••• 20 : 00 ••• TIA •••

Eine Tür klappte. Die Temperatur fiel merklich, woran Tia erkannte, dass sie den aufgeheizten Vortragssaal verließ und ins Foyer der Stadthalle hinaustrat. Auch der Geruch veränderte sich: Frisch gefeudeltes Parkett trat an die Stelle der bunten Ausdünstungen menschlicher Körper. Ein kühler Luftzug verriet, dass die Schwingtür zur Straße aufgestoßen wurde.

«Vorsicht, Stufe», raunte Leon ihr zu.

Dankbar ergriff Tia seinen Arm, während er sie auf die Straße hinausführte. Normalerweise bewegte sie sich selbst an unbekannten Orten relativ sicher. Dennoch tat es gut, sich seiner Führung zu überlassen und für ein paar Minuten die Kontrolle abzugeben.

«Na? Wie war ich?», fragte sie, wie stets leicht ironisch.

«Großartig», antwortete Leon, ernsthaft wie immer.

«Erstaunlich, was die Leute alles wissen wollen – und was nicht», fand Tia. «Keine einzige Frage zu den slowenischen Karsthöhlen, keine einzige über den Grottenolm. Stattdessen muss ich Riechproben machen und mein Privatleben ausbreiten.»

Leon lachte. «Du kannst nicht erwarten, dass sich dreißig Menschen in einer Kleinstadt für Speläologie interessieren. Die meisten kommen nicht, um einen wissenschaftlichen Vortrag zu hören, sondern weil du ein Star bist.»

«Ich?» Nun war es Tia, die lachen musste. «Ein Star?»

«Ja, seit das Kabelfernsehen über die Sache in Biedersheim berichtet hat, kennt dich halb Deutschland, und Zeitungsartikel gab es auch genug. Hinzu kommt, dass ein Foto von dir sich gut als Aufmacher eignet – Wissenschaft verkauft sich immer noch am besten mit einer fotogenen Wissenschaftlerin.»

«Schmeichler!», spottete Tia, während sie die Straße hinabschlenderten. «Mir soll’s recht sein, solange ich nicht Karaoke singen oder Abendkleider vorführen muss.»

«Fände ich gar nicht schlecht!», meinte Leon. «Du im Abendkleid …»

Tia stupste ihn in die Seite. «Du willst mich nur wieder auf den Arm nehmen.»

«An den Arm – das ist mir lieber», gab Leon galant zurück.

Tia schwieg, während sie das Klicken einer Ampelanlage hörte, Asphalt unter den Sohlen spürte und schloss, dass sie eine Kreuzung überquerten.

Er ist so lieb zu mir, dachte sie abwesend. Er begleitet mich, wohin ich auch gehe, macht jede Reise mit, sagt eigene Termine ab – alles nur, damit er bei mir sein kann. Eigentlich sollte ich ein verdammt schlechtes Gewissen haben: Immer bin ich es, die im Rampenlicht steht, während er irgendwo hinter mir im Halbschatten sitzt. Aber er lässt nie ein Wort der Klage laut werden. Stattdessen macht er mir auch noch Komplimente.

Gerade dies verunsicherte Tia. Es war ein seltsames Gefühl für eine blinde Frau, Anspielungen auf ihr Äußeres zu hören, zumal ihr die Möglichkeit fehlte, deren Wahrheitsgehalt an einem Spiegelbild zu überprüfen. Soweit Tia sich erinnern konnte, war sie mittelgroß, schlank, brünett und unauffällig. Doch Leon war nun einmal ein Charmeur, und zweifellos meinte er es gut. In einem Gefühl plötzlicher Rührung drückte sie unwillkürlich seinen Arm. Er reagierte nicht merklich – abgesehen davon, dass er wie üblich «Stufe!» flüsterte, als sie den Bordstein erreichten.

«Und – was machen wir noch mit dem angefangenen Abend?», fragte er, als sie die Fußgängerzone erreichten.

«Keine Ahnung.» Tia gähnte herzhaft. «Wie wär’s damit, ins Hotel zurückzugehen und die Beine hochzulegen?»

«Und was sagst du zu einem romantischen Candlelight-Dinner in einem gemütlichen Restaurant?»

«Ach …» Tia winkte ab. «Vom Candlelight habe ich leider nicht viel.»

Leon schwieg – es gab offenbar Momente, in denen er vergaß, dass seine beste Freundin blind war.

«Aber lass dich von mir nicht abhalten!», meinte Tia. «Du kannst mich ja im Hotel abladen und noch ein wenig das hiesige Nachtleben genießen, während ich mir ganz dekadent ein paar Schnittchen aufs Zimmer bestelle.»

Leon lachte unsicher. «Willst du mich loswerden?»

«Nicht doch, wo denkst du hin?»

«Na dann …»

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, bis sie das Hotel erreichten. Leon stieß die Schwingtür auf und kramte bereits nach dem Zimmerschlüssel, als der Portier ihn ansprach.

