••• 22 : 20 ••• BRINGSHAUS •••

Während Leon sein Abseilgerät einklinkte und in den Schacht stieg, war Jörn Bringshaus an die Wand zurückgewichen, unfähig, irgendetwas zu tun. Der Anblick Justins, der wie aus dem Nichts aufgetaucht und in den Schacht gesprungen war, hatte jeden Rest taktischen Denkens in ihm ausgelöscht.

Bitte, Gott, nein!, flehte er stumm. Nicht auch noch mein Sohn!

Es war an der Zeit, dass er sich seiner Verantwortung stellte und die Folgen in Kauf nahm. Er öffnete bereits den Mund, doch Böttcher, der eine Hand auf seinen Arm gelegt hatte, brachte ihn mit einem warnenden Zischen zur Besinnung.

«Was ist da oben los?», drang Tias Stimme aus der Tiefe. «Leon, melde dich!»

Da Bringshaus zu keiner Reaktion fähig war, ergriff Böttcher das Funkgerät. «Hören Sie? Danas Freund Justin hat sich in den Schacht gestürzt und ist auf halber Höhe hängengeblieben. Ihr Partner ist auf dem Weg nach unten, um ihn zu holen.»

«Auch das noch! Vielleicht kann ich hinaufklettern und ihm helfen.»

«Nein, bleiben Sie bloß vom Schacht weg!», riet Böttcher energisch. «Das Gestein ist instabil geworden. Hier oben fallen schon Bruchstücke von der Decke!»

«Sehen Sie doch!», rief plötzlich der Notarzt und deutete auf die Vorrichtung, an der das Kletterseil hing. Unter der doppelten Last hatte der Haken sich in Bewegung gesetzt und rutschte knirschend ein Stück aus seinem Bohrloch, während ringsherum kleine Steine herabregneten. «Er bricht heraus! Wir müssen das Seil festhalten, sonst stürzen sie beide ab!»

Er sprang vor – doch im selben Augenblick gab die Wand hinter der Schachtöffnung nach. Ein Felskoloss von zwei Meter Größe brach heraus, neigte sich erstaunlich langsam zur Seite und krachte zu Boden. Der Haken mit dem Kletterseil schoss wie ein Sektkorken aus seiner Verankerung und verschwand in der Schachtöffnung.

«In Deckung!», brüllte Havermann und zog den Notarzt am Kragen fort.

Alle hasteten aus dem engen Gang in die angrenzende Kammer, stolpernd und fluchend. Die Warnung war keine Sekunde zu früh gekommen: Im nächsten Moment brach die Decke ein und verschüttete den Gang mit tonnenschweren Gesteinsbrocken, die beim Aufprall schollenförmig zerbarsten und sich übereinanderstapelten. Ein Hagelschauer kleinerer Steine folgte, und die gesamte hintere Seite der Abbaukammer verschwand unter einer Lawine aus Geröll.

Bringshaus hatte die Rückwand der Kammer als Erster erreicht und duckte sich unter einen Felsvorsprung. Als eine Staubwolke auf ihn zuschoss, riss er instinktiv die Arme vors Gesicht. Das Bersten und Krachen, das die Kammer erschüttert hatte, verklang. Stattdessen erfüllten Schreie und hastende Schritte die Luft. Er begriff, dass er unverletzt war, hustete und blinzelte sich die Augen frei.

Etwa ein Drittel der glockenförmigen Kammer hatte sich in seine Bestandteile aufgelöst und einen Wall aus Bruchsteinen gebildet. Versprengter Schutt bedeckte den Boden. Ein Mann lag stöhnend im Staub und stützte sich auf den Ellbogen hoch, während aus einer Platzwunde an seiner Stirn Blut hervorquoll. Bringshaus erkannte den Notarzt. Havermann, der Rettungsleiter – seinerseits unverletzt – versuchte ihm aufzuhelfen. Die beiden jungen Männer in seiner Begleitung hatten sich zum Ausgang geflüchtet. Einer hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein.

«Jörn?» Das staubbedeckte Gesicht Böttchers tauchte vor Bringshaus’ Augen auf. «Alles in Ordnung?»

Bringshaus nickte zittrig.

«Mein Sohn», stammelte er. «Was ist mit meinem Sohn?»

Böttcher presste das Funkgerät ans Ohr. «Frau Traveen! Können Sie mich hören?»

Es dauerte einen Moment, bis Tia antwortete.

«Ich bin hier.»

«Sind Sie verletzt? Die Decke über der Schachtöffnung ist eingestürzt …»

«Das war ja nicht zu überhören», sagte Tia grimmig. «Warten Sie, ich bin auf der Suche nach meinem Partner. – Leon?» Jetzt schrie sie. «Leon! – Justin!»

