«… sind die Höhlensysteme an der slowenischen Adriaküste noch keineswegs vollständig erschlossen. Auswaschungen durch Regenwasser haben die Kalksteinmassive im Lauf der Jahrtausende derart untergraben, dass weitläufige unterirdische Landschaften mit einem einzigartigen Ökosystem entstanden sind. Bei meiner Tour im Februar dieses Jahres konnte ich eine unbekannte Höhle entdecken, die nur durch einen Syphon zugänglich war – einen Hohlraum, der dauerhaft unter Wasser steht. Als ich hindurchgetaucht war, lag eine unterirdische Halle vor mir, die nahezu die Größe einer Kathedrale hatte. Von der Decke hingen meterlange Tropfsteine herab. Ein Teil der Halle war von einem flachen See bedeckt, in dem sich Grottenolme tummelten. Nun müssen Sie wissen, dass der Grottenolm, ein augenloses Amphibium, sehr selten ist und ausschließlich in den Karsthöhlen Osteuropas vorkommt. Diese Tiere führen ein zurückgezogenes Leben in den unterirdischen Gewässern, wo sie sich von Krebsen und anderen Kleintieren ernähren. Sie können so alt werden wie ein Mensch, rund siebzig Jahre – und dieses Alter würden viele der Tiere auch erreichen, wenn ihr Überleben nicht durch Industrieabwässer gefährdet wäre, die in ihre Lebensräume einsickern. Die Habitat-Richtlinien der Europäischen Union haben den Grottenolm als streng zu schützende Art eingestuft.»
Die junge Frau am Mikrophon machte eine bedeutungsvolle Pause, hob das Gesicht und schien über die Versammelten hinwegzublicken, eine Gruppe von etwa dreißig Zuhörern. Carolin Frey, die in der ersten Reihe saß, nutzte die Gelegenheit und schoss rasch ein Foto.
«Sie fragen sich vielleicht», fuhr Tia Traveen fort, «warum gerade diese seltene Spezies Beachtung verdient. Wenn wir von Tierschutz sprechen, denken wir meist an Tiere, die uns emotional ansprechen: an langbeinige Rehe, flauschige Nerze und süße Seehundbabys. Der Grottenolm ist glatt und schleimig und verfügt nicht einmal über Augen, mit denen er uns herzerweichend anblicken könnte. Niemand von Ihnen würde es bemerken, wenn der Grottenolm ausstirbt, denn er steht zum Menschen in keiner unmittelbaren Beziehung – dennoch ist er ein faszinierendes Stück Natur, das zum Reichtum unserer Welt beiträgt. Und diesen Reichtum, meine Damen und Herren, sollten wir nicht leichtfertig gefährden.»
Die Zuhörer klatschten. Carolin legte das Fotohandy aus der Hand und griff nach ihrem Notizblock. Der Vortrag war durchaus interessant gewesen, aber für die Leser einer Kreiszeitung gaben die Lebensbedingungen slowenischer Höhlentiere kein besonders aufregendes Thema ab. Es würde der Sache erheblich mehr Farbe verleihen, wenn die Geschichte mehr ins Persönliche ging. Also wartete sie, bis der Beifall verebbt war, wobei sie die junge Frau am Mikrophon aufmerksam musterte.
Eine bemerkenswerte Person, fand Carolin. Nach ihren Recherchen war Tia Traveen erst Mitte zwanzig, wirkte jedoch sehr reif und souverän, vor allem aufgrund ihrer routinierten Vortragsweise. Man merkte ihr an, dass sie es gewohnt war, vor Zuhörern zu sprechen. Ihre Stimme war angenehm voll und dunkel, dabei ein wenig kühl, ideal für eine Nachrichtensprecherin. Ihre äußere Erscheinung stand dazu in merkwürdigem Gegensatz. Zu Beginn des Vortrags hatte sie die getönte Brille abgelegt, und der ziellose Blick ihrer blinden Augen wirkte leicht irritierend, wenn man längere Zeit hinsah. Gewöhnungsbedürftig war zudem, dass sie in Jeans und T-Shirt auftrat und vollständig ungeschminkt war.
Nicht dass sie Make-up nötig hätte, dachte Carolin mit einem Anflug von Neid.
«Haben Sie noch Fragen?», sprach Tia Traveen die magischen Worte aus.
