Zum neunten Mal tauchte Tia aus dem Syphon auf, kroch an Land und ließ sich keuchend an einen steinernen Höcker sinken.
«Ich kann nicht mehr.»
Die Worte waren weniger an Justin und Dana gerichtet, die engumschlungen in der Dunkelheit hockten – sie hatte einfach das Gefühl, es aussprechen zu müssen, um vor sich selbst zu begründen, warum sie eine Pause brauchte. Ihre Arme und Beine schmerzten vor Anstrengung, Finger und Zehen waren gefühllos, und sie schlotterte derart vor Kälte, dass ihr Herz bedenkliche Sprünge machte. Noch nie – dachte sie bitter – war sie derart an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gewesen. Nie hatte sie aus reiner Erschöpfung aufgeben müssen, schon gar nicht, wenn ein Leben auf dem Spiel stand. Nun aber war die Gefahr zu groß, dass ein weiterer Tauchgang ihr eigenes Leben gefährdete.
«Was kann denn nur geschehen sein?», flüsterte Dana, die angesichts des desolaten Zustands ihrer Führerin kaum laut zu sprechen wagte.
«Er muss … an einer … anderen Stelle … aufgetaucht sein», stieß Tia zwischen hechelnden Atemzügen hervor.
Anders konnte sie sich Leons Verschwinden in der Tat nicht erklären. Das Gewässer war weit ausgedehnter, als sie angenommen hatte, und verband offenbar eine ganze Flucht unterirdischer Hohlräume. Wieder und wieder war sie hinabgetaucht, hatte systematisch das Wasser durchpflügt, alle Wände abgetastet und sogar den Grund erreicht, der aus glattem Kalkstein bestand. Doch die Anlage des Syphons war winklig und verwirrend: Es gab eine ganze Anzahl von Spalten und Kanälen, die sich in verschiedene Richtungen öffneten, und Tia hatte Mühe gehabt, auch nur einige von ihnen zu erkunden und nachher den Rückweg wiederzufinden. Mehrmals war sie in unbekannten Räumen aufgetaucht, einer davon mit so niedriger Decke, dass es ihr kaum gelungen war, den Kopf aus dem Wasser zu strecken. Nirgends hatte sie eine Spur von Leon entdeckt, hatte wieder und wieder gerufen, vergeblich gelauscht und schließlich aufgegeben. Dass sie nicht in der Lage war, das Höhlensystem in ihrem Geist abzubilden, traf Tia hart. Normalerweise war räumliches Vorstellungsvermögen eine ihrer Stärken, doch unter Wasser versagten alle ihre Ortungssysteme, das Zungenecho, der Geruchssinn und sogar die Empfindlichkeit ihrer halb erfrorenen Haut.
Wenn er nun ertrunken ist …
Doch sie war entschlossen, diesen Gedanken nicht zuzulassen. Leon musste am Leben sein, er war ein guter Schwimmer, und sie hatte keine Luftblasen aufsteigen hören, als er plötzlich auf halbem Weg verschwunden war.
«Er muss in irgendeiner benachbarten Höhle sein», redete sie sich ein, noch immer krampfhaft atmend.
Ein Scharren verriet, dass Dana an ihre Seite kroch. Unbeholfen tastete das Mädchen nach Tias Arm, ergriff ihre Hand und schmiegte sich an sie.
«Es tut mir so leid», sagte sie. «Kann ich irgendetwas tun?»
«Ja – bleiben Sie bei mir!», bat Tia. «Wärmen Sie mich, damit ich Kraft für den nächsten Tauchgang sammeln kann.»
«Aber Sie dürfen nicht mehr ins Wasser zurück!», ereiferte sich Dana. «Was soll aus uns werden, wenn Sie erfrieren?»
«Ich werde warten», versprach Tia. «So lange wie nötig, aber so kurz wie möglich.»
Dana nahm sie in die Arme. Es war ein eigenartiges Gefühl für Tia: Noch vor wenigen Stunden war sie selbst es gewesen, die das Mädchen getröstet und gewärmt hatte. Nun waren die Rollen vertauscht. Zweifellos fror auch Dana, doch ihre Haut war immerhin ein paar Grade weniger kalt, und Tia zog sie dankbar an sich.
«Es hat seine Vorteile, wenn man üppig gebaut ist», flüsterte sie, den Kopf an Danas Schulter gelegt. «Nichts isoliert besser als subkutanes Fett.»
Dana klang kein bisschen gekränkt, als sie antwortete. Im Gegenteil: Sie schien zu lächeln. «Zu irgendetwas muss es schließlich gut sein.»