••• 05 : 45 ••• DANA •••

Dana hörte nicht auf die Rufe in ihrem Rücken. Sie rannte den Stollen hinunter, kam zu der Kammer mit dem eingebrochenen Boden, ließ sich ohne Zögern an der Abbruchkante hinab und passierte den schmalen Durchgang zur Höhle. Der gewundene Gang führte abwärts, zurück in die Tiefe, ins dunkle Innere des Berges. Wie weit war der Weg gewesen? Hundert Meter? Zweihundert?

Dana war nicht klar, was sie eigentlich vorhatte. Nur eines wusste sie: Sie würde Tia nicht im Stich lassen. Tia hatte sie gerettet, und nun war ihre Retterin dort unten allein mit einem Mann, der sie bedrohte.

Sie packte die Lampe fester und setzte konzentriert einen Fuß vor den anderen. Ein Durchgang tauchte vor ihr auf, und sie erkannte ihn wieder: Er führte in den labyrinthischen Hohlraum, in dessen Mitte sich die Fallgrube öffnete. Hier mussten sie sein: Tia, Justins Vater und Böttcher.

Doch Dana sah kein Licht, außer dem Kegel ihrer eigenen Lampe, der über die verwinkelten Säulen glitt. Unsicher trat sie ein paar Schritte in den Raum hinein und blieb stehen. Etwas raschelte fern in der Dunkelheit. Erschrocken fuhr sie herum und leuchtete in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, sah jedoch nur unruhig geisternde Schatten.

«Tia?» Sie verharrte lauschend. «Sind Sie hier?»

Etwa zwanzig Meter entfernt, hinter einer baumdicken Säule, bewegte sich eine schattenhafte Gestalt.

«Dana?» Das war Tias Stimme – und sie klang panisch. «Dana! Wenn Sie eine Lampe tragen, machen Sie sie aus!»

Die Stimme klang ein gutes Stück entfernt – zu fern, wie Dana plötzlich begriff, um zu der Gestalt zu gehören, die auf sie zukam. Ein eisiger Schreck durchzuckte sie, als sie eine breitschultrige, eindeutig männliche Silhouette erkannte, eine Hand nach ihr ausgestreckt, mit der anderen die Augen gegen das grelle Licht beschattend.

«Dana!», schrie Tia erneut. «Machen Sie die Lampe aus und verstecken Sie sich!»

Doch Dana war wie erstarrt. Auf einmal – so schien es ihr – war sie wieder sieben Jahre alt und stand im Keller, jenem unübersichtlichen, halb mit Gerümpel zugestellten Raum, der nur ein einziges, vom Staub erblindetes Souterrainfenster besaß. Sie hörte den scharfen Knall, als die Glühbirne durchbrannte, die Sicherung heraussprang und in der ganzen Wohnung das Licht erlosch. Schaudernd stand sie in der Dunkelheit, unfähig sich zu rühren – und stellte sich vor, dass der böse Mann aus seinem Versteck hervorkam und sich heranschlich.

«Dana!» Tias Stimme hallte durch den Raum, während Hartmut Böttcher, der alte Freund von Justins Vater, mit ausgestreckten Händen auf sie zukam.

«Jeder kann ein böser Mann sein», hatte Danas Mutter ihr stets eingeschärft. «Auch ein Nachbar, ein Bekannter, selbst der Postbote, der an der Tür klingelt.»

«Das Licht!», schrie Tia. «Machen Sie es aus!»

Dana stand stocksteif, die Lampe auf den Mann gerichtet, der nur noch zehn Schritte von ihr entfernt war. Vielleicht würde er sich auf sie stürzen, sie zu Boden schleudern oder gar erwürgen – was immer böse Männer mit kleinen Kindern taten.

Noch acht Schritte 

Das Licht! Endlich begriff Dana – und mit einem Schlag war sie wieder siebzehn, eine junge Frau in einem kräftigen Körper und mit wachem Geist.

Er will die Lampe, dachte sie. Ich muss die Lampe ausmachen!

Doch nichts auf der Welt konnte schwerer sein, als sich willentlich der Dunkelheit zu überantworten – jener Dunkelheit, die sie stets gefürchtet hatte, der Dunkelheit, in der das Grauen lauerte.

Mach die Lampe aus!

Noch sechs Schritte 

Tu es! Tu es!

Noch vier 

Dana überwand sich im allerletzten Moment. Das Licht erlosch. Gleichzeitig wich die Erstarrung von ihr, und sie sprang zur Seite. Böttchers massige Gestalt wurde von der Dunkelheit verschluckt, stürzte knapp an ihr vorbei, stolperte, fluchte. Dana war sicher, dass er sich binnen weniger Augenblicke aufrappeln würde, um ihr nachzusetzen. Sie musste fliehen – doch sie sah rein gar nichts mehr, nicht einmal die Hand vor Augen.

Wohin? Wohin?

Unter gewöhnlichen Umständen hätte die Panik sie gelähmt. Doch Dana war nicht mehr dasselbe Mädchen, das am Vorabend hilflos in einem Felsspalt festgesteckt hatte. Inzwischen war sie viele Stunden lang durch dunkle Gänge gewandert, durch Tunnel gerobbt und durch unterirdische Gewässer getaucht. Sie hatte gefroren und gelitten, doch auch gelebt und gelernt. Den Fehler, einfach loszulaufen, vermied sie instinktiv. Stattdessen warf sie sich zu Boden, steckte die nutzlos gewordene Lampe in den Ausschnitt ihres Overalls und kroch rasch, doch behutsam auf allen Vieren vorwärts. Es war ihr klar, dass sie sich auf diese Weise nur langsam von ihrem Verfolger entfernte, doch im Stockdunkeln – das wusste sie inzwischen nur zu gut – waren fünf Meter so weit wie hundert Meter im Tageslicht. Übertriebene Eile hätte nur die Gefahr bedeutet, gegen ein Hindernis zu stoßen und sich durch Geräusche zu verraten.

Sie umrundete eine Säule, überwand eine kniehohe Felsstufe, erspürte einen gezackten Grat zu ihrer Linken und kauerte sich dahinter zusammen. Angespannt lauschte sie in die Dunkelheit. Hinter sich hörte sie Böttchers unregelmäßige Schritte und seinen schnaufenden Atem, weit genug fort – zumindest für den Augenblick. Es klang, als drehte er sich auf der Stelle. Dann plötzlich tappten weitere Schritte in einiger Entfernung, leichtfüßiger, schneller. Dana hörte deutlich, wie Böttcher herumfuhr und den Atem anhielt.

Tia, dachte sie. Sie bewegt sich absichtlich laut, um ihn abzulenken.

Die Gelegenheit nutzend, verließ sie ihr Versteck, kroch einige Meter weiter und verharrte erneut.

«Ihr wollt Verstecken spielen?», hallte Böttchers Stimme höhnisch durch den Raum. «Na schön: eins, zwei drei, ich komme!»