Es war kalt. Es war feucht. Und es war stockdunkel.
Danas Geist war davongeschwebt, irrte durch ferne Tiefen, füllte sich mit Bildern. Sie war wieder sieben Jahre alt, ein kleines, pummeliges Mädchen mit rotblonden Locken und großen, schüchternen Augen, die stets mit einem Ausdruck banger Besorgnis in die Welt blickten.
Wie stets hatte sie den Nachmittag allein verbracht und darauf gewartet, dass ihre Mutter von der Spätschicht heimkam. An jenem Tag jedoch war Ludmila Novak länger ausgeblieben als sonst, und gegen acht Uhr, als es draußen bereits dunkel war, wagte Dana sich in den Keller hinunter, um eine Flasche Limonade aus der Vorratskammer zu holen. Normalerweise ging sie nie allein in den Keller, denn der unübersichtliche, halb mit Gerümpel zugestellte Raum machte ihr Angst. Diesmal jedoch war ihr Durst größer als ihr Unbehagen, und so öffnete sie die schwere Tür, die schmatzend hinter ihr ins Schloss fiel, schaltete das Kellerlicht ein und schlich sich beklommen die steinerne Treppe hinab.
Wovor sie sich eigentlich fürchtete, hätte Dana nicht zu sagen gewusst. In den Keller zu gehen gehörte nicht zu den «gefährlichen» Dingen, vor denen ihre Mutter sie ständig warnte. «Gefährlich» war vieles, zum Beispiel in der Schule aufs Klo zu gehen, ohne sich nachher die Hände mit einem Desinfektionstuch abzureiben, oder etwas zu essen von Fremden anzunehmen, selbst wenn es Kinder aus Danas Schulklasse waren. Gefährlich war außerdem, auf der Straße den Blick zu heben und Leuten ins Gesicht zu sehen, vor allem Jungen und erst recht ausgewachsenen Männern. Danas Mutter wiederholte fast täglich, dass es böse Männer gebe, die ein kleines Mädchen nicht auf sich aufmerksam machen dürfe. Sie ließ offen, welche Gefahr von diesen Männern drohte, und Dana wagte nicht zu fragen. In ihrer Phantasie jedoch hatte sich allmählich die ganze Welt mit bösen Männern bevölkert, die überall lauern konnten: Auf der Straße, im Wald hinter der Vorstadtsiedlung, sogar im Treppenhaus der dreistöckigen Mietskaserne, in deren Erdgeschoss die Wohnung lag.
Im Keller gibt es keine bösen Männer, versuchte sie sich zu beruhigen, während sie sich quer durch den schummrig beleuchteten Raum tastete, der nur ein einziges, von Staub und Schmutz erblindetes Souterrainfenster besaß. Sie kam bis zur Vorratskammer und streckte eine Hand nach dem Lichtschalter aus, der gewöhnlich eine nackte Glühbirne hinter der hölzernen Tür aufflammen ließ. An diesem Tag jedoch wurde der Griff ihr zum Verhängnis: Nur für einen Sekundenbruchteil glühte die Lampe auf, dann gab es einen lauten Knall, gefolgt vom Rieseln feiner Glassplitter, und in der gesamten Wohnung gingen die Lichter aus.
Dana erstarrte, als hätte man ihren Körper in Eiswasser getaucht. Sie verstand, dass die Glühbirne durchgebrannt war, und erinnerte sich dunkel, dass man einen Stromausfall an einem bestimmten Ort im Flur beheben konnte, den ihre Mutter «Sicherungskasten» nannte. Doch der Gedanke, den Weg durch den Keller, die Treppe hinauf und quer durch die Wohnung im Stockdunkeln zurückzulegen, verwandelte ihre Angst in nacktes Grauen. Aus allen Winkeln erhoben sich plötzlich unsichtbare Schatten, kriechende, tastende, hungrige Wesen, die nur aus Schwärze und Stille bestanden. Ihre vielfingrigen Gliedmaßen wuchsen wie Tentakel quer durch den Raum, verschlangen sich zu einem dichten Gewebe und umfingen das Mädchen, dass sich wie gelähmt an die Wand drückte, mit einem würgenden Netz.
