Zehn Minuten später saßen beide im Wagen und brausten über die beinahe leergefegte Autobahn. Während Leon das Navi einschaltete, um die richtige Ausfahrt nicht zu verpassen, warf er einen Seitenblick auf Tia. Sie schwieg und hatte den Kopf zum Fenster gewandt, als starre sie nach draußen in die Dunkelheit. Was sie wohl sieht?, fragte er sich. Bilder aus der Vergangenheit vielleicht?
Er ahnte, dass sie in Gedanken bei den beiden verunglückten Jugendlichen war – und das erinnerte sie zweifellos an ihren eigenen, schicksalhaften Unfall vor fünfzehn Jahren. Ob sie gerade ihre letzten Wahrnehmungen aus der Welt des Lichts rekapitulierte? Blitzendes Blaulicht, das Innere des Notarztwagens, die weiße Decke des Krankenhauszimmers? Leon wusste, dass diese Bilder sie noch heute gelegentlich heimsuchten, denn manchmal hörte er sie im Schlaf sprechen, wenn er spätabends an ihrer Zimmertür vorbeiging. Nur mit Mühe konnte er sich in solchen Momenten davon abhalten, einfach hineinzugehen, sich an ihr Bett zu setzen und sie in die Arme zu nehmen.
Doch Leon wagte es nicht, ihr so nahe zu kommen. Aus reiner Vernunft hatte er sich strenge Grenzen gesetzt. Dass sie auf der Straße an seinem Arm ging, war bereits das Äußerste, was er ertragen konnte. Ansonsten vermied er es, sie zu berühren. Selbst jetzt, da sie neben ihm im Wagen saß, spürte er ihre Nähe wie ein prickelndes elektrisches Feld, das ihn verwirrte und ablenkte. Tia trug ihren Cave-Suit, dazu ihre Lieblingsstiefel mit den hohen Profilsohlen. Darüber hatte sie einen weiten Fleecemantel gezogen – weniger der Wärme wegen, wie Leon wusste, sondern um sich in der Öffentlichkeit bedeckt zu halten.
Er seufzte heimlich. Ihm gegenüber zeigte sie nicht das geringste Schamgefühl: Vorhin zum Beispiel, im Hotelzimmer, hatte sie sich wie üblich vor seinen Augen umgezogen und ihn sogar gebeten, ihr mit dem Reißverschluss zu helfen. Dass Leon Qualen ausstand, wenn sie beim Duschen die Badezimmertür offenließ oder im knappen Achselhemdchen durch die gemeinsame Wohnung huschte, schien sie nicht im mindesten zu ahnen. Eigentlich, sagte er sich, konnte er froh sein, dass sie den Abend nicht im Hotel verbrachten, denn sie hatten wie üblich – aus Kostengründen – ein Doppelzimmer gebucht. Vermutlich hätten sie nebeneinander auf dem Bett gelegen und den Fernseher laufen lassen, obwohl keiner von beiden hinsah: Tia nicht, weil sie nur den Ton hörte, und Leon nicht, weil sein Blick an ihr statt am Bildschirm klebte. Wie üblich hätte sie still dagelegen, nur mit einem hüftlangen Nachthemd bekleidet, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die herrlichen Beine lang ausgestreckt. Leon hätte eine Handbreit Abstand gehalten, aber dennoch ihre Wärme gespürt – Tias Körpertemperatur schien stets ein paar Zehntelgrade über der anderer Menschen zu liegen und umgab sie wie mit einer energetischen Aura.
Finde dich endlich damit ab, sagte er sich seufzend. Für sie bist du nur ein guter Freund und wirst niemals etwas anderes sein.
Leon schreckte auf, als das Handy klingelte, während er gerade einen Lastwagen überholte. Tia griff ins Handschuhfach und holte das Telefon hervor.
«Ja? … Ach, Papa, du bist es … Nein, wir sind gerade unterwegs … nichts Besonderes, nur eine kleine Spritztour in die Umgebung. Mach dir keine Sorgen. Ich ruf dich morgen wieder an.»
Leon wunderte sich nicht im Geringsten. Wie üblich schonte Tia ihren Vater, der nicht bei bester Gesundheit war, und verlor kein Wort über den wahren Zweck ihres abendlichen Ausflugs.
«Warum machst du das eigentlich?», fragte er, nachdem sie das Handy wieder verstaut hatte.
Tia wandte sich ihm erstaunt zu. «Was meinst du?»
