Während Leon und Tia durch die Öffnung kletterten, hockte Dana in einer Ecke – auf den Fußspitzen, um mit keinem Teil ihres Körpers die Pilzranken am Boden zu berühren. Obwohl niemand sie sehen konnte, hatte sie das Gesicht in den Händen verborgen. Noch nie im Leben hatte sie sich derart beschämt und gedemütigt gefühlt. Selbst Justins Arm, den er tröstend um ihre Schulter gelegt hatte, hätte sie am liebsten weggestoßen.
Schon komisch, sagte eine kalte Stimme in ihrem Geist. Vor ein paar Stunden hättest du noch gedacht, es sei das Schlimmste auf der Welt, in einem stockdunklen Raum eingesperrt zu sein. Vor einer Stunde dachtest du, es sei das Allerschlimmste, in einer Felsspalte festzusitzen und nicht herauszukönnen, ohne dir die Schulter auszurenken. Und vor einer halben Stunde konntest du dir nichts Schrecklicheres ausmalen, als bei lebendigem Leib von einem Pilz gefressen zu werden, dessen Berührung sich anfühlt wie die einer Spinne mit Tausenden von Beinen. – Doch du hast dich geirrt: Der wahre Gipfel des Horrors besteht darin, mit deinem breiten Hintern in einem Durchgang stecken zu bleiben wie ein aufgedunsener Korken im Flaschenhals, weder vorwärts noch rückwärts zu können und zu hören, wie die anderen sich vergeblich mit dir abmühen.
Demütigung, fand Dana, war schlimmer als Todesangst. Sterben konnte man wenigstens in Würde, sofern die Umstände es zuließen – dick sein hingegen nicht. Andere hätten nicht verstanden, was in ihr vorging, nicht einmal Justin. Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn jeder Tag mit der gnadenlosen Anzeige der Waage begann, mit dem Anblick des eigenen Körpers im Spiegel, mit dem Hochzerren zu eng gewordener Hosen. Und bei alldem half es nicht im Geringsten, dass Dana sich schuldlos fühlte, weil sie schlicht die üppige Figur ihrer Mutter geerbt hatte – im Gegenteil: Der unkontrollierbare Eigenwille ihres Körpers vermittelte ihr ein Gefühl der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins an ein missgünstiges Schicksal. Die Zahl ihrer gescheiterten Diäten betrug mehrere Dutzend, und obwohl Justin sie ständig davon abzubringen versuchte, fing sie alle paar Wochen mit einer neuen an.
Während sie in einer Ecke der stockdunklen Höhle hockte, das Gesicht in den Händen, spürte Dana kaum noch die Kälte oder die Angst vor der Dunkelheit. Stattdessen musste sie an zahllose dumme Sprüche denken, die sich auf die Überlebenschancen einer dicken Frau in Notfallsituationen bezogen: Na ja, bei ’ner Havarie hat sie ihren Rettungsring gleich dabei, oder: Vielleicht kriegt sie den Sicherheitsgurt nicht zu, aber dafür hat sie die Knautschzone gleich eingebaut. Falls sie jemals lebend aus dieser Höhle entkam, dachte Dana, hatten die Spötter garantiert ein neues Lieblingsmotiv: Dana Novak wäre fast draufgegangen, weil sie nicht durch den Höhlenausgang passte! Der Gedanke trieb ihr Tränen der Scham in die Augen.
Lieber sterben, dachte sie. Dann erfährt es wenigstens keiner.
Jemand beugte sich zu ihr herab.
«Dana? Sind sie okay?», fragte Tia.
Dana nickte stumm. Dann erst erinnerte sie sich, dass niemand es sehen konnte, und überwand sich zu einem heiseren Ja.
«Dann kommen Sie! Wir dürfen nicht zu lange am selben Fleck bleiben.»
Während Justin ihr auf die Füße half, hatte Tia sich abgewandt und untersuchte die Nebenhöhle.
«Ellipsoider Hohlraum, ziemlich klein, etwa drei mal fünf Meter.»