Panik ergriff Dana. Noch immer war sie nicht in der Lage, ihren Halt an der Wand aufzugeben, doch gelang es ihr schließlich, die Finger zu bewegen und nach dem ausrangierten Kleiderschrank zu tasten, der neben dem Durchgang zur Vorratskammer stand. Dabei lief ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, denn sie konnte die Vorstellung nicht abschütteln, dass ihre Finger jeden Moment auf etwas Fremdes, Lebendiges, zottig Behaartes stoßen würden.
Eine Tür des Kleiderschranks war seit langem herausgebrochen. Es gelang Dana, die Öffnung zu ertasten, sich zentimeterweise darauf zuzuschieben und schließlich hineinzuzwängen, schaudernd beim leisen Knarren des alten Holzes. Sie verkroch sich im hintersten Winkel des Schranks, glitt langsam an der Rückwand zu Boden und schlang die Arme um die Knie. In diesem Moment krabbelte eine aufgescheuchte Spinne über ihre nackten Füße. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie vor Schreck und Ekel aufgeschrien, doch die Zunge klebte ihr am Gaumen, und lediglich ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz, während sie undeutlich fühlte, wie ihre Blase sich entleerte.
Eine scheinbare Ewigkeit saß sie da, ohne einen Finger zu rühren, verkrampft und erstarrt. Selbst eine halbe Stunde später, als endlich der Schlüssel an der Wohnungstür rasselte, konnte sie keinen Laut von sich geben, nicht einmal auf die besorgten Rufe ihrer Mutter antworten. Erst als die Sicherung wieder eingesetzt war und das Licht am oberen Treppenabsatz neben der Kellertür aufflammte, begann sie verzweifelt zu schreien – und konnte nicht mehr aufhören, bis ihre Mutter sie endlich entdeckt und aus ihrem Gefängnis befreit hatte.
Seit jenem Tag hatte Dana panische Angst vor der Dunkelheit gehabt. Und so wie damals war es auch heute gewesen, als sie in den Schacht gestürzt war. Nur vage erinnerte sie sich an den Aufschlag am Boden und einen übermächtigen Ruck, der all ihre Glieder durchzittert hatte. Sekundenlang war sie überzeugt gewesen, gestorben zu sein, denn ihre Augen hatten nichts als tiefe Finsternis wahrgenommen. Erst als Finn sich unter ihr geregt und vor Schmerzen gestöhnt hatte, war ihr allmählich klar geworden, dass sie lebte.
Fahrig hatte sie sich aufzurichten versucht, war jedoch ausgeglitten, seitlich weggerutscht und über eine feuchte Oberfläche, die sich wie nasses Gras anfühlte, an der abschüssigen Flanke eines Hügels in die Tiefe gerutscht. Eisiges Wasser hatte ihre Kleidung durchnässt, während Dunkelheit und ein erstickender Fäulnisgeruch sie umfingen. Sie hatte geschrien vor Grauen und Verzweiflung, außerstande, auch nur für eine Sekunde damit aufzuhören, um auf eine Antwort zu lauschen. Echos hatten ihre Schreie vervielfältigt, und sie hätte nicht zu sagen gewusst, ob noch andere Stimmen in der Luft waren: Vielleicht war es Finn gewesen, vielleicht auch Justin, dessen Stimme fern und unwirklich klang – doch es hatte keine Rolle gespielt, denn Dana war so hilflos und verlassen, dass sie nicht an die Nähe irgendeines menschlichen Wesens zu glauben vermochte. Am Ende waren ihre Schreie verstummt, und ihr Geist hatte sich von der Außenwelt zurückgezogen, zu einer kleinen, harten Kugel im Innern ihres Kopfes zusammengeballt und die Verbindung zum Rest ihres Körpers abgebrochen. Sie vergaß Finn, vergaß, wo sie sich befand, vergaß sogar sich selbst.
Wie sie zu der Wandnische gelangt war, wusste Dana nicht. Ihr Körper war über den nassen Boden gekrochen und hatte ein Versteck gesucht – so wie damals, als sie sich in dem alten Schrank verkrochen hatte –, doch seine Regungen erreichten ihr Bewusstsein nicht mehr. Sie hatte sich in einen Felsspalt gezwängt, so tief es eben ging, ohne Rücksicht auf ihre schmerzhaft verdrehten Gliedmaßen. Dann war nicht nur ihr Körper erstarrt, sondern auch die Zeit – Stunden mochten vergangen sein, vielleicht sogar Tage. Nur gedämpft und wie aus großer Ferne nahm sie das dumpfe Pochen eines Herzens wahr und einen flachen Atem, bei dem es sich möglicherweise um ihren eigenen handelte.