«Du bist Wissenschaftlerin. Warum hilfst du bei Rettungseinsätzen?»
«Findest du das nicht richtig?»
«Doch, doch», beeilte Leon sich zu versichern. «Ich frage mich nur, warum du dich … gewissermaßen dafür zuständig fühlst. Ich meine: Da geraten wildfremde Menschen in Not, und nur weil du zufällig in der Nachbarstadt einen Vortrag hältst …»
Tia zuckte die Achseln. «Es ist mir einfach ein Bedürfnis. Stell dir vor, du würdest in einem Bergwerk oder in einer Höhle verschüttet. Die meisten Menschen sind im Dunkeln völlig hilflos und haben panische Angst. Ich kann mir das gut vorstellen, schließlich war ich nicht immer blind. Oder willst du sagen, dass ich unter einem Helfersyndrom leide?»
«Nein, das glaube ich nicht», sagte Leon. «Ich glaube nur, dass du sehr oft an ein gewisses zwölfjähriges Mädchen denkst, das in einem verunglückten Wagen eingeklemmt war und vielleicht ihr Augenlicht behalten hätte, wenn sie rechtzeitig befreit worden wäre. Habe ich recht?»
Tia schmunzelte. «Du hörst dich an wie Dr. Täubner.»
«Wie wer?»
«Mein Hausarzt. Der hat mich auch einmal in so ein Gespräch verwickelt … Glaubte wohl, er müsste den Psychologen herauskehren.»
«Und? Was hat er gesagt?»
«Ach, vergiss es.» Tia winkte ab. «Ehrlich, Leon – ich weiß, dass du nicht so scharf auf Rettungseinsätze bist. Und ich weiß, dass ich ungefragt über deine Zeit verfüge und nicht einmal ausschließen kann, dass die Aktion Gefahren mit sich bringt. Ich kann dich nur bitten, mich zu verstehen. Es geht um zwei Jugendliche, einen Jungen und ein Mädchen. Sie sind in eine Höhle gestürzt, wahrscheinlich verletzt, desorientiert und halb wahnsinnig vor Angst. Es wäre mir unerträglich, jetzt im Hotel vor dem Fernseher zu sitzen und zu wissen, dass ich ihnen vielleicht helfen könnte.»
«Menschenleben bedeuten dir viel, nicht wahr?» Leon, der Tias Philosophie kannte, nickte respektvoll. Er bewunderte ihre Einstellung aufrichtig, dennoch konnte er sich seine nächste Bemerkung nicht verkneifen. «Gibt es eigentlich niemanden, der dir vielleicht ein wenig mehr bedeutet als die anderen?»
«Wie meinst du das?»
«Ich meine: Jemanden, um den du dich kümmern würdest, auch wenn er nicht gerade in Lebensgefahr wäre.»
Tia lachte. «Natürlich.»
«Sag bloß! Und wer ist der Glückliche?»
«Mein Vater.»
«Sonst niemand?»
«Worauf willst du hinaus?»
«Wie wär’s zum Beispiel mit einem Mann? Seit ich dich kenne, bist du Single.»
«Ach, Leon …» Tia seufzte. «Das ist nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um über mein Liebesleben zu sprechen. Wir sind auf dem Weg zu einem Rettungseinsatz, falls du es vergessen hast.»
Leon schwieg gekränkt. Tia schien es zu bemerken, jedoch wie üblich misszudeuten, denn sie strich versöhnlich über seine Hand, die auf dem Schalthebel ruhte.
«Aber es ist süß, dass du dir darüber Gedanken machst.»
Das Wort «süß», ebenso wie die flüchtige Berührung, trieb Leon einen Schauder über den Rücken. Nicht der richtige Zeitpunkt also, dachte er. Irgendwie ist nie der richtige Zeitpunkt.
«Im Übrigen bist du doch selbst seit langem Single», neckte ihn Tia im Plauderton. «Das finde ich schon erstaunlich. Zwar habe ich dich nie gesehen, aber ich weiß, dass du gut aussiehst – das sagen jedenfalls die Studentinnen an der Uni.»
«Ich bin erst Single, seit ich mit dir zusammenlebe», stellte Leon in einem Anflug von Kühnheit richtig.
(Na? Muss ich noch deutlicher werden?)
«Tut mir leid», sagte Tia ernst. «Ich hatte schon immer den Verdacht, dass unsere Wohngemeinschaft dich daran hindert, Frauen kennenzulernen. Ich beanspruche dich ja auch viel mehr als ein gewöhnlicher Mitbewohner. Vielleicht sollte ich einmal allein auf Reisen gehen, damit du mehr Zeit für dich hast.»
