Jörn Bringshaus war weit fort. Sein Geist hatte sich tief ins Innere seines ausgekühlten Körpers zurückgezogen. Es war, als triebe er unter Wasser, seltsam schwerelos, zwar nahe der Oberfläche, doch von der Welt darüber getrennt. Nur gelegentlich durchstieß er eine unsichtbare Membran, als sei sein Gesicht für Sekunden aus dem Wasser aufgetaucht. Dann glaubte er Geräusche zu hören, Schritte, Stimmen in der Dunkelheit. Wenn er wieder abtauchte, zerflossen diese Eindrücke und flochten sich als undeutliche Schemen durch seine Träume.
Bringshaus hörte die Stimme seines alten Schulfreundes. Er saß wieder mit Böttcher in jener Kneipe zusammen, vor nahezu zehn Jahren, kurz nachdem Karin ihn verlassen hatte. Es ging ihm schlecht – so schlecht wie noch nie. Karin hatte ihre Drohung wahrgemacht, und er war nicht der Mann gewesen, der sich mit gerecktem Kinn in die Tür stellte und den Weg versperrte. Furcht potenzierte seine Trauer, besonders im Zusammenhang mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung über das Sorgerecht. Bringshaus hatte nicht geahnt, wie viel seine Frau über die krummen Touren wusste, zu denen Böttcher ihn verleitet hatte. Was, wenn sie ihr Wissen offenlegte, um nachzuweisen, dass er kein guter Vater für Justin war? Sein ohnehin wackliges, gerade erst im Aufbau befindliches Geschäft würde zusammenbrechen wie ein Kartenhaus.
«Ich weiß schon, warum ich nie geheiratet habe», hatte Böttcher gesagt. «Mit Frauen hat man nur Ärger. Du solltest froh sein, dass sie weg ist. Lass uns über etwas anderes reden – zum Beispiel über den Deal mit Wildhauer. Die Sache ist so gut wie perfekt. Spielst du mit?»
«Ich weiß nicht», sagte Bringshaus und starrte in sein leeres Glas.
«Komm schon, du wirst das Geld brauchen!», meinte Böttcher bündig. «Was ist, wenn Karin Unterhalt verlangt?»
«Ihr neuer Lover ist ein erfolgreicher Architekt. Geld dürfte ihr geringstes Problem sein.»
«Aber du wirst einen Anwalt für die Scheidung brauchen, und Anwälte sind teuer. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.»
Das stimmte, denn erst vor kurzem hatte sich Böttcher – wie Bringshaus sehr genau wusste – gegen eine Anklage zur Wehr setzen müssen. Letztlich war sie fallen gelassen worden, und zwar auf Initiative desselben Staatssekretärs Wildhauer, der ihm daraufhin ein heikles, aber besonders lukratives Geschäft angeboten hatte. Bringshaus war eingeweiht und gerade damit beschäftigt, sich unter dem Druck der Umstände zum Mitmachen durchzuringen. Eine halbe Million würde er bekommen, das hatte Böttcher ihm versprochen. Wie viel Böttcher für sich kassierte, ahnte Bringshaus nicht, doch es war ihm auch gleichgültig, denn er selbst brauchte nicht mehr zu tun, als einen Schlüssel auszuhändigen und den Mund zu halten.
Er wusste seit langem, dass Böttchers Spedition, deren LKWs quer durch Europa tourten, neben offiziellen Aufträgen auch illegale Transporte abwickelte. Auftraggeber fanden sich zur Genüge: Meist handelte es sich um Unternehmen, die giftige Abfälle zu beseitigen hatten, aber die Kosten für eine vorschriftsmäßige Entsorgung scheuten. Böttchers Aufgabe bestand darin, den Müll unter falscher Deklaration ins Ausland zu bringen, wobei er einen erheblichen Teil des Risikos trug und entsprechend großzügige Honorare einstrich. Diesmal freilich spielte Böttcher ein doppeltes Spiel, denn er hatte nicht vor, den Wunsch seines Auftraggebers zu erfüllen und die ungewöhnlich heikle Fracht, wie ausgemacht, über die tschechische Grenze zu schaffen. Der Transport, der selbst für seine Tarnungskünste ein erhebliches Risiko bedeutet hätte, würde niemals stattfinden. Stattdessen sollten die siebzig Fässer mit kontaminierter Erde in dem alten Bergwerk verschwinden, zu dem nur Bringshaus Zugang hatte. Dieser brauchte nichts weiter zu tun, als seinem Freund den Schlüssel auszuhändigen, ihm den Eingang zum Müllschacht zu zeigen und den Mund zu halten. Von seiner Beteiligung würde niemand etwas erfahren, das hatte Böttcher ihm versprochen.
«Okay», sagte Bringshaus schließlich und zwang sich, seinem alten Schulfreund gerade in die Augen zu sehen. «Ich bin dabei.»
