••• 05 : 35 ••• TIA •••

Tia erhob sich, nachdem sie minutenlang an Bringshaus’ Seite gekniet und sich von der Stabilität seiner Vitalzeichen überzeugt hatte.

«Keine Reaktion auf Ansprache. Bewusstseinstrübung und verlangsamter Puls, genau wie bei Justin. Aber er wird es überstehen, denke ich. Das Toxin scheint in erster Linie sedierend zu wirken, aber keine ernsthaften Schäden zu verursachen.»

Böttcher antwortete nicht. Er hatte sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten, jetzt aber trat er näher und blieb dicht neben ihr stehen – so nahe, dass sie seinen Atem spürte. Tia lauschte irritiert: Er klang beschleunigt und pfiff hörbar durch feine Zwischenräume zwischen den Zähnen, wie bei einem Menschen, der unter Spannung stand und die Lippen leicht geöffnet hielt.

«Während wir auf die Rettungsmannschaft warten, haben wir noch etwas zu bereden», sagte er unvermittelt.

«Zu bereden?» Tia wandte sich erstaunt zu ihm um.

«Ja. Sie tragen zwei Dinge bei sich, die ich haben möchte.»

Tia hatte keine Ahnung, wovon er sprach, doch allein der veränderte Klang seiner Stimme bewirkte, dass ihr Körper sich versteifte.

«Das eine ist die Erdprobe aus der Höhle», fuhr Böttcher fort. «Ich nehme an, Sie haben sie in einem Probenröhrchen oder einem ähnlichen Behälter bei sich. Das zweite ist die Münze – der polnische Zloty von 1992.»

Stirnrunzelnd wandte Tia den Kopf in die Richtung, wo sich sein Gesicht befinden musste. Ihr Geist arbeitete fieberhaft, versuchte, die Worte des Mannes zu begreifen – doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie spürte nur die Veränderung der Atmosphäre, die Spannung in der Luft.

«Ich würde es vorziehen, wenn Sie mir beides freiwillig aushändigen», sagte Böttcher. «Und zwar jetzt gleich. Dann werde ich bereit sein, Ihrem Versprechen zu glauben, dass Sie niemandem etwas über Ihre Entdeckungen erzählen.»

«Ich habe Ihnen gar kein Versprechen gegeben», sagte Tia verunsichert.

«Nein, noch nicht», nickte Böttcher. «Aber das werden Sie gleich.»

«Und warum sollte ich?»

«Weil ich es Ihnen sage! Ich möchte ein Versprechen hören, dass Sie kein Wort über die Fässer und über die Leichen in der Höhle verlieren werden. Und zum Zeichen Ihres guten Willens werden Sie mir jetzt das Probenröhrchen und die Münze aushändigen.»

Tias Puls schnellte in die Höhe.

Mein Gott … er hat etwas mit der Sache zu tun, begriff sie endlich. So leicht es ihr fiel, aus einer Geruchsnote chemische Substanzen zu erschließen, so schwer tat sie sich mit Erkenntnissen, wenn es um die verborgenen Absichten von Menschen ging. Täuschung und Tücke waren ihrem eigenen Charakter völlig fremd, und so fiel es ihr schwer, Derartiges bei anderen zu erspüren.

«Und wenn ich das nicht tue?»

Die Frage war ehrlich gemeint. Böttcher jedoch musste sie in ihrer Naivität herausfordernd erscheinen.

«Seien Sie vernünftig!» Seine Stimme klang nun offen drohend. «Ich rate es Ihnen dringend.»

Perplex stand Tia vor ihm, alle Sinne angespannt, die Nasenflügel gebläht, die Ohren prickelnd vor Wachsamkeit. Kein Geräusch deutete auf eine Bewegung hin, nur der Atem ihres Gegners war deutlich hörbar.

«Ich wiederhole mich nur ungern.»

Böttcher begann im Halbkreis um sie herumzugehen. Tia fühlte, wie der Wärmekegel der Lampe von links nach rechts wanderte, stets auf ihr Gesicht gerichtet. Angst packte sie.

«Rücken Sie die Sachen nun heraus, oder muss ich Ihnen an die Wäsche gehen?»

Unwillkürlich legte Tia eine Hand auf die Tasche ihres Cave-Suits, in der die Münze steckte.