«Woher kommt der Luftzug?», fragte Leon.
«Aus einer weiteren Öffnung, dort drüben. Die Pilzranken führen direkt dorthin, sie laufen wie Kabel am Boden und an den Wänden entlang. Es ist, wie ich gehofft hatte: Offenbar befinden wir uns am Anfang eines Gangsystems.»
«Und du glaubst wirklich, es könnte eine Verbindung zu einem anderen Teil des Bergwerks haben?»
«Wahrscheinlich sogar zur Erdoberfläche. Das würde den Luftaustausch erklären.»
«Aber wir befinden uns mehr als sechzig Meter unter dem Boden, und das Bergwerk liegt direkt über uns.»
«Nein, nicht direkt. Fühl mal die Wände! Das ist ordinäres Karbonat, also sind wir bereits außerhalb des Salzstocks. Es könnte sich um ein Karstsystem handeln, womöglich von großer Ausdehnung. Wenn es eine Verbindung zur Oberfläche gibt, ist sie vielleicht weit vom Bergwerk entfernt.»
«Wie weit?»
«Keine Ahnung. Nach der Stärke des Luftstroms zu urteilen, schätze ich einige hundert Meter. Allerdings sind im Umkreis der Stadt keine Höhlen bekannt, also ist der Ausstieg bisher wohl verborgen geblieben.»
«Und das könnte bedeuten, dass es sich nur um einen winzigen Spalt handelt», folgerte Leon resigniert.
«Sie meinen, am Ende kommen wir vielleicht gar nicht raus?», warf Justin ein.
«Es sei denn, jemand kommt uns von draußen zur Hilfe und erweitert den Ausstieg mit geeignetem Werkzeug.» Tia rückte ihr Headset zurecht. «Herr Böttcher?»
Es rauschte und knackte einen Moment, bis Böttcher sich meldete. Seine Stimme klang fern und undeutlich.
«Ich kann Sie nur noch schlecht verstehen. Wo sind Sie?»
«In einer Nebenhöhle. Wir haben ein natürliches Gangsystem entdeckt und werden versuchen, uns irgendwie durchzuschlagen. Die Verbindung wird allerdings schlechter werden, je weiter wir uns entfernen, weil die Funkwellen immer mehr Gestein durchdringen müssen. Gut möglich, dass der Kontakt ganz abbricht.»
«Kann ich irgendetwas tun?»
«Ja, das können Sie», bestätigte Tia, während sie in ihrem Rückengepäck kramte. «Dieses Höhlensystem hat höchstwahrscheinlich einen Ausstieg zur Oberfläche, aber er könnte zu klein sein, um durchquert zu werden. Wenn Sie ihn finden und uns entgegenkommen …»
«Haben Sie denn irgendeine Ahnung, wo das sein könnte?»
«Schätzungsweise drei- bis fünfhundert Meter vom Bergwerk entfernt, also vermutlich an der hinteren Bergflanke. Der Gang, der sich vor uns öffnet, führt ziemlich genau nach Nordwesten. Ich überprüfe es gerade.»
«Wie das?»
«Ich habe einen Blindenkompass – so ziemlich das einzige Ortungsgerät, das hier unten funktioniert. Tun Sie uns einen Gefallen: Schnappen Sie sich alle verfügbaren Helfer und suchen Sie das Gelände nordwestlich des Bergwerks ab! Prüfen Sie nach, ob es irgendwo eine Felsspalte gibt, zum Beispiel in einer Steilwand, oder eine trichterförmige Verwerfung im Gelände, eine sogenannte Doline. Fragen Sie Bringshaus, er wird wissen, was ich meine.»
«Okay, ich werde mein Möglichstes tun.»
«Danke, Herr Böttcher!» Tia wandte sich ihren Schützlingen zu. «Also gut – machen wir uns auf den Weg!»
«Wie orientieren wir uns?», fragte Leon. «Nach dem Kompass?»
«Nein. Ich denke, wir sollten den Pilzranken folgen.»