Fünfhunderttausend Euro … Das Geld würde sämtliche Kredite, die er für die Einrichtung seines Ingenieurbüros aufgenommen hatte, mit einem Schlag decken. Auch das Haus, das er andernfalls früher oder später verkaufen musste, würde er behalten können. Den Rest des Geldes würde er keinesfalls verschleudern, denn auf Luxus legte er keinen Wert. Er würde es in eine möglichst sichere Anlage investieren – für Justins spätere Ausbildung. Dass der Junge trotz aller Verleumdungen seiner Mutter zu ihm hielt, rührte Bringshaus tief. Justin war alles, was ihm noch geblieben war.
Der Gedanke an seinen Sohn holte ihn in die Realität zurück. Widerstrebend durchstieß er die unsichtbare Membran, die ihn bedeckte, atmete, blinzelte in der Dunkelheit, vernahm undeutliche Geräusche.
Wo ist mein Sohn?
Vage erinnerte er sich, dass seine Umgebung das Innere einer Höhle war – kein tiefes Wasser, kein sternenloser Weltraum. Vor wenigen Minuten noch hatte er Justins Stimme gehört. Der Junge war gerettet worden – oder nicht? Hatte nicht die Höhlenforscherin ihn mitsamt seiner Freundin in Sicherheit gebracht und danach auch ihn, Bringshaus, aus der Schlammgrube gezogen? Oder waren das nur letzte Visionen eines Sterbenden gewesen, ein kläglicher Versuch seines Gehirns, den nahen Tod durch eine tröstliche Illusion zu versüßen?
Schritte hasteten an ihm vorbei. Diesmal hörte er es deutlich. Dann eine Stimme, weiter entfernt, doch unverkennbar drohend: «Es wird hell! Bald kann ich dich sehen … komm lieber gleich heraus!»
Böttcher. Bringshaus erkannte seine Stimme – und verfluchte den Tag, an dem er zum ersten Mal auf sie gehört hatte. Seine Wahrnehmungen wurden deutlicher, die Erinnerungslücken schlossen sich. Stundenlang musste er in der Schlammgrube festgesteckt haben, halb versunken in der schwarzen Brühe, zwischen verrotteten Kadavern. Und was seinen Komplizen betraf, so hatte dieser keinen Finger zu seiner Rettung gerührt. Stattdessen hatte er seelenruhig neben der Grube gesessen – und auf Tia gewartet.
Tia … nun erinnerte sich Bringshaus, auch ihre Stimme gehört zu haben, erst vor wenigen Minuten. Sie war noch immer im Raum, ebenso wie Böttcher. Doch was ging vor sich?
Er will seine Mitwisser beseitigen, dachte Bringshaus. Diese Frau … und mich.
Mit plötzlicher Entschlossenheit kämpfte er gegen die Wirkung des Giftes an, das seine Glieder lähmte und ihn in die trügerische Ruhe des Schlafs zurückziehen wollte. Seine Finger regten sich mühsam, er tastete, spürte kalten Steinboden, den Rand der Grube. Angestrengt starrte er ins Dunkel, auf der Suche nach irgendeinem Fixpunkt, an dem sich sein schwankendes Bewusstsein festigen konnte.
Und er sah Licht – nicht den grellen Schein einer Lampe, auch nicht das Blinken eines Sterns, sondern einen fahlen Schimmer in der Finsternis. Draußen graute der Morgen, und sein schwacher Abglanz fiel durch die Schachtöffnung wie eine senkrechte Säule in die Höhle. Wieder war das Geräusch hastender Schritte zu hören.
«Ich sehe dich!», schrie Böttcher triumphierend.
Es gelang Bringshaus, den Kopf zur Seite zu drehen – eben rechtzeitig, um einen Schemen aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen. Die Erscheinung verdichtete sich zu einer schlanken Gestalt mit wehendem Haar, die auf die Grube zulief. Ein rasches, rhythmisch schnalzendes Geräusch ging von ihr aus. Es musste Tia sein.
«Jetzt!», schrie sie.
Grelles Licht flammte auf, irgendwo hinter Bringshaus’ Rücken. Geblendet kniff er die Augen zusammen, während die Gestalt nah an ihm vorbeilief – einer ihrer Füße setzte knapp neben seinem angewinkelten Arm auf – und in hohem Bogen über die Grube hinwegsprang. Bringshaus blinzelte und sah eine zweite Gestalt auftauchen, der ersten auf den Fersen, in der rechten Hand einen schweren Stein, mit der linken die Augen beschattend. Hartmut Böttcher schnaufte wütend, denn das grelle Licht war genau auf sein Gesicht gerichtet.
Das Geschehen schien sich auf seltsame Weise zu verlangsamen. Bringshaus’ Geist, noch vor Minuten in wirren Träumen gefangen, erfasste binnen eines Augenblicks die Situation.
Er kann die Grube nicht sehen, begriff er. Er ist geblendet!
