Xander Morus
Das Wrack der Zombies
Das Wrack tauchte vor uns auf wie ein gigantischer Schatten, der über dem Wasser schwebte. Die Nacht war klar und ruhig. Nur das Plätschern der Wellen, die durch unsere Schwimmbewegungen verursacht wurden, verriet, dass wir da waren. Ich atmete ruhiger, denn ich hatte die absurde Angst, dass man uns erwartete. Dass etwas uns erwartete. Doch das war Blödsinn. Niemand war auf dem Wrack. Und nur wir waren im Wasser. Das Wasser war genauer gesagt der Atlantische Ozean vor der Westküste Afrikas. Wir befanden uns in dem einzigen staatenlosen Gebiet der Welt, der West-Sahara, die an Marokko und Mauretanien grenzte. Ein verdammtes Wüstenland, dessen einzige nennenswerte Stadt mit Zivilisation Ad-Dakhla ist. Zu zweifelhaftem Ruf gekommen, weil vor ihrer Küste der größte Schiffsfriedhof der Welt liegt: Die Wracks von Nouadhibou. Und wir waren jetzt mittendrin.
West-Sahara ist offiziell von Marokko besetzt, aber die Marokkaner haben schon lange aufgehört, zu patrouillieren. Denn außer Schrott gibt es hier nichts zu holen. Es gibt keine Regierung, keine großen Städte, keine Infrastruktur, keine moderne Telekommunikation. Es gibt nur einheimische Fischer und Beduinen, die durch das Land ziehen. Meistens Händler auf dem Weg von Mauretanien nach Marokko. Über die Jahre hat sich auf einer Landzunge vor Ad-Dakhla der berüchtigte Schiffsfriedhof gebildet. Hunderte ausgemusterte Frachter, Fischkutter, Schnellboote und Militärschiffe liegen hier auf einem Gebiet so groß wie Bayern verstreut. Schlepper aus der ganzen Welt bringen die Wracks zu diesem Landstrich und lassen sie dort einfach auf Grund gehen. Da das Wasser sehr flach ist, ragen die meisten Schiffe noch weit über die Oberfläche hinaus. Und da es keine offizielle Regierung gibt, kümmert sich niemand um diesen gigantischen Schrottplatz. Anders als in Indien, wo die Schiffe professionell ausgeschlachtet werden, gibt es hier niemand, der daran Interesse zeigt.
Die Schiffe liegen einfach auf den Sandbänken und warten darauf, von der Sonne zersetzt und in den Atlantik gespült zu werden. Andere ankern weiter draußen, bis sie so porös werden, dass sie irgendwann sinken. Es sind die Schiffe, die man nicht in Landesnähe bringen möchte oder kann. Die Beduinen nennen sie Ghosts. Und so ein Schiff war unser Ziel.
Wir, das waren Jill Carter, meine Freundin, eine Sportstudentin aus Oregon, Steve Carter, ihr Bruder und seine Freundin Manou aus Deutschland, sowie ich, Daniel Hasenkamp.
Wir waren Globetrotter und hatten uns zufällig getroffen. Dass Manou und ich aus Deutschland kamen und die beiden anderen aus den USA war ein kurioser Zufall, über den wir uns oft lustig machten. Wir hatten uns ins Marokko kennengelernt. Ich hatte Jill zu einem Tee eingeladen, sie hatte ihren Bruder mitgebracht, was ich zuerst komisch fand, den ich dann aber mochte und der hatte am gleichen Abend Manou, ein Rasterlocken tragendes Hippiemädchen aus Berlin kennengelernt. Für mich war Manou nichts Besonderes, doch für die Amerikaner wirkte sie wie ein Hippie auf Zeitreise.
Gemeinsam waren in Rekordzeit vom glamourösen Casablanca an diesen Ort am Arsch der Welt gereist. Wir waren unterwegs wie viele Touristen, die die Schiffe fotografieren wollten, und tatsächlich sagten wir auch jedem, dass wir deshalb hier waren. Und dann machten wir ein gemeinsames Erinnerungsfoto. Aber in Wirklichkeit hatten wir etwas ganz anderes vor. Wir wollten die Schiffe nicht fotografieren, sondern wir wollten etwas haben, das in einem der Ghosts sein sollte … Und deshalb schwammen wir durch diese Drecksbrühe. Links und rechts von uns knirschten die Wracks.
