••• 23 : 25 ••• BRINGSHAUS •••

Als Jörn Bringshaus wieder zu sich kam, brauchte er einige Sekunden, um zu begreifen, wo er sich befand. Seine erste Empfindung war ein dumpfer Schmerz auf Höhe seines linken Mundwinkels. Stöhnend rieb er die geschwollene Stelle, die sich als geplatzte Lippe erwies, setzte sich auf und blinzelte umher. Im Halbdunkel der spärlich erleuchteten Kammer sah er Hartmut Böttcher neben sich stehen, lässig an die Wand gelehnt, das Funkgerät in der Hand. Auf sein Stöhnen hin drehte Böttcher sich um und warf einen misstrauischen Blick zu ihm herab.

Der Kerl hat mich niedergeschlagen, erinnerte sich Bringshaus fassungslos. Er hat mich doch tatsächlich 

«Herr Böttcher?», drang Tias Stimme aus dem Funkgerät. «Wir haben noch ein Problem – ein ziemlich ernstes, fürchte ich.»

«Was ist es denn diesmal?», fragte Böttcher, ohne seinen Freund aus den Augen zu lassen.

«Die Fässer, die hier überall herumliegen …»

«Ja?»

«Sie sind offenbar mit Erde gefüllt. Auf einem davon habe ich einen Aufkleber gefunden. Einen dreieckigen Aufkleber.»

«Und was bedeutet das?»

«Es ist eindeutig ein Kennzeichen nach DIN achtundvierzig, eine Warnung vor gefährlichen Stoffen. Was auch immer das für Fässer sind: Ihr Inhalt ist vermutlich giftig.»

«Hm. Glauben Sie wirklich?», fragte Böttcher skeptisch. «Herr Bringshaus sagte doch, dass die Bergleute früher ihren Aushub in die Höhle geworfen haben. Vielleicht hat man die Erde einfach in irgendwelche Fässer gefüllt, die nicht mehr gebraucht wurden.»

«Glaube ich nicht», beharrte Tia. «Diese Kennzeichen wurden erst nach der Schließung des Bergwerks eingeführt. Die Fässer müssen also in neuerer Zeit hierhergelangt sein, ebenso wie die beiden Leichen.»

Bringshaus gelang es, sich aufzurichten, wobei seine Beine vor Schwäche zitterten. Entsetzt starrte er Böttcher an.

Die beiden Leichen?, echoten die Worte in seinem Kopf. Was für Leichen?

«Es könnte sich um kontaminierten Aushub handeln.» Tias Stimme schwankte ein wenig. «Schwermetalle, Pestizide, Dioxin oder Ähnliches.»

«Immer mit der Ruhe!», riet Böttcher. «Sie haben doch einen phänomenalen Geruchssinn. Können Sie irgendetwas Verdächtiges riechen?»

«Nein, und das beunruhigt mich am meisten. Geruchlose Gifte sind oft die gefährlichsten.»

«Aber Sie und Dana sind doch schon lange dort unten und haben keinerlei Vergiftungserscheinungen!»

«Bisher nicht, aber die Gefahr könnte in einer Langzeitwirkung bestehen. Womöglich ist das Zeug krebserregend. Mein Gott, und ich habe es angefasst!» Ein Plätschern verriet, dass Tia ihre Finger in einer Wasserpfütze säuberte.

Was für Leichen?, formte Bringshaus mit den Lippen. Böttchers Gesicht blieb unbewegt, doch er hob warnend die Hand.

«Was werden Sie jetzt tun?», fragte er Tia mit neutraler Stimme.

«Ich nehme eine Probe», kam die Antwort aus der Tiefe. «Vielleicht ist sie uns später von Nutzen, um das Gift zu bestimmen und zu neutralisieren. Und dann werde ich die anderen holen, denn wir müssen so schnell wie möglich raus aus dieser Höhle. Es gibt hier eine Menge beschädigter Fässer. Was auch immer sie enthalten – vermutlich atmen wir es seit Stunden ein, haben Partikel davon auf der Haut, in unseren Haaren, an unserer Kleidung. Unsere einzige Chance ist jetzt, dass die Öffnung in der Wand uns in die Freiheit führt.»

«Was für Leichen, Hartmut?», flüsterte Bringshaus energisch. Womöglich riskierte er eine zweite Maulschelle, doch er war entschlossen, seinen Geschäftsfreund zur Rede zu stellen.

Dies schien auch Böttcher zu begreifen.

«Ich bin gleich wieder dran», versprach er und schaltete das Funkgerät ab.

Einen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber, Böttcher mit verschlossener Miene, Bringshaus entsetzt.

«Was hat das zu bedeuten, Hartmut? Warum liegen dort unten Leichen?»

Böttcher schnaubte abschätzig. «Woher soll ich das wissen? Vielleicht sind irgendwelche Hobbyforscher ins Bergwerk eingedrungen und wollten sich da unten umsehen.»

«Kein Mensch hat diese Anlage betreten, seit ich den Schlüssel verwahre!»

«Dann muss es eben vorher passiert sein. Du sagtest doch: Diese Höhle ist eine Müllhalde. Weiß der Himmel, was dort alles seit Jahrzehnten vor sich hin gammelt. Die Traveen hat ein Geldstück gefunden, das zwanzig Jahre alt ist. Ich wette mit dir, dass irgendwelche verrückten Amateure sich in die Höhle abgeseilt haben und nachher nicht mehr herauskamen. Tragisch, aber so etwas passiert eben.»

Bringshaus musterte Böttcher misstrauisch. Doch die Erklärung klang plausibel – und angesichts aller anderen Probleme, die sie derzeit zu lösen hatten, wollte er nicht genauer darüber nachdenken.

«Was ist mit den Fässern?»

Böttcher machte eine wegwerfende Handbewegung.

«Die Frau ist blind, Jörn, und da unten ist kein Funken Licht. Ja, sie hat etwas ertastet, aber sie kann sich doch irren! Das wird sie selbst einsehen, wenn sie wieder draußen ist.»

Bringshaus schwieg und legte eine Hand auf sein heftig klopfendes Herz.

«Komm schon, Jörn!» Böttcher klopfte ihm auf die Schulter. «Das wird schon! Die Traveen behauptet, dass sie einen Ausgang aus der Höhle gefunden hat. Wenn es ihr gelingt, deinen Sohn und seine Freundin irgendwie nach draußen zu schleusen, ist die Sache erledigt.»

«Hoffentlich», murmelte Bringshaus düster. Für einen Moment ließ ihn die Vorstellung schaudern, an einem Krankenhausbett zu sitzen, auf dem Justin lag – mit aschfahlem Gesicht, blutleeren Lippen und Schläuchen in der Nase. Es ist alles meine Schuld, hörte er sich selbst flüstern, während er die Hand seines Sohnes hielt, die kühl und schlaff war wie ein mit Wasser gefüllter Handschuh. Meine Schuld.

Böttcher beobachtete ihn aufmerksam, schien aber vorläufig überzeugt, dass er keine Dummheiten machen würde, und schaltete das Funkgerät wieder ein.

«Frau Traveen? Wie ist die Lage?»