••• 05 : 20 ••• JUSTIN •••

Justin bemerkte, dass er zitterte. Bisher hatten sich seine Glieder schwer und taub angefühlt, nun aber ergriff ihn eine nervöse Erregung, ließ seinen Puls fliegen und seine Kehle eng werden.

«Deinem Vater wird schon nichts passieren», tröstete Dana, die ihn am Arm führte.

«Wie kannst du da so sicher sein?», gab Justin leise zurück. Nach Böttchers Beschreibung malte er sich bereits die schlimmsten Bilder aus.

«Wir haben heute Nacht alle einen Schutzengel», sagte Dana. «Ist dir das noch nicht aufgefallen? Wo ist sie denn überhaupt?»

Sie blickte über die Schulter zurück.

«Tia? Leon?»

«Wir kommen», hallte Leons Stimme aus dem dunklen Gang herauf.

«Hier entlang!», sagte Böttcher, hielt die Lampe hoch und half ihnen über eine Felsstufe hinweg. Der Tunnel öffnete sich zu einem weitläufigen Hohlraum, der traubenförmig gegliedert, stark zerklüftet und kreuz und quer mit bizarren Säulen durchsetzt war. Die Lampe warf geisternde Schlagschatten über die labyrinthische Anlage. Böttcher hielt einen Moment inne, um sich zu orientieren. Dann eilte er zielstrebig auf einen bestimmten Punkt in der Mitte des Raums zu.

Dana schlug erschrocken die Hände vor den Mund, als sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Auch Justin fühlte, wie sein Magen sich verkrampfte. Im Boden klaffte eine tiefe Grube, aus der ein widerwärtiger Geruch aufstieg. Jörn Bringshaus, bis zum Bauch in zähem Schlamm steckend, war gegen einen Vorsprung in der Felswand gesunken und regte sich nicht. Er bot einen furchtbaren Anblick: Der sichtbare Teil seines Körpers war vollständig von einem spinnwebartigen Geflecht feiner Fäden überzogen. Ganze Büschel tauchten aus dem Schlamm hervor, wucherten an seinem Rumpf hinauf und verzweigten sich über Arme, Schultern und Gesicht.

«Papa!» Justin ließ sich am Rand der Grube nieder. «Papa, kannst du mich hören?»

Jörn Bringshaus regte sich schwach. Seine geschlossenen Augenlider flatterten, doch er schien nicht in der Lage, gezielt zu reagieren. Seine rechte Hand, die eine halb im Schlamm versunkene Stablampe umklammerte, zuckte unkontrolliert.

«Es ist der Pilz», erkannte Leon, der eben mit Tia dazutrat. «Er hat ihn vollkommen überwachsen.»

«Das muss das obere Ende desselben Schachts sein, den wir unten umgangen haben.» Tia befühlte die Wände der Grube und wandte schließlich das Gesicht nach oben, wo sich ein Loch in der Decke zum Nachthimmel öffnete. «Deshalb also konnte ich keinen Luftzug spüren: Wahrscheinlich tropft hier bei jedem Regen Schlamm herab und hat mit der Zeit einen festen Pfropfen gebildet, der den Schacht verschließt.»

«Aber der Pilz konnte hindurchwachsen?»

«Er war vermutlich schon vorher da und hat sich von eingeschwemmter organischer Substanz ernährt. – Herr Bringshaus? Können Sie mich hören?»

«Er regt sich kaum.»

«Das ist das Pilzgift.» Tia nickte. «Also gut, holen wir ihn heraus. Bindet das Seil an einer der Säulen fest! Ich werde hinunterklettern und ihm den Brustgurt anlegen. Dann können wir ihn hochziehen.»

Nun, da sie Licht hatten und viele helfende Hände zur Verfügung standen, ging alles sehr schnell. Leon schlang das Seil um eine Säule und warf das Ende in die Grube. Tia kletterte mit der üblichen Behändigkeit hinab, ertastete Bringshaus’ verdrehten Körper, hob seine Arme aus dem Schlamm und streifte ihm den Gurt über.

«Können Sie versuchen, die Lampe zu retten?», rief Böttcher zu ihr hinab.

Tia erwischte die Stablampe, die aus der schlaffen Hand des Bewusstlosen gefallen war und im Schlamm zu versinken drohte. Dann kletterte sie wieder herauf und wischte sich Spritzer der ekelhaften Substanz von Armen und Beinen.