Diese Ankündigung durchbrach den Panzer der Teilnahmslosigkeit, mit dem Dana sich umgeben hatte.
«Was?», fuhr sie fassungslos auf. «Ich dachte, Sie bringen uns vor diesem Monster in Sicherheit!»
Tia wandte sich ihr zu, Dana spürte es am veränderten Klang ihrer Stimme.
«Vertrauen Sie mir bitte, Dana, und beruhigen Sie sich. Dann kann ich Ihnen meinen Plan erklären.»
Dana schluckte und bemühte sich, das nervöse Zittern ihrer Stimme zu beherrschen. «Also gut. Sagen Sie mir, warum wir diesem Ding folgen sollen, das uns aufzufressen versucht.»
«Ich erklärte Ihnen bereits, dass Pilze auf Nahrungsquellen zuwachsen. Die Ranken haben sich vermutlich deshalb in diese Nebenhöhle ausgebreitet, weil der Pilz Luft aus der Oberwelt wittert – Luft, die mit organischen Partikeln angereichert ist, zum Beispiel mit Humusstaub und Pollen von Blütenpflanzen. Mit anderen Worten: Der Pilz sucht dasselbe wie wir, nämlich einen Weg nach draußen. Das Gestein kann er nicht durchdringen, daher hat er sich seinen Weg durch Spalten und Hohlräume gebahnt. Wenn es einen Ausgang gibt, wird er uns dorthin führen.»
«Sind Sie sicher?», fragte Justin skeptisch. «Wenn dieser Pilz einen Weg nach draußen gesucht hat, warum ist er dann nicht den Müllschacht hinauf ins Bergwerk gewachsen?»
«Offensichtlich, weil er dort keine Nahrungsquelle erspüren konnte. Schließlich war der Zugang zum Bergwerk mit einer Stahltür verschlossen.»
«Aber das konnte er doch nicht wissen! Können diese Viecher hellsehen, oder haben sie eine Art eingebautes Navigationssystem?»
«Da liegen Sie gar nicht mal so falsch, Justin. Pilze haben einen erstaunlichen chemischen Ortungssinn. Ich erinnere mich an ein japanisches Laborexperiment, bei dem ein Schleimpilz – ein primitives Wesen, kaum mehr als eine Amöbe – den kürzesten Weg durch ein Labyrinth finden konnte. Dazu war nicht mehr nötig als eine Haferflocke am Ausgang. Wenn diese Wesen eine Nahrungsquelle erreichen wollen und es einen Weg dorthin gibt, dann finden sie ihn auch. Deshalb werden wir dem Verlauf des Myzels folgen. Die Gefahr kann nicht größer sein als bisher, vorausgesetzt, wir bleiben in Bewegung und vermeiden Hautverletzungen.»
«Dann los!», stimmte Leon zu.
Dana fühlte, wie Justin ihre Hand fasste und sie mit sanftem Druck vorwärts zog. Doch ihre Füße waren plötzlich wie festgewachsen. Sie konnte sich nicht überwinden, auch nur einen einzigen weiteren Schritt in der vollkommenen Dunkelheit zu machen.
«Ich kann nicht», flüsterte sie verzweifelt. «Ich kann einfach nicht.»
Sie fühlte, wie Tia an ihre Seite trat und einen Arm um ihre Schultern legte. «Sie können, Dana.»
«Nein, bitte!», flehte Dana. «Bitte lassen Sie uns hierbleiben und auf das Rettungsteam warten.»
«Wir dürfen uns nicht zu lange am selben Ort aufhalten», beschied Tia streng. «Kommen Sie schon, Dana – setzen Sie einfach einen Fuß vor den anderen.»
Dana überwand sich, schaudernd und mit heftig pochendem Herzen.
«Na sehen Sie, es geht doch. Nehmen Sie meine Hand.»
Dana tat es mechanisch. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als dieser Frau zu vertrauen, deren Gesicht sie noch nie gesehen hatte und die für sie nichts weiter als eine Stimme im Dunkeln war.