Böttcher schnellte vor und packte zu. Eine Faust schloss sich um Tias Handgelenk, stark genug, um ihr die Knochen zu brechen. Erschrocken schrie sie auf – doch die unerwartete Berührung löste ihre starren Muskeln, und plötzlich entlud sich ihre Anspannung in einem wilden Verteidigungsreflex. Sie schlug um sich, verdrehte den Oberkörper und wand sich unter Böttchers Griff. Er schnaufte und griff nun auch mit der anderen Hand zu. Ein schwerer Gegenstand prallte mit einem metallischen Geräusch auf den Boden, vermutlich die Lampe.

Böttchers linke Hand fand ihre Kehle. Erschrocken rang Tia nach Luft, als er zudrückte. Mit der freien Hand packte sie seinen Arm und versuchte ihn wegzuziehen, war jedoch völlig machtlos gegen seine überlegene Körperkraft.

Er will nur die Beweise, schoss es ihr panisch durch den Kopf. Ich gebe sie ihm, dann wird er mich loslassen.

Doch ein anderer, mitleidloser Teil ihres Verstandes erkannte, dass es zu spät war, um sich freizukaufen. Böttcher würde nicht ablassen, bevor er ihres Schweigens sicher war. Er würde sie umbringen.

Verzweifelt stemmte sich Tia gegen seinen Griff, während sie spürte, wie ihr die Atemluft ausging. Ihr Kopf begann sich mit weißem Nebel zu füllen. Gleichzeitig tastete sie mit dem Fuß nach der Stablampe. Sie musste ein kleines Stück links von ihr zu Boden gefallen sein – nicht weit von der Öffnung der Grube.

Komm schon! Komm schon!, flehte sie.

Endlich spürte sie den zylindrischen Metallkörper unter der Sohle ihres Stiefels. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, streckte das Bein und versetzte der Lampe einen harten Stoß. Scheppernd rollte sie über den Boden.

Das Geräusch war unüberhörbar. Böttchers Kopf fuhr herum, Tia spürte die Luftbewegung. Mit einem wütenden Schnauben ließ er von ihr ab und hechtete zur Seite, um die Lampe zu retten. Tia, plötzlich von seinem Griff befreit, wankte würgend auf der Stelle, besaß jedoch genug Geistesgegenwart, um ein Bein hochzureißen. Böttcher prallte dagegen, stolperte und stürzte auf Hände und Knie. Im nächsten Moment vernahm Tia das Geräusch der Lampe, die über den Rand der Grube kullerte, in die Tiefe fiel und platschend im Schlamm versank.

Kein Licht mehr – absolute Finsternis. Jetzt war sie es, die besser sah. Rasch fuhr sie herum und huschte davon.

«Schlampe!», brüllte Böttcher, der sich mühsam aufrappelte. «Verdammte heimtückische Schlampe!»

Tia hatte sich hinter eine der Steinsäulen geflüchtet, von denen der Raum kreuz und quer durchzogen war. In der Deckung kauernd, betastete sie ihre geschwollene Kehle und versuchte, das hörbare Pfeifen ihres Atems zu unterdrücken.

Schritte tappten, etwa zehn Meter entfernt. Tia begriff, dass Böttcher sich um sich selbst drehte und in jede Richtung lauschte. Sie glaubte, seine Gedanken zu erraten: In der vollkommenen Dunkelheit war er ihr nicht gewachsen. Gewiss konnte er sich zum Ausgang des Raums tasten und dort Stellung beziehen, um ihr den Fluchtweg zu versperren – doch das würde ihm nichts nützen. Es gab keinen Grund, warum Tia versuchen sollte, ins Freie zu entkommen. Leon würde zurückkehren und die Rettungskräfte mitbringen. Es war nur eine Frage der Zeit. Wenn Böttcher sie unschädlich machen wollte, musste er selbst einen Vorstoß wagen.

«Du kannst dich nicht verstecken!» Seine Schritte tappten ein Stück nach links – ungefähr die Richtung, in der Tia verschwunden war. «Ich kriege dich, verlass dich drauf!»

Ganz ruhig, dachte Tia und unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und tiefer in das Labyrinth zu flüchten. Er weiß nicht, wo ich bin. Er versucht mich nur zu verunsichern, damit ich mich verrate.

Sie verharrte stocksteif, bis Böttcher sich auf zwei Meter genähert hatte, und hörte ihn leise fluchen, als er gegen einen Steinsöller stieß.

«Ich weiß, dass du hier bist! Gib mir die Münze und das Probenröhrchen, dann können wir dieses Versteckspiel beenden.»