Wie in Zeitlupe sah er Böttcher näher kommen, spürte förmlich die Erschütterungen des Bodens, die von seinen Schritten ausgingen. Noch drei Schritte, noch zwei – nun war er unmittelbar neben Bringshaus. Beim nächsten Schritt würde er den Rand der Grube erreichen. Der schwarze Schnürschuh setzte auf, mit der Ferse noch auf festem Boden, mit dem vorderen Teil der Sohle über dem Abgrund. Böttcher stieß ein erschrockenes Keuchen aus, schwankte auf der Stelle und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten.
Bringshaus handelte instinktiv. Ohne nachzudenken, streckte er den Arm aus, ballte die Hand zur Faust und schlug mit aller Kraft, die er noch hatte, in die Kniekehle des Mannes. Böttchers Beine knickten ein, und mit einem gellenden Schrei fiel er vornüber und stürzte in die Tiefe. Eine Fontäne aus Schlamm und Wasser spritzte aus der Grube und sprenkelte Bringshaus’ Gesicht.
So, dachte er befriedigt, während er sich erschöpft zurücksinken ließ. Jetzt kannst du da unten buchstäblich verschimmeln – alter Freund.
Die Anstrengung hatte ihn seine letzte Kraft gekostet, und er fühlte, wie sich sein Bewusstsein wieder eintrübte. Dennoch nahm er wahr, wie sich eilige Schritte näherten. Das Licht der Lampe tanzte auf ihn zu, und jemand ließ sich neben ihm auf die Knie nieder.
«Herr Bringshaus? Geht es Ihnen gut?»
Er erkannte das Gesicht Danas, der Freundin seines Sohnes. Hinter ihr tauchte Tia Traveen aus dem Schatten.
«Hilfe!», gellte es aus der Tiefe der Grube. «Holt mich hier raus!»
Wasser platschte. Offenbar unternahm Böttcher verzweifelte Anstrengungen, seinem Gefängnis zu entkommen.
Vergiss es!, dachte Bringshaus müde. Man kann nicht herausklettern. Ich habe es stundenlang vergeblich versucht.
«Lasst mir das Seil runter!», schrie Böttcher.
«Tut mir leid», sagte Tia, die am Rand der Grube stehen geblieben war, «aber das halte ich für keine gute Idee. Im Übrigen hätten wir beiden Frauen ohnehin nicht die Kraft, Sie herauszuziehen. Sie werden warten müssen, bis die Rettungskräfte hier sind.»
«Verdammtes Flittchen!», fluchte Böttcher. «Willst du mich hier unten krepieren lassen?»
«Es kann sich höchstens um eine Viertelstunde handeln», antwortete Tia ruhig. «Herr Bringshaus war viel länger dort unten und hat es auch überlebt. Wenn Sie Glück haben, wird der Pilz allenfalls Ihre Fußknöchel annagen.»
Böttchers Antwort erschöpfte sich in einem Wutgeheul.
«Aber Sie könnten die Zeit dazu nutzen, ein Geständnis abzulegen», schlug Tia vor. «Zum Beispiel könnten Sie Dana erklären, warum sie stundenlang zwischen Fässern mit radioaktivem Abfall hocken musste.»
«Du kannst mich mal!», zischte Böttcher aus der Tiefe.
Danas Augen weiteten sich entsetzt. «Ist es also wirklich wahr?»
Bringshaus seufzte. «Ich werde gestehen», brachte er schwach hervor. «Ob es Hartmut nun passt oder nicht.»
Tia trat an seine Seite und ließ sich neben Dana nieder. Ihre Brauen zogen sich zusammen, während ihre blinden Augen forschend über sein Gesicht flackerten. «Sie? Was haben Sie damit zu tun?»
«Eine Menge», sagte Bringshaus. «Ich werde Ihnen alles erklären.»
Er suchte den Blick Danas, die ihn fassungslos anstarrte. Obwohl sein Körper sich immer noch betäubt anfühlte, spürte er einen schmerzhaften Druck auf der Brust. Er würde Dana eröffnen müssen, dass sie viele Stunden in einem illegalen Giftmülllager verbracht hatte – mit unabsehbaren Folgen für Leib und Leben.
Bringshaus zögerte, denn er fürchtete die Veränderung, die in Danas Gesicht vor sich gehen würde. Er kannte das Mädchen seit langem, hatte sie stets gemocht und sich Mühe gegeben, ihre Schüchternheit durch einen saloppen, beinahe kameradschaftlichen Umgangston zu zerstreuen. Justin hatte sie oft mit nach Hause gebracht, und einmal hatten sie sogar zu dritt am Frühstückstisch gesessen. Das genaue Gegenteil von Justins Mutter, hatte Bringshaus oft gedacht: scheu, zart, sensibel.
Mit einiger Mühe brachte er es fertig, den Arm zu heben und Danas Hand zu ergreifen. Sie wehrte sich nicht, obgleich seine Finger schwarz vom Schlamm waren.
«Armes Mädchen», flüsterte Bringshaus. «Glaub mir: Ich habe das alles nicht gewollt …»
Er fühlte, dass ihm die Tränen kamen.