«Warten Sie bitte! Ich habe hier ein Gespräch für Frau Traveen. Scheint sehr dringend zu sein.»

Tia nahm das Telefon entgegen, das Leon an sie weiterreichte.

«Ja?»

«Frau Doktor Traveen?»

«Hier ist Tia Traveen – vergessen Sie den Doktor, ich bin immer noch Studentin. Mit wem spreche ich?»

«Mein Name ist Jörn Bringshaus. Ich habe ein Ingenieurbüro in Linden und bin mit der Überwachung der hiesigen Bergwerke beauftragt.»

«Oh! Nett, Sie kennenzulernen.»

«Frau Traveen, ich mache es kurz: Es gibt ein Problem. Zwei Menschen sind auf der tiefsten Ebene eines Salzbergwerks verunglückt.»

«Nanu? Ich dachte, die Salzgruben in Linden seien seit fünfzig Jahren stillgelegt», sagte Tia, die praktisch alle deutschen Bergwerke samt ihrer Betriebsgeschichte im Kopf hatte.

«Sind sie auch. Aber ein paar Jugendliche haben sich Zutritt verschafft – unter ihnen mein Sohn. Ihm selbst ist nichts passiert, aber seine Freundin und ein Klassenkamerad sind in einen Schacht gestürzt, unter dem sich eine unerforschte Höhle befindet.»

«Um Himmels willen …» Tia, deren Interesse augenblicklich geweckt war, tastete nach einem Stuhl und setzte sich. «Gestürzt, sagen Sie?»

«Ja, aber sie sind am Leben. Mein Sohn hörte das Mädchen schreien …»

«Wann ist das passiert?»

«Vor etwa einer halben Stunde.»

«Haben Sie die Grubenwehr alarmiert?»

«Es gibt hier keine Grubenwehr mehr, seit die letzten Bergwerke stillgelegt wurden. Der Landes-Höhlenrettungsverband trommelt ein Team zusammen, aber es wird mindestens drei Stunden dauern, bis der Hubschrauber hier ist – vielleicht auch länger.»

«Was ist mit der Feuerwehr?»

«Eben eingetroffen. Das Problem ist nur, dass sie keine elektrische Seilwinde haben, die klein genug wäre, um sie in diesem engen Stollen zu installieren. Man müsste also einen einzelnen Mann mit einem Kletterseil hinunterschicken – und keiner der Leute hat Erfahrung mit Höhlenrettungen.»

Tia nickte. «Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.»

«Bitte, Frau Traveen!», bat Bringshaus. «Linden ist nicht einmal fünfzehn Kilometer entfernt. Mit dem Auto könnten Sie in einer halben Stunde vor Ort sein. Ich würde es gern Ihnen anvertrauen, die Freunde meines Sohnes zu retten – sofern Sie Ihre Kletterausrüstung bei sich haben.»

«Habe ich», bestätigte Tia.

«Ich werde gut dafür bezahlen! Ich weiß, dass Sie eigentlich nur zufällig in unserer Gegend sind, aber …»

«Kein Problem», entschied Tia spontan. «Über Geld brauchen wir nicht zu reden, damit verschwenden wir nur Zeit.»

«Sie kommen?» Bringshaus schien kaum fassen zu können, dass es keiner weiteren Überredungskünste bedurfte. «Wirklich?»

«Bin sozusagen schon unterwegs», bestätigte Tia, während sie spürte, dass Leon an ihre Seite getreten war, um mitzuhören. «Wo finde ich Sie?»

«Haben Sie ein Navi?»

«Klar.»

«Programmieren Sie es auf Sehenswürdigkeiten: Kugelberg, Aussichtsplatz. Ich warte auf dem Parkplatz auf Sie. Von dort sind es nur zwei Minuten zu Fuß.»

«Gut. Sorgen Sie dafür, dass die Feuerwehr dableibt! Wir werden starke Arme brauchen, denn wenn wir keine Seilwinde benutzen können, müssen wir Verletzte womöglich mit Muskelkraft hinaufziehen.»

«Ja, wird gemacht.» Bringshaus unterbrach sich. «Ich danke Ihnen, Frau Traveen! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …»

«Dann sagen Sie am besten nichts mehr», riet Tia. «Rechnen Sie mit mir in dreißig Minuten.»

 

Sie legte auf und wandte sich Leon zu.

«Eilauftrag?», erriet er.

Tia nickte. «Zwei Jugendliche sind in einen Bergwerksstollen gestürzt.»

«Tja … das war’s dann wohl mit dem gemütlichen Ausklang des Abends.»

«Tut mir leid, Leon», sagte Tia ehrlich. «Aber es geht um Menschenleben! Ich konnte einfach nicht nein sagen. Lass uns schnell aufs Zimmer gehen, damit ich meinen Cave-Suit anlegen und die nötigsten Dinge einpacken kann. Glaubst du, wir schaffen es in einer halben Stunde bis Linden?»

Leon seufzte ergeben. «Sicher.»