Aber wenn ich vor sechs Tagen gewusst hätte, was uns gleich erwartete, dann hätte ich zu Manou gesagt: „Fuck you, wir nehmen das Flugzeug nach Senegal.“ Aber natürlich hatte ich es nicht gesagt, sondern: „Meinst du, an der Geschichte ist etwas dran?“
Vor sechs Tagen:
Manou inhalierte den Joint tief und gab ihn über ihre nackten Beine an Steve weiter. Sie blies den Rauch in den Himmel über uns und zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, könnte sein.“
Jill massierte mir den Nacken, während ich auf den Joint von Steve wartete. Wir saßen auf der Terrasse unseres Bungalows an der Küste von Casablanca. Mitten drin in einem Touristenressort, in dem Tag und Nacht Lampions blinkten und irgendwelche Trommeln und Bimmeln geschlagen wurden. Ein Paradies für Pauschaltouristen, aber jetzt mitten im Februar auch eine billige Übernachtungsoption. Niemand beachtete uns. Hauptsache wir zahlten die 80 Dollar pro Nacht und warfen nicht mit Flaschen oder Stuhlbeinen nach anderen Gästen. Es waren etwa acht Tage vergangen, seit wir uns alle kennengelernt hatten. Bei Manou und Steve hatte es gefunkt und bei Jill und mir erst recht. Es waren meine letzten Wochen als Globetrotter. In Deutschland wartete ein Jurastudium darauf, wieder aufgenommen zu werden. Und ich war bereit. Ich hatte mich zwei Semester, ein knappes Jahr, durch die Welt geschlagen. Ich musste einfach mal raus aus Deutschland. Raus aus München. Mir ging dort alles auf die Nerven. Das Land, die Leute, die Uni, das Lernen. Ich konnte den Müll im Fernsehen und in den Nachrichten nicht mehr ertragen. An der Uni stand ich kurz vor meinem ersten Staatsexamen, und wenn ich noch mal eine Pause einlegen wollte, dann musste ich es jetzt tun. Kurzentschlossen nahm ich mir zwei Urlaubssemester. Und ich nahm mein Sparbuch und ließ es mir auszahlen. Es war das Geld meiner Oma. Meine Eltern und sie nahmen mein Vorhaben kopfschüttelnd hin, andererseits sagten sie mir auch, dass ich das Geld lieber auf den Kopf hauen sollte, wenn es sowieso bald von der Euroinflation entwertet wurde. Genau solche Sorgen waren der Grund, warum ich raus aus Deutschland, raus aus der Eurozone wollte.
Das Gejammer ging mir auf die Nerven.
Zuerst war ich durch Asien getigert. Vietnam, Kambodscha, Thailand, ein Abstecher nach Singapur (hat mir nicht gefallen und ich ihnen wahrscheinlich auch nicht) und dann quer durch Indien. Von Delhi aus war ich nach Kairo geflogen. Hier begann meine letzte Etappe. Über die Mittelmeerküste nach Marokko und dann nach Zentralafrika zum Viktoria-See und von dort nach Kapstadt. Kapstadt bietet nämlich schön bequem Direktflüge nach München an. Ein jämmerliches Ende für eine Weltreise, aber irgendwie muss es ja alles enden. Ich war also fast am Ende meiner Reise angekommen, als ich Jill auf dem berühmten Flohmarkt in Casablanca sah. Sie hatte braune Haare und eine sehr schlanke Figur. Sportlerin vermutlich. Sie sah mich durch das Schaukeln einiger Holzkugelketten an und lächelte mir zu. Und ich lächelte zurück. Ein Affe sprang auf meine Schultern und wollte mir meine Geldbörse klauen. Ich hielt sie fest und jagte ihn davon. Jill half mir und lachte sich dabei tot. Und so stellten wir uns vor. Und dann gingen wir aus. Ich lernte ihren Bruder kennen, er sprach Manou an, die am Nebentisch saß, und so waren hier und rauchten ihr Gras. Manou kam aus Berlin. Sie war nur nach Marokko gekommen, um Urlaub zu machen. Angeblich kam sie mehrmals im Jahr hierher. Wenn ich mir ihre geschickte Art, den Joint zu halten ansah, wusste ich auch, warum. Sie war 29 und die Älteste von uns. In Berlin arbeitete sie in einem alternativen Hanfladen.
