Justin nahm wenig von alldem wahr. Als die Gruppe angehalten hatte, war er gegen eine unsichtbare Wand in seinem Rücken gesunken. Nun, da er seine Füße nicht mehr gebrauchen musste, schien es ihm, als zöge ein schweres Gewicht ihn unwiderstehlich in die Knie. Er spürte kaum, dass er an der Wand hinabglitt und am Boden in einer halb sitzenden, halb liegenden Haltung zusammensackte.
Wo war Dana? Er vermisste ihre Wärme, ihre Berührung an seiner Seite. Vage wurde ihm bewusst, dass sie ein paar Schritte entfernt stand und mit den anderen redete – jenen anderen, die er nie gesehen hatte, die nichts als Stimmen in der Dunkelheit waren und an die er sich plötzlich kaum noch erinnerte. Selbst ihre Namen wollten ihm nicht mehr einfallen.
Was ist nur los mit mir?, dachte er benommen.
«Justin, kommen Sie zu sich!», durchbrach eine männliche Stimme seine Trance. «Stehen Sie auf, wir müssen Ihnen das hier anziehen.»
«Stütz dich auf mich!» Das war Dana. Sie half ihm in die Höhe, woraufhin der Mann ihm eine Art Gürtel um die Hüften legte und einen Riemen über seine Schulter zog.
Leon, erinnerte er sich. Sein Name ist Leon … und wir sind immer noch in dieser verfluchten Höhle.
«Ich schwinge Sie jetzt über den Abgrund», kündigte Leon an. «Keine Angst – Sie hängen sicher in diesem Gurt. Stellen Sie sich einfach vor, Sie sitzen auf einer Schaukel, und ich gebe Ihnen Schwung. Tia fängt Sie drüben auf.»
Diese verfluchte Höhle, dachte Justin. Es war ganz allein seine Schuld, dass sie hier waren … dass Dana hier war … Und alles nur, weil er einfach kein Gefühl für das Risiko gehabt hatte, genau wie damals mit Stronzos BMW. Warum nur war er immer so leichtsinnig? Musste es erst jemanden das Leben kosten?
Er wurde vorwärts gezogen, stolperte, fing sich mühsam. Leon klinkte einen Haken in seinen Gürtel, etwa auf der Höhe des Bauchnabels, trat hinter ihn und packte ihn bei den Schultern.
«Lassen Sie sich nach hinten fallen, Justin. Strecken Sie die Beine aus.»
Justin gehorchte. Seine Füße hoben vom Boden ab. Er schwebte.
«Auf drei!», rief eine Frauenstimme in einiger Entfernung. «Du musst laut zählen, damit ich die Richtung anpeilen kann!»
Tia, erinnerte sich Justin. Die blinde Frau. Was geht hier vor? Was tun sie mit mir?
«Eins.» Er fühlte, wie Leon ihn nach hinten zog. «Zwei.»
Bei «drei» wurde er plötzlich losgelassen. Er spürte ein rasches Dahingleiten, ein seltsames Gefühl im Magen wie in einem sinkenden Fahrstuhl. Ein verspäteter Anflug von Panik erfasste ihn und verdrängte endgültig seine Träume. Er öffnete bereits den Mund, um einen Schrei auszustoßen, als die Bewegung abrupt endete. Jemand packte seine Beine, lief einige Schritte neben ihm her, bis sein Schwung abgefangen war, und hielt ihn fest.
«Alles klar, ich hab ihn!» Tia löste die Riemen an seiner Schulter, dann den Gürtel. Justins Körper kippte in die Senkrechte, seine Füße fanden den Boden. Ihm war schwindlig, und beinahe wäre er auf der Stelle zusammengesackt.
«Alles in Ordnung?», fragte Tia, die ihn stützte.
Justin antwortete nicht. Seine Gedanken verwirrten sich aufs Neue, und die Eindrücke des Augenblicks mischten sich mit den Bildern der Vergangenheit. Wieder dachte er an jene Frau, die er um ein Haar überfahren hätte. Eine Eingebung streifte ihn, so bedrückend, dass er sich nicht davon abhalten konnte, sie auszusprechen.
«War es ein Autounfall?», brachte er mühsam hervor.
Tia erstarrte. Er spürte es deutlich, obwohl er sie nicht sehen konnte.
«Was? Wovon reden Sie, Justin?»
«Der Unfall, durch den Sie blind geworden sind … war es ein Autounfall?»
Tia schwieg eine Weile.
«Ja», sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang seltsam fremd. «Ein Autounfall.»
«Waren Sie allein unterwegs?», flüsterte Justin beklommen.
«Nein, ich war erst zwölf Jahre alt. Meine Mutter ist gefahren.»
«Was ist passiert?»
«Irgendein Irrer hat uns beim Überholen geschnitten, sodass wir in die Leitplanke krachten.»
«Wurde Ihre Mutter auch verletzt?»
«Sie … konnte nicht mehr gerettet werden.»
Justin verstummte. Er hatte es geahnt, schon im selben Moment, als er die Frage ausgesprochen hatte. Irgendein Irrer, echoten Tias Worte in seinem Kopf, und sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Jemand, der nicht in der Lage war, die Gefährlichkeit seines Tuns einzuschätzen. Jemand wie ich.