«Ja, bitte!», ergriff Carolin die Gelegenheit und beugte sich vor. «Carolin Frey, vom Lindener Anzeiger. Ich würde gern auf Ihre Teilnahme an Rettungsaktionen zu sprechen kommen. Sie sind ja nicht nur eine bekannte Wissenschaftlerin, sondern engagieren sich immer wieder bei der Bergung von Verunglückten.» Sie spickte kurz auf ihren Notizblock. «Vor zwei Jahren haben Sie auf Malta eine Touristin gerettet, die sich beim Begehen einer Höhle schwer verletzt hatte – nur weil Sie zufällig in der Gegend waren. In Slowenien haben Sie ein vermisstes Paar aufgespürt, das vom Regen überrascht und in einer Felsengrotte eingeschlossen wurde. Vor allem aber haben Sie sich beim Grubenunglück in der Schachtanlage Biedersheim einen Namen gemacht.»
Tia, die Carolin ihr Gesicht zugewandt hatte, lächelte nachsichtig. «Sie dürfen mir glauben, dass es nicht meine Absicht war, mir damit einen Namen zu machen. Unglücksfälle unter Tage sind eine heikle Sache und erfordern spezialisierte Hilfe. In einer Höhle funktioniert kein Mobilfunk und kein GPS, weshalb es schwierig ist, Vermisste zu finden. Außerdem drohen erhebliche Gefahren: Verschüttungen, Wassereinbrüche, Stürze, zu schweigen vom Erfrieren. Unfälle im Bergbau sind besonders tragisch, denn oft kosten sie viele Menschenleben. Bei dem Schachteinsturz in Biedersheim wurden glücklicherweise nur vier Kumpel von der Tagwelt abgeschnitten – und wir konnten sie alle retten.»
«Sie meinen: Sie konnten sie retten», präzisierte Carolin. «Man hat sie als Heldin gefeiert. War es nicht so, dass niemand außer Ihnen die Klopfgeräusche der Verschütteten hören konnte?»
«Nun ja … ich habe ein recht empfindliches Gehör.»
«Und stimmt es auch, dass die vier Männer nur deshalb so schnell geborgen werden konnten, weil Sie sich trotz der Explosionsgefahr in den Schacht abseilen ließen?»
«Es bestand keine Explosionsgefahr», stellte Tia richtig. «Die Werksleitung befürchtete es zwar, aber ich konnte riechen, dass die Kohlenstaubkonzentration zu gering war, um explosive Gemische zu bilden. Deshalb bin ich das Risiko eingegangen.»
«Stimmt es, dass Sie mehrere hundert chemische Verbindungen am Geruch erkennen können?»
Tia zuckte die Achseln. «Ich habe nie nachgezählt. Richtig ist, dass ich – wie viele blinde Menschen – einen ziemlich ausgeprägten Geruchssinn habe.»
«Wenn Sie erlauben … ein kleiner Test?», bat Carolin. Sie trat zum Podium und hielt Tia ihr Handgelenk unter die Nase. «Erkennen Sie dieses Parfüm? Können Sie mir die Marke nennen?»
«Leider nein. Ich benutze niemals Parfüms, da sie meinen Geruchssinn irritieren und mir die Wahrnehmung meiner Umgebung erschweren. Daher kann ich Ihnen weder den Namen noch den Hersteller dieses Duftstoffs nennen.» Tia beugte sich vor und sog ein wenig von dem Duft ein. «Allenfalls könnte ich Ihnen etwas über die Zusammensetzung sagen. Die hervorstechendste Komponente ist Cumarin, ein Derivat der Zimtsäure, die in bestimmten Blütenpflanzen vorkommt. Weitere Bestandteile sind Lorbeer und Spuren von polyzyklischem Moschus.»
«Beeindruckend!» Carolin erwiderte ihr Lächeln. «Die Parfümindustrie sollte froh sein, dass Sie nicht zu ihrer Kundschaft zählen – andernfalls würden Sie womöglich ihre bestgehüteten Geheimnisse aufdecken.»
«Auf YouTube wurde kürzlich ein Video über Sie eingestellt», warf ein anderer Journalist ein, in dem Carolin einen Vertreter der Konkurrenz erkannte, des Hertzauer Tageblatts. «Ein zweiminütiger Spot von Ihrer Klettertour in der tiefsten Höhle Englands, der … Ogof … ich weiß nicht, ob ich das richtig aussprechen kann …»
«Ogof Ffynnon Ddu», half Tia. «Was denn für ein Video?»