Bringshaus, an Böttchers Seite stehend, wartete mit klopfendem Herzen. Undeutliche Geräusche drangen aus dem Funkgerät, rasche Schritte, ein Scharren, schließlich ein Stöhnen, gefolgt von einem Stoßseufzer.

«Dem Himmel sei Dank … Justin, sind Sie das?»

Unbeherrscht riss Bringshaus, der die Spannung nicht mehr ertragen konnte, das Funkgerät an sich. «Hier ist Bringshaus! Um Gottes willen, was …?»

«Entwarnung!», meldete Tia. «Ihr Sohn scheint mehr als einen Schutzengel zu haben. Er hat sich die Schulter angeschlagen, aber ansonsten ist er okay.»

Bringshaus fühlte, wie seine Knie weich wurden, und sank gegen die Wand in seinem Rücken.

Erneut übernahm Böttcher das Funkgerät. «Was ist mit Ihrem Partner?»

«Sie haben es beide mit leichten Blessuren überstanden», sagte Tia, deren Stimme nun deutlich die Erleichterung anzumerken war. «Offenbar befanden sie sich schon relativ nah an der unteren Schachtöffnung und sind nicht tief gestürzt. Zum Glück ist hier alles von diesem merkwürdigen Fasergeflecht überwuchert – das hat ihre Landung abgefedert.»

«Also sind Sie alle mehr oder weniger in Ordnung?»

«Ja. Allerdings sind ein paar Gesteinsbrocken heruntergekommen. Einer hat Justin an der Schulter getroffen, ein anderer hat Leons Helm erwischt und seine Lampe zerschlagen. Wir haben also keine Lichtquelle hier unten, sondern sitzen im Stockdunkeln fest.»

«Lass mich mit meinem Sohn reden!», verlangte Bringshaus und streckte die Hand nach dem Funkgerät aus. Er musste Justin einfach sagen, wie leid ihm alles tat und dass er jede Anstrengung unternehmen würde, um ihn zu retten. Doch Böttcher, dem seine desolate Verfassung nicht verborgen blieb, schüttelte stumm den Kopf.

«Hören Sie», sagte er vorsichtig. «Wir stehen hier oben vor einer senkrechten Wand aus Bruchsteinen, einige davon metergroß. Mit Hacke und Spaten kommen wir niemals an den Schacht heran. Wir werden auf das Bergungsteam warten müssen.»

«Verstehe», gab Tia zurück. «Im Klartext: Es besteht also wenig Aussicht, dass Sie uns innerhalb der nächsten Stunden hier herauskriegen. Richtig?»

«Ich befürchte es.»

Tia schwieg einen Moment.

«Also gut», sagte sie schließlich. «Ich lasse mir etwas einfallen. Bleiben Sie dran!»

«Werde ich», versprach Böttcher, steckte das Funkgerät in seinen Gürtel und wandte sich den anderen Männern in der Kammer zu. «Also: Im Augenblick können wir nichts weiter tun, als auf das Bergungsteam zu warten.»

«Ich werde mit der Rettungsleitstelle telefonieren und die Lage schildern», schlug Havermann vor. «Vielleicht können wir spezielles Räumgerät anfordern. Dazu müsste ich allerdings nach oben, denn hier funktionieren ja keine Handys.»

«Alles klar», nickte Böttcher. «Nehmen Sie ruhig Ihre Leute mit und bringen Sie den Arzt zur Ambulanz. Herr Bringshaus und ich halten hier unten die Stellung.»

«Wie geht es Ihnen?», fragte Havermann den Notarzt, der sich Blut aus dem Gesicht wischte.

«Es geht schon», lallte dieser und versuchte aufzustehen, knickte jedoch sofort wieder ein.

«Tja, Doktor – jetzt müssen wir Sie wohl auf Ihrer eigenen Trage hinausschaffen», meinte Havermann und winkte seine beiden Helfer heran. «Können wir Sie hier unten wirklich allein lassen?», wandte er sich noch einmal an Böttcher. «Was ist, wenn noch mehr von der Decke herunterkommt? Vielleicht sollte die Kammer geräumt werden.»

«Das kann Herr Bringshaus am besten beurteilen», erklärte Böttcher bündig, «schließlich ist er der Ingenieur.»

Havermann nickte und nahm das Ende der Trage auf.

Als die Männer sich entfernt hatten, atmete Böttcher hörbar auf. Erneut nahm er das Funkgerät zur Hand, suchte einen Augenblick nach dem Hauptschalter und klickte ihn aus.

Bringshaus fuhr erschrocken auf. «Was tust du da?»

«Keine Sorge, ich schalte gleich wieder ein. Ich wollte nur ungestört mit dir reden.»

«Was gibt es da noch zu reden?» Bringshaus schüttelte den Kopf. «Das Spiel ist vorbei, Hartmut!»

