzen, wenn Tia Gefahr droht!», erklärte Dana mit ungewöhnlicher Entschlossenheit.

«Wir wissen überhaupt nicht, ob eine Gefahr besteht! Es kann ebenso gut sein, dass dieser Böttcher …»

«Aber wenn es nun stimmt?» Danas Augen flammten vor Erregung. «Vielleicht wollte er deshalb unbedingt bei Tia bleiben, während sie sich um Justins Vater kümmert! Vielleicht will er …» Sie erbleichte, offenbar zu Tode erschrocken über einen Gedanken, den sie nicht auszusprechen wagte.

«Dana, jetzt hören Sie mir zu», setzte Leon an – doch er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Unvermutet stürzte Dana vorwärts, riss ihm die Lampe aus der Hand und ließ sich mit den Beinen voran in die Schachtöffnung zurückgleiten.

Ein allgemeiner Aufschrei ging durch die Gruppe. Leon versuchte das Mädchen einzuholen, trat jedoch unglücklich mit dem verletzten Bein auf und knickte um. Carolin gelang es, ihn beim Arm zu packen, bevor er mit dem Kopf gegen die Felswand schlug.

«Dana!» Justin eilte zur Schachtöffnung, streckte den Kopf hinein und schrie aus Leibeskräften. «Dana, komm zurück!»

«Herr im Himmel», keuchte Jürgen Traveen und ließ sich gegen einen Baum sinken, eine Hand auf sein Herz gelegt.

«Bleiben Sie hier!», schrie Leon, als Justin sich anschickte, in den Schacht zu klettern. «Wir haben doch nicht einmal Licht! Dana hat unsere einzige Lampe!»

Justin wandte sich zu Carolin um, das Gesicht totenbleich. «Ihre Taschenlampe!»

Carolin blickte auf die Lampe in ihrer Hand. Sie war noch immer eingeschaltet, glomm jedoch nur noch wie ein Kerzendocht, der jeden Moment im Wachs ertrinken konnte.

«Die Batterie ist leer.»

«Das darf doch nicht wahr sein», flüsterte Leon kopfschüttelnd.