«Sie wussten nichts davon?»
«Ich sehe mir keine Videos an. Für Blinde ist so etwas ziemlich langweilig.»
Die Zuhörer lachten.
«Der Film zeigt, wie Sie an einer Felswand hochklettern. Hat wohl irgendein Tourist mit einem Fotohandy aufgenommen. Auffällig ist, dass Sie nicht den üblichen Overall tragen, sondern eine Art einteiligen Badeanzug, der – gelinde gesagt – ziemlich knapp geschnitten ist. Titel des Videos: Sexy German Caver Girl. Was sagen Sie dazu?»
Tia schwieg verdutzt.
Typisch Hertzauer Tageblatt, dachte Carolin kopfschüttelnd. Da kommt schon mal eine namhafte Wissenschaftlerin zu uns in die Provinz, und das Einzige, was diese Boulevardzeitung interessiert, ist ihr Outfit.
«Ich trage bei meinen Touren einen speziellen Chloropren-Anzug», erklärte Tia. «Dass er viel Haut frei lässt, ist beabsichtigt, denn da ich nun einmal nicht sehen kann, benötige ich meine Haut als Sinnesfläche. So kann ich feinste Luftbewegungen wahrnehmen, die mich zum Beispiel darüber informieren, wo sich ein Durchgang befindet oder wie groß der Abstand zu einem Hindernis ist.»
«Ist das nicht ein reichlich luftiges Outfit für Höhlenkletterer?», fragte der Journalist.
«Wie man’s nimmt – in den meisten natürlichen Höhlen herrscht ganzjährig eine Temperatur um die zehn Grad. Ich war noch nie sehr kälteempfindlich und komme gut damit zurecht. Für den Notfall habe ich immer einen Overall im Gepäck.»
«Ein paar persönliche Daten noch!», bat Carolin, wobei sie rasch ihre Notizen überflog. «Sie sind siebenundzwanzig Jahre alt, kinderlos und unverheiratet – richtig?»
Tia hob die Brauen. «Ist das von Interesse?»
«Für unsere Leser schon», beharrte Carolin. «Also: Keine Familie?»
«Nein, abgesehen von meinem Vater.»
«Und Sie studieren Speläologie?»
«Höhlenforschung ist in Deutschland kein eigenständiges Studienfach. Ich studiere Geologie und Biochemie. Auf Speläologie kann man sich spezialisieren, indem man entsprechende Seminare belegt. Die praktischen Fertigkeiten muss man sich außerhalb der Uni aneignen, vor allem Abseil- und Klettertechnik, aber auch Erste Hilfe und Notfallmedizin – schließlich ist es ein gefährliches Metier.»
«Was bewegt eine junge Frau wie Sie, ihr Leben mit der Erkundung von Höhlen zu verbringen?»
«Das ist eine gute Frage», gab Tia zu. «Eigentlich weiß ich es selbst nicht genau. Eine gewisse Beziehung zu den Tiefen der Erde habe ich vielleicht geerbt, denn mein Vater war Bergmann. Er hat zwanzig Jahre lang in einer der letzten Kohlegruben im Ruhrgebiet gearbeitet. Das Innere der Erde interessierte mich schon lange, bevor ich mein Augenlicht verlor. Mit sieben Jahren erforschte ich eine Kalksteinhöhle, die sich nahe dem Landhaus meiner Großmutter befand, verirrte mich und fand erst nach Stunden wieder heraus.»
«Oh – das war bestimmt ein traumatisches Ereignis.»
Tia zuckte die Achseln. «Eigentlich nicht. Traumatisierend war höchstens, dass mir meine Großmutter danach zwei Wochen Hausarrest erteilte.»
Wieder lachten die Zuhörer, und auch Carolin schmunzelte.
«Ihre Arbeit erlaubt es Ihnen, aus einer Schwäche eine Stärke zu machen», fuhr sie fort, «da Sie sich im Dunkeln offenbar besser zurechtfinden als die meisten Menschen. Das ist faszinierend! Wie orientieren Sie sich im Innern einer Höhle?»