Tia mochte naiv sein, wenn es um das Einschätzen von Menschen ging, doch auf diese List einzugehen kam ihr nicht in den Sinn. Stattdessen wartete sie, bis Böttchers tastende Hände die Säule erreicht hatten, hinter der sie sich versteckte, und sondierte rasch das Gelände hinter sich. Die Luftbewegungen ließen auf mehrere verschachtelte Hohlräume schließen, doch wenn sie einfach aufsprang und losrannte, würde sie gewiss stolpern oder gegen eine Wand prallen. Sie brauchte dringend ein genaueres Bild – und das war nicht ohne Zungenecho zu bekommen. Konnte sie es wagen, zwei- oder dreimal leise zu schnalzen?

Böttchers Schritte erstarrten, als er das Geräusch hörte. Wahrscheinlich hatte er lauernd den Kopf erhoben, weil er die seltsamen Klicklaute nicht einzuordnen vermochte, die wie fallende Wassertropfen klangen.

Tia gab ihm keine Zeit, sich über seine Wahrnehmung klarzuwerden. Sobald das Echo sie mit den nötigen Informationen versorgt hatte, sprang sie aus ihrer Deckung und stürmte los. Böttcher stieß einen wütenden Schrei aus und setzte ihr nach, stolperte jedoch über den kegelförmig verdickten Fuß der Säule. Währenddessen hatte Tia die nächste Wand erreicht, tastete sich eilig daran entlang und duckte sich hinter einen Steinsockel.

«Seien Sie bloß vorsichtig!», rief sie in einem Anflug von Übermut. «Sie werden sich noch den Kopf einrennen!»

«Sei du bloß vorsichtig!», knurrte Böttcher, der sich aufgerappelt hatte. «Je mehr du redest, desto leichter finde ich dich.»

Genau das war Tias Plan: Direkt vor ihrem Versteck nämlich verlief ein Spalt im Boden. Er war nur eine Armlänge tief und nicht sehr breit, doch die Chancen standen gut, dass Böttcher hineintreten und sich vielleicht ein Bein verstauchen würde.

«Was haben Sie sich bei der Sache gedacht?», rief sie, um ihn zu reizen. «Warum verfrachten Sie Fässer mit Atommüll in ein stillgelegtes Bergwerk?»

Zu ihrer Überraschung antwortete Böttcher ohne Zögern.

«Es gab jemanden, der diesen Müll unbedingt loswerden wollte. Und wer es sich leisten kann, erledigt so eine Drecksarbeit natürlich nicht selbst, sondern bezahlt andere dafür.» Seine Stimme klang ruhig, während er sich zielstrebig näherte. Offenbar war er überzeugt, dass sie in der Falle saß. «Ich war nur der Chauffeur: einer von den sprichwörtlichen Kleinen, die man so gerne aufhängt, während man die Großen laufen lässt.»

«Und Sie glauben, das entschuldigt Ihr Tun?», gab Tia zurück. «Dann erklären Sie mir mal, warum in dieser Höhle zwei Tote liegen – und zwar, allem Anschein nach, polnische Hilfsarbeiter ohne professionelle Ausrüstung.»

«Es war ein Unfall», hallte Böttchers gedämpfte Stimme zu ihr herüber. «Natürlich brauchte ich Leute, die die Fässer nach unten schafften und in den Schacht warfen.»

«Illegale vermutlich, die bereit waren, für ein paar schnelle Euros jeden Job zu erledigen?»

«Es war ein Unfall!», wiederholte Böttcher. «Eins der Fässer hat sich im Schacht verkeilt und ist stecken geblieben. Wir nahmen ein Seil zur Hilfe, und ich schickte einen der Jungs in den Schacht hinunter, um es freizubekommen. Dabei ist er abgestürzt und in der Höhle gelandet. Der andere geriet in Panik und bestand darauf, selbst in den Schacht zu steigen und ihn herauszuholen. Idiot. Als er unten war, hörte ich ihn rufen: Mein Freund schwer verletzt! Kann nicht klettern! Brauchen Arzt!»

Tia lauschte mit wachsendem Entsetzen. «Und da haben sie einfach das Seil wieder heraufgezogen und die beiden sich selbst überlassen?»

«Was hätte ich denn tun sollen?», zischte Böttcher. «Ich konnte ja schlecht den Rettungsdienst rufen!»

Tia schüttelte langsam den Kopf, als könnte sie dadurch die unglaubliche Wahrheit abwehren. Grauen hatte sie ergriffen vor dem Schicksal jener beiden Männer, die womöglich stunden- oder tagelang verzweifelt um Hilfe geschrien hatten – und Grauen vor dem Mann, der wenige Meter entfernt im Schutz der Dunkelheit auf sie zu pirschte.

Was mochte in ihm vorgegangen sein, als er damals das Bergwerk verlassen hatte, während hinter ihm die Schreie der Eingeschlossenen gellten?