Auch die Spinne war gekommen, so wie damals im Schrank: Diesmal waren Danas Füße nicht nackt, doch eines ihrer Hosenbeine war hochgerutscht, und über dem Saum der Socke lag ein Stück Schienbein frei. Die Spinne hatte dieses Stück nackter Haut entdeckt und war hinaufgekrabbelt, um es in Besitz zu nehmen. Danas Körper spürte die feinen Berührungen der vielgliedrigen Beine, meldete Schmerz, als Klauen in ihre Haut eindrangen – doch ihr Geist wehrte diese Informationen ab, um vor Angst und Abscheu nicht vollends zu kollabieren. Inzwischen lief nur noch gelegentlich ein schwaches Zucken durch das Bein, kläglicher Rest eines Abwehrreflexes, der ebenso automatisch und machtlos blieb wie das Zittern gegen die Kälte.
Es war kalt. Es war feucht. Und es war stockdunkel.
«Dana?»
Die Stimme ihrer Mutter kam aus weiter Ferne, zu schwach, um mit Bestimmtheit von einer Einbildung unterschieden zu werden.
«Dana!»
Doch: Da war wirklich eine Stimme, die nach ihr rief – aber sie klang anders als die Stimme ihrer Mutter.
«Dana, versuchen Sie sich zu entspannen! Ich kriege Sie sonst nicht aus diesem Spalt heraus.»
Etwas Weiches berührte das Gesicht des Mädchens – und der bloße Schreck bewirkte, dass ihre Sinne schlagartig zum Leben erwachten. Dana war wieder da, und ihre erste Empfindung bestand in panischer Angst. Bunte Lichtflecke tanzten vor ihren Augen und irrlichterten hin und her wie schwebende Gespenster. Sie schauderte, zuckte und versuchte sich zu bewegen, wobei ihre eingeklemmte Schulter heftig schmerzte. Endlich begriff sie, dass eine menschliche Hand nach ihr tastete. Für einen Moment erstarrte sie, heftig atmend, nicht sicher, ob von dem unsichtbaren Wesen Gefahr drohte. Dann aber legte sich die Hand auf ihre Wange. Wärme durchdrang ihre klamme Haut und entkrampfte ihre Kiefermuskeln. Die tanzenden Geister flatterten davon, verloschen wie Kerzenflammen im Wind und hinterließen tiefschwarze Finsternis.
Wieder sprach die Stimme zu ihr, vielleicht eine Armlänge entfernt.
«Ich weiß, dass Sie große Angst haben, Dana. Aber ohne Ihre Mithilfe kann ich Sie nicht befreien.»
Die Stimme schwieg eine Weile, während Dana mit offenen Augen in die Dunkelheit starrte.
Es ist nicht meine Mutter, begriff sie. Und ich bin auch nicht in dem alten Wandschrank im Keller.
«Kommen Sie schon, Dana – reden Sie mit mir!»
Langsam öffnete Dana den Mund und schaffte es mit einiger Mühe, ihren Atem zu beherrschen.
«Es ist … so dunkel», brachte sie schwach hervor, schaudernd beim fremden Klang ihrer eigenen Stimme. «Und da ist irgendetwas … an meinem Bein.»
«Machen Sie sich keine Sorgen. Sie haben nur eine heftige Hautreizung.» Die warme Hand entfernte sich von Danas Gesicht, glitt an ihrer Hüfte hinab und zu der entzündeten Stelle nahe dem linken Fußknöchel. «Halten Sie still, es könnte kurz ein wenig weh tun.»
Dana spürte ein Ziepen wie von Nadelstichen an ihrem Bein, als würden feine Haare aus der Haut gerissen. Ergeben biss sie die Zähne zusammen und lauschte der fremden Stimme, die sich plötzlich an einen unsichtbaren Mithörer wandte.
«Leon? Dem Mädchen geht es den Umständen entsprechend gut. Sie ist wieder ansprechbar, aber noch immer eingeklemmt – und außerdem hat dieser verflixte Pilz ihr Bein angegriffen. Ich versuche gerade, die Hyphen zu entfernen. Die Haut darunter ist stark geschwollen … nein, kein allergischer Schock, keine Dyspnoe, kein Geruch nach Erbrochenem. Möglicherweise eine normale Reaktion des Immunsystems.»
Sie spricht in ein Funkgerät, begriff Dana.