«Und los geht’s!»

Sie zogen mit vereinten Kräften. Justin war froh, dass er endlich mit anpacken konnte, und zu fünft gelang es ihnen ohne Schwierigkeiten, den Körper seines Vaters zum Rand der Grube zu ziehen, wo Böttcher ihn packte und auf ebenen Boden hievte. Tia ließ sich sofort neben dem Verunglückten nieder, um ihn zu untersuchen.

«Ist es ernst?», fragte Justin beklommen.

«Er ist unterkühlt, und der Pilz hat seine Haut an mehreren Stellen durchdrungen», sagte Tia. «Wahrscheinlich hat er eine ganze Menge von dem Gift im Körper, das auch Ihnen zu schaffen macht, Justin. Zum Glück wissen wir inzwischen, dass es zwar betäubend, aber nicht lebensbedrohlich wirkt. – Wie lange war er in dieser Grube?», wandte sie sich an Böttcher.

«Na ja … eine halbe Stunde vielleicht. Allein und ohne Seil konnte ich ihn nicht herausholen, aber ich wollte ihn auch nicht allein lassen.»

«Sicher nicht länger?» Tia befühlte einige Pilzranken von der Dicke eines Schnürsenkels, die sich um Bringshaus’ Fußgelenke gewickelt hatten. «Ich weiß, dass dieser Pilz schnell wächst, aber nach der Ausbreitung des Myzels hätte ich vermutet, dass er stundenlang in diesem Schlammloch festsaß.»

«Jedenfalls sollte er so schnell wie möglich ärztlich versorgt werden», sagte Leon.

«Ja – und das gilt für euch alle.» Tia blickte auf. «Geht zum Ausgang und ruft die Rettungskräfte! Sobald ihr im Freien seid, wird die Funkverbindung wieder funktionieren.» Sie reichte Leon ihr Headset.

«Und was wird aus meinem Vater?», fragte Justin betroffen. Die Vorstellung, sich davonzumachen, während sein Vater womöglich mit dem Tod kämpfte, rief augenblicklich seinen Widerstand wach.

«Ich werde hier bleiben, damit ich ihn notfalls beatmen kann, falls sein Kreislauf kollabiert», versprach Tia.

«Ich bleibe auch bei ihm», bot Böttcher an. «Der Ausgang ist leicht zu finden, ihr müsst nur in dieser Richtung geradeaus gehen. Die Höhle mündet in einen ausgebauten Bergwerksstollen am Duwengrund.»

«Aber ich lasse meinen Vater nicht allein!», widersprach Justin.

«Seien Sie vernünftig, Justin!», sagte Tia scharf. «Sie sind unterkühlt, geschwächt und haben eine Pilzinfektion, genau wie Dana.»

Justin sah ein, dass weitere Diskussionen zwecklos waren. Er würde sich darauf verlassen müssen, dass Böttcher und Tia für seinen Vater sorgten, bis die Rettungshelfer mit einer Trage vor Ort waren. Immerhin beruhigte es ihn, zu sehen, wie Tia den Bewusstlosen mit geübtem Griff in die stabile Seitenlage brachte.

«Sie können die Lampe mitnehmen», sagte Böttcher und reichte Leon seine eigene, während er Bringshaus’ schlammbeschmierte Lampe an seiner Hose abwischte. «Wir haben ja noch diese hier.»

«Komm, Justin!», sagte Dana und ergriff seine Hand.

Justin wollte ihr eben folgen, als die Augenlider seines Vaters flatterten. Jörn Bringshaus schien zu sich zu kommen. Seine Lippen bebten, als versuchte er etwas zu sagen, während sein Blick ziellos umherglitt und sich schließlich am Gesicht seines Sohnes fing.

«Papa?» Justin beugte sich zu ihm herab.

Bringshaus’ Augen bewegten sich in Böttchers Richtung, dann wieder zurück.

«Stronzo», flüsterte er. Dann schlossen sich seine Lider, und er atmete keuchend aus.

Stronzo? Justin starrte in sein geschwärztes, von Fadenknäueln überzogenes Gesicht. «Papa! Was willst du mir sagen?»

«Er phantasiert vermutlich», meinte Tia, die seinen Puls fühlte. «Gehen Sie jetzt, Justin!»