Gar nichts, erkannte sie. Wahrscheinlich war er bloß froh gewesen, dass die Hilfsarbeiter illegal im Land waren und folglich von niemandem vermisst wurden. Er hatte keinerlei Skrupel … und gewiss würde er auch nicht zögern, sie aus dem Weg zu schaffen. Echte Todesangst ließ ihre Beine zittern, während sie sich an die Felswand in ihrem Rücken drückte.

«Ich habe Leon alles erzählt!», rief sie im Versuch einer verzweifelten Ausflucht. «Er weiß von den Kennzeichen auf den Fässern und dass ich eine Probe genommen habe!»

«Du hast niemandem etwas erzählt», konterte Böttcher. «Das sagst du nur, um deine Haut zu retten. Glaub ja nicht, dass ich …»

Er verstummte abrupt, und Tia hörte seine Hose scharren. Böttcher war in die Knie gegangen und prüfte den Boden, gerade als er den Rand der Felsspalte erreicht hatte. Diesmal war er vorsichtig gewesen und hatte die Falle entdeckt.

«Kleines Biest!», zischte er. Dann tappten seine Füße nach rechts, und Tia begriff, dass er das Hindernis seitlich umrundete.

Weg hier!, durchzuckte es sie. Böttcher war eben im Begriff, ihr den Fluchtweg abzuschneiden, den sie sich zurechtgelegt hatte. Notgedrungen brach sie zur anderen Seite aus, ohne sich die Zeit für einen Echo-Scan zu nehmen, und prallte prompt gegen einen Felsvorsprung.

«Hab ich dich!», schrie Böttcher, der ihr erschrockenes Keuchen vernahm, und hechtete auf sie zu.

Tia spürte den Luftzug seiner fuchtelnden Hände und entkam ihm nur um Haaresbreite. Blindlings flüchtete sie ins Dunkel, drehte sich auf der Stelle und schoss panische Klicklaute in jede Richtung. Ein schmaler Durchgang bildete sich in ihrem Geist ab, und sie schlüpfte rasch hinein.

«Miststück!» Böttchers Stimme klang nicht halb so außer Atem, wie Tia sich fühlte. Diesmal hatte er die Ruhe bewahrt, während sie in Panik geraten war. Behutsam pirschte er voran, langsam, aber in der richtigen Richtung.

Er lernt schnell, dachte Tia mit Schrecken. Bemüht, kein Geräusch zu machen, zog sie sich tiefer in den Hohlraum hinter dem Durchgang zurück.

«Warum willst du eigentlich deine vorlaute Klappe nicht halten?», drang Böttchers Stimme zu ihr herüber. «Du hättest die beiden Kinder hinausbringen, zehntausend Euro kassieren und an deine Uni zurückkehren können – alle wären glücklich gewesen. Aber nein, du musstest ja unbedingt die Detektivin spielen.»

Tia tastete die Rückwand ihres Verstecks ab und entdeckte mehrere enge Nischen, aber keinen Ausgang. Der Raum war eine Sackgasse.

«Du fühlst dich moralisch überlegen, nicht wahr? Du glaubst, du bist etwas Besseres als ich – aber weißt du was? Für mich bist du nichts weiter als eine naseweise Göre.» Böttcher hatte den Durchgang erreicht und tastete sich hinein. «Ihr Studenten! An eurer Hochschule schwatzt ihr bestimmt abgehobenes Zeug über Umweltschutz, aber wie es in der Welt wirklich zugeht, davon habt ihr keinen Schimmer. Andere Leute müssen sich nämlich ihren Lebensunterhalt verdienen und zusehen, dass sie ihre Rechnungen bezahlen können. Mit der Annahme von Aufträgen darf man nicht wählerisch sein, wenn man als kleiner Unternehmer überleben will.»

Was jetzt? Was jetzt?, hämmerte es in Tias Kopf.

Da ihr kein Ausweg einfiel, drückte sie sich an die Wand, verharrte stocksteif und lauschte auf die näher kommende Stimme. Noch vier Meter, noch drei … innerlich spannte sie sich in der Erwartung, Böttchers ausgestreckte Hände auf ihren Körper treffen zu spüren. Vielleicht konnte sie sich unter ihm wegducken und zum Ausgang flüchten – doch die Chance war gering. Der Hohlraum war zu eng. Böttcher würde sie zu fassen bekommen, bevor sie an ihm vorbeikam. Seine kräftigen Hände würden sie packen, sie mühelos festhalten und erneut den Weg zu ihrer Kehle finden.