Also waren mehrere Menschen in der Nähe – vielleicht sogar eine Rettungsmannschaft. Zum ersten Mal seit Stunden blitzte Hoffnung in ihrem Geist auf: Sie war nicht allein. Sie war nur gestürzt und befand sich in irgendeiner Höhle tief unter der Erde. Aber sie würde nicht sterben, offenbar war sie nicht einmal schwer verletzt. Die fremde Frau, deren Stimme in der Dunkelheit schwebte, würde sie hier herausholen.
«Wo ist Finn?», fiel ihr plötzlich ein.
«Er hatte etwas weniger Glück», antwortete die Frau, während sie behutsam den Saum von Danas Jeans herabzog, um die entzündete Haut zu bedecken. «Komplizierter Beinbruch. Aber er ist schon auf dem Weg ins Krankenhaus.»
«Warum ist alles dunkel?»
Ein entsetzlicher Gedanke streifte Dana. Eine Rettungsmannschaft musste Lampen bei sich haben, und dass sie nicht den geringsten Lichtfunken sah, konnte nur bedeuten, dass sie doch eine Verletzung davongetragen hatte – eine unerwartete, ernste, grauenvoll endgültige.
«Bin ich … bin ich … blind?», brachte sie fast tonlos hervor.
«Nein.» In der fremden Stimme schwang ein hörbares Lächeln. «Keine Sorge, Ihre Augen sind in Ordnung.»
Die Erleichterung ließ Danas Herz für eine Sekunde merklich stolpern. «Aber ich sehe nichts. Haben Sie denn kein Licht dabei?»
«Nein.»
«Überhaupt kein Licht?» Ihre Stimme, eben erst gefestigt, begann erneut zu beben. «Nicht einmal eine Taschenlampe?»
«Das erkläre ich Ihnen später. Bitte versuchen Sie jetzt, sich auf Ihren Körper zu konzentrieren. Können Sie sich bewegen?»
«Nicht besonders gut.»
«Versuchen Sie es.»
Dana mühte sich einen Moment vergeblich. Erst jetzt, da ihre Sinne wieder erwacht waren, spürte sie in aller Deutlichkeit die unnatürliche Lage ihres Körpers. Offenbar war sie mit Kopf und Armen voran in eine Vertiefung gekrochen, die einen waagerechten Spalt von kaum dreißig Zentimeter Höhe bildete. Bei dem Versuch, die Beine nachzuziehen, hatte sie sich um die eigene Achse gedreht und war mit den Schultern unter einem Felsvorsprung steckengeblieben. Den rechten Arm konnte sie bewegen, nicht jedoch den Oberkörper: Ihre linke Schulter klemmte zwischen dem Vorsprung und ihrem eigenen Hals wie in einem Schraubstock. Auch den Kopf konnte sie nicht vom Boden heben, ohne dass ein heftiger Schmerz ihren Nacken hinaufschoss.
«Ich stecke fest.» Erneut flutete die Angst herauf und ließ ihre Kehle eng werden.
«Okay, ganz ruhig!», sagte die unsichtbare Frau. «Sie sind irgendwie hineingekommen, also kommen Sie auch wieder heraus. Versuchen Sie, den Kopf so weit nach vorn zu beugen, dass Sie Ihre Schulter frei bekommen.»
Dana gehorchte, doch es war zwecklos: Lediglich der Schmerz nahm zu, bis sie ächzend aufgab.
«Es … geht nicht!»
«Gut. Neuer Versuch: Entspannen Sie sich und lassen Sie ganz locker. Ich werde versuchen, Sie an den Beinen herauszuziehen.»
Die warmen Hände der Frau ergriffen Danas Fußgelenke. Als sie jedoch zu ziehen begann, schrie Dana erschrocken auf: Der Druck auf ihrer Schulter verstärkte sich, und sie hatte das deutliche Gefühl, dass der Oberarmknochen jeden Moment aus dem Gelenk springen würde.
«Aufhören!», keuchte sie. «Meine Schulter!»
Erneut tasteten die fremden Hände, dann entfernte sich die Stimme der Unbekannten ein wenig, um wieder in ihr Funkgerät zu sprechen.
«Leon? Es gibt Probleme. Sie kommt aus diesem Spalt nicht heraus, ohne sich die Schulter auszukugeln. Ich werde versuchen, die Felszacke zu zertrümmern, unter der sie eingeklemmt ist. Schick mir Hammer und Meißel runter.»