«Ist es nicht! Du hast es doch gehört: Sie haben kein Licht und können nicht das Geringste sehen. Wenn du dich jetzt zusammenreißt und die Nerven behältst …»

«Mein Sohn ist da unten!», explodierte Bringshaus. «Wenn er nicht innerhalb der nächsten Stunden gerettet wird, könnte er sterben!»

Die ganze Ausweglosigkeit der Lage kam ihm plötzlich wie in einem verspäteten Reflex zu Bewusstsein, und nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, vor Verzweiflung mit den Fäusten gegen die Wand zu trommeln.

Böttcher betrachtete ihn abschätzend, seinerseits mit unbewegtem Gesicht. «Du redest Unsinn, Jörn. Dana ist seit Stunden in dieser Höhle und quicklebendig.»

«Aber wir müssen es ihnen sagen!», beharrte Bringshaus. «Sie müssen erfahren, dass … Lass mich mit meinem Sohn reden!»

«Nicht, solange du so aus dem Häuschen bist.»

«Hartmut! Lass mich sofort mit meinem Sohn reden!»

«Immer mit der Ruhe!», fauchte Böttcher und versetzte Bringshaus einen harten Stoß vor die Brust, als der nach dem Funkgerät greifen wollte. «Komm zu dir, Jörn, sonst muss ich andere Saiten aufziehen!»

Bringshaus war gegen die Wand geprallt und starrte seinen alten Schulfreund schweratmend an.

Es ist alles meine Schuld, dachte er. Warum nur habe ich mich jemals mit ihm eingelassen?

Am liebsten wäre er auf Böttcher losgegangen, war sich jedoch bewusst, dass er ihm körperlich unterlegen war. Böttcher mochte einen halben Kopf kleiner sein, doch er war kompakt gebaut und hatte ein Kreuz wie ein Ringer. Mehr noch als seine Kraft jedoch war es sein Gesicht, das Bringshaus einschüchterte: Die Maske des mittelständischen Unternehmers war abgefallen, und zum Vorschein kam die Fratze eines Raubtiers, das drohend die Zähne bleckte.

«Ich sage es dir noch einmal», wiederholte Böttcher, «reiß dich zusammen, Jörn! Du spielst nicht nur mit deiner Existenz, sondern auch mit meiner, und ich werde nicht zulassen, dass du eine Dummheit begehst. Ist das klar?»

Bringshaus, der seinem Blick nicht standhalten konnte, schlug die Augen nieder.

In seinem Innern jedoch kochte er vor Zorn. War es nicht immer so gewesen zwischen ihnen, schon in der Schule? War es nicht Böttcher gewesen, der jene Clique pubertierender Jungen angeführt hatte, unter denen Jörn Bringshaus nur ein Mitläufer gewesen war? Hatte er nicht alles getan, was Böttcher von ihm verlangte, aus dem aberwitzigen Bedürfnis heraus, sich dem älteren, allgemein bewunderten Jungen zu beweisen?

Nach der Schule hatten sich ihre Wege zunächst getrennt: Böttcher hatte eine Firma gegründet, Bringshaus das Abitur nachgemacht. Am Ende aber war Bringshaus wieder in seiner Heimatstadt gelandet, und eines Tages war Böttcher zu ihm gekommen, um ihn zur Eröffnung seines Ingenieurbüros zu beglückwünschen und auf alte Zeiten anzustoßen. Die erneuerte Freundschaft hatte einen sehr hilfreichen Nebenaspekt gehabt, denn Böttcher kannte einen Beamten bei der Stadtverwaltung, der bereit war, ihnen beiden öffentliche Aufträge zuzuschanzen.

Es war ein Fehler, dachte Bringshaus, die größte Dummheit meines Lebens. Ich werde dem ein Ende machen, ob es ihm nun passt oder nicht. Er sagt, ich spiele mit seiner Existenz. Na schön. Aber er spielt mit dem Leben meines Sohnes!

Bringshaus blickte auf. Böttcher, offenbar von der Fügsamkeit seines Freundes überzeugt, hatte sich abgewandt und erneut das Funkgerät zur Hand genommen. Als er es einschaltete, ergriff Bringshaus überraschend seine Chance, stieß sich von der Wand ab und schnellte vorwärts. Doch er hatte nicht mit Böttchers Wachsamkeit gerechnet. Dieser nämlich sah ihn kommen, fuhr im letzten Moment herum und riss den Ellbogen hoch. Bringshaus spürte einen heftigen Schlag, wurde zur Seite geschleudert, taumelte – und als er sich wieder aufrichtete, sah er nur noch eine geballte Faust, die geradewegs auf sein Gesicht zukam.

Dann wurde alles schwarz.