Okay, ich geb’s auf, dachte Leon resigniert. Allein auf Reisen gehen … Das hätte sie vermutlich sogar fertiggebracht. Sie brauchte ihn ja kaum, allenfalls als Chauffeur. Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte, Tia zu chauffieren. Er hätte noch ganz andere Dinge getan, wenn sie es ihm gestattet hätte – tatsächlich gab es kaum etwas, das er nicht für sie zu tun bereit war.
Leon war achtundzwanzig, hatte seit kurzem sein Diplom in der Tasche und war als Geophysiker bei einem Berliner Ingenieurbüro angestellt. Tia hatte er an der Universität kennengelernt, wo sie in einem Hauptseminar sehr eloquent über Karstquellen im Alpenvorland referiert hatte. Näher gekommen waren sie sich bei der anschließenden Diskussion, die nach Ende des Seminars in einer Kneipe fortgesetzt worden war. Leon hatte es kaum erwarten können, dass die anderen Teilnehmer nach Hause gingen, und bis ein Uhr morgens ausgeharrt, um endlich mit ihr allein zu sein. Fast wäre er so weit gewesen, schon bei diesem ersten Treffen seine Absichten preiszugeben, doch es war ihm nicht gelungen, sich zwischen der Frage «Wie können so schöne Augen blind sein?» und der konkurrierenden Version «Wie können blinde Augen so schön sein?» zu entscheiden. Letztlich hatte er den Mund gehalten und sich in der Betrachtung ihres Gesichts verloren, ungeniert in dem Wissen, dass sie es nicht bemerken konnte.
Anschließend hatten sie sich öfter getroffen, manchmal mit Freunden, manchmal zu zweit, und als Tia schließlich beiläufig erwähnt hatte, dass ihre Mitbewohnerin ausziehen wollte, hatte Leon zugeschlagen und behauptet, er suche schon seit langem eine neue Wohnung. Tia, ehrlich erfreut und völlig arglos, hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er jederzeit einziehen könne. Allerdings müsse er damit rechnen, dass sie aufgrund ihrer Behinderung gelegentlich Hilfe brauchen würde. Falls dies eine Warnung sein sollte, verfehlte sie ihre Wirkung gründlich – selbstverständlich hatte Leon ihr Angebot angenommen und nur mit Mühe verbergen können, wie glücklich er darüber war.
Inzwischen lebten sie seit zwei Jahren zusammen. Sie teilten Küche und Bad, kauften gemeinsam ein, verbrachten einen Großteil ihrer Freizeit miteinander und gingen zusammen auf Reisen. Sowohl in Leons Betrieb als auch in der Universität wurde allgemein angenommen, sie seien ein Paar – und Leon tat sich schwer, mit der Wahrheit herauszurücken, wenn Freunde ihn danach fragten.
«Wir wohnen zusammen, und wir arbeiten zusammen», sagte er meistens – und so war es schließlich auch.
Leon hatte miterlebt, wie Tia zu landesweitem Ruhm gelangte, indem sie diverse Rekorde im Höhlenklettern brach. Stets war er dabei gewesen, wenn sie auf eine ihrer Touren ging, auch wenn er selbst die gefahrvollen Tiefen der Erde nicht liebte und sich damit begnügte, das Abseilgerät zu bedienen und die Sicherheitsleine zu halten. Bei der Rettungsaktion in Biedersheim hatte der Einsatzleiter ihn – Leon – mit größter Selbstverständlichkeit als «Frau Traveens Assistenten» vorgestellt.
Doch all das bekümmerte Leon nicht. Es bekümmerte ihn nicht, in Tias Schatten zu stehen, ebenso wenig, dass sie im Gegensatz zu ihm eine Assistentenstelle an der Universität bekommen hatte, und auch nicht, dass er sie auf ihren Expeditionen an die Adria, in die Karpaten oder nach England begleitete, wo ihre waghalsigen Klettertouren für Schlagzeilen sorgten, während sein Name nicht einmal erwähnt wurde. Ihn bekümmerte lediglich eines, das aber jeden Tag aufs Neue: Dass die Frau, in die er seit zwei Jahren ebenso heftig wie fortdauernd verliebt war, in ihm nur einen guten Freund sah.
Vielleicht bin ich selbst schuld, dachte er. Schließlich habe ich es ihr niemals gesagt.