«Mit der Methode von Daniel Kish», antwortete Tia. «Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört, er leitet eine berühmte amerikanische Blindenschule. Kish hat eine Technik entwickelt, mit der Zunge zu schnalzen und an den Echos Gegenstände zu erkennen, ganz ähnlich dem natürlichen Radar von Fledermäusen. Die Methode erfordert jahrelange Übung, aber sie ist genial. Kish kann damit Fahrradfahren und auf Bäume klettern – und ich kann mich in geschlossenen Räumen zurechtfinden, weit besser sogar als im Freien.»
«Und wie bewältigen Sie Ihren oberirdischen Alltag?»
«Ganz gut, denke ich. Natürlich muss ich auf manches verzichten, zum Beispiel aufs Autofahren. Und hin und wieder verlege ich meinen Wohnungsschlüssel und kann ihn stundenlang nicht wiederfinden – aber das passiert meines Wissens auch Leuten, die sehen können. Mein Studium jedenfalls kann ich fast genauso schnell wie andere absolvieren, denn es gibt, wie Sie sicher wissen, spezielle Computersoftware und Lesescanner für Blinde. Dass ich meine Doktorarbeit immer noch nicht fertig habe, liegt also nicht an meiner Behinderung, sondern schlicht an meiner Faulheit. Und wenn es doch einmal ein Problem im Alltag gibt, ist Leon an meiner Seite.»
Tia drehte sich um und nickte zu einer Ecke hinter dem Podium hinüber, wo zu Beginn des Vortrags ein junger Mann Platz genommen hatte. Carolin war er bereits aufgefallen: Groß, blond, mit zentimeterkurz rasierten Haaren und jungenhaft sympathischem Gesicht.
«Ihr Lebensgefährte?», mutmaßte sie.
«Mein bester Freund», korrigierte Tia. «Ohne ihn hätte ich weder die Bergleute in Biedersheim gerettet noch irgendeinen Rekord im Höhlenklettern gebrochen – nicht einmal heute Abend hierhergefunden.»
Carolin hob rasch ihr Fotohandy, um den Mann abzulichten, der beinahe schüchtern den Blick senkte.
«Aber jetzt müssen wir zurück ins Hotel», schloss Tia und setzte ihre dunkle Brille wieder auf. «Vielen Dank, dass Sie hier waren!»
Die Stühle scharrten, und Carolin beobachtete, wie der junge Mann aufstand und auf Tia zueilte, die suchend einen Arm nach ihm ausstreckte. Instinktiv schoss sie ein weiteres Foto.
Das sollte ich als Aufmacher für den Artikel nehmen, dachte sie. Eine blinde Frau, die eine wissenschaftliche Passion hat, gibt leider noch keine Story her. Man wird sie bewundern oder bedauern – aber eine Liebesgeschichte würde das Ganze interessant machen.
Nachdenklich schlenderte sie zum Ausgang, als das Fiepen ihres Handys sie aufschreckte. Das Display zeigte die Nummer der Redaktion.
«Ja?»
«Hallo Frau Frey, Bittrich hier», meldete sich ihr Chefredakteur. «Ist der Vortrag schon zu Ende?»
«Ja, ich bin eben auf dem Weg nach draußen.»
«Gut! Ich höre nämlich gerade Sirenen. Die Feuerwehr rückt aus, offenbar über die Umgehungsstraße Richtung Naturschutzgebiet.»
Carolin seufzte. Das klang nach einem Sonderauftrag für den Feierabend. Klar, dass Bittrich ausgerechnet sie anrief – von einer Frau ohne Familie erwartete man, dass sie allzeit flexibel war und gern ein paar Überstunden machte.
«Ich weiß, es ist Freitagabend», schränkte Bittrich vorsorglich ein, «aber ich wüsste nicht, wen ich sonst darauf ansetzen könnte. Wenn es irgendwo brennt oder sonst etwas Spektakuläres passiert, würde ich das gern noch in die Samstagsausgabe bringen – ein paar Zeilen und vielleicht ein Foto werden genügen. Könnten Sie sich auf dem Rückweg darum kümmern?»
Carolin seufzte abermals. «Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.»
«Tun Sie mir den Gefallen!», bat Bittrich. «Fragen Sie am besten direkt bei der Feuerwache nach, woher der Notruf kam. Wenn die es Ihnen nicht verraten wollen, folgen Sie einfach den Sirenen.»
«Na schön», versprach Carolin. «Ich werd’s versuchen.»