Jill und Steve kamen aus Oregon. Jill studierte tatsächlich Sport, um am College zu unterrichten. Steve machte einen Business-Master. Es waren zwei typische Amerikaner. Ich mochte sie. Sie waren wie ich 26 und verbrachten ihre Semesterferien hier. Als ich ihnen sagte, dass ich ein Jahr Auszeit genommen hatte, sahen sie mich mit großen Augen.
„No one would do that in America!“
Drei Stunden später hatten wir alle so viele Drinks intus, dass wir bereit waren, alles miteinander zu tun. Das ist die Kurzfassung bis zu dem Punkt, wo wir vier auf dieser Terrasse gelandet waren und Jill die verhängnisvolle Frage stellte:
„Wie viel Geld könnte es denn sein?“
Manou kniff die Augen zusammen und versuchte, Steve den Joint mit ihren Zehen aus dem Mund zu klauen. Er protestierte halbherzig und gab ihn mir dann weiter.
„Ich kann nur schätzen, aber ich denke, an die hunderttausend werden es wohl schon sein!“
Das war der Moment, in dem ich einen Hustenkrampf bekam. Und es lag nicht nur am Joint. Auch die anderen waren plötzlich sehr hellhörig. Manou lehnte sich nach vorne:
„Ich kenne ihn seit Jahren. Ich muss wohl nicht sagen, warum.“ Damit deutete sie auf den Joint, der mir auf den Boden gefallen war. Zerknirscht hob ich ihn auf.
„Drogba kennt die Schlepper. Er verkauft ihnen Gras. Und diesmal haben sie ihm von einem Schiff erzählt, das früher Flüchtlinge und Drogen transportiert hat. Sie haben es zum Friedhof gebracht. Und der Gag ist … es stellt sich heraus, dass in dem Schiff ein zweiter Briefkasten ist. Dort ist das Bestechungsgeld für die Küstenpolizei drin. Normalerweise gibt es nur einen, aber hier gibt es wohl zwei, da das Schiff schon so lange in Gebrauch war. Und sie haben nur einen geleert. Natürlich den falschen.“ Sie kicherte.
„Du meinst vor der Küste der Sahara sinkt ein Schiff, auf dem irgendwo hunderttausend Dollar verschimmeln?“, fragte Steve und lehnte seinen Kopf nachdenklich zurück. Ich konnte sehen, wie es in ihm ratterte. Und nicht nur in ihm. Wir alle dachten wohl in dem Moment das Gleiche. Manou nickte.
„Es heißt Bayflower, soweit ich weiß.“
„Warum holen sie es sich nicht einfach?“, fragte Jill berechtigterweise und wedelte den Rauch mit der Hand weg. Sie kiffte nicht und irgendwie mochte ich das. Ich drückte die Tüte aus und machte es mir zwischen ihren Brüsten bequem. Manou schob Steve spielerisch ihre Füße hin, die er zu massieren begann.
„Sie tun es ja. Aber sie sind mit ihrem Schiff unterwegs. Sie brauchen sieben Tage, um das Wrack zu erreichen.“
Das war der Moment, in dem wir alle schwiegen und jeder die gleiche Frage im Kopf hatte. Jill nahm die Hände von meinem Nacken und streckte sich, als sie sagte:
„So, how long would it take for us to get there?“
Auch Steve richtete sich auf, küsste kurz Manous Füße und sah sie erwartungsvoll an. Manou überlegte einen Moment lang.
„When we can get a plane to Las Palmas on Cran Canaria and from there a ship to El-Aaiun, which should be no problem, because it’s a tourist attraction … well, from there, we have to cross the desert by bus … but, it’s possible.“
„How many days, darling?“, unterbrach Steve sie und nahm seine Hände von ihren Füßen.
Manou lächelte ihn an.
„I think, it’s six days.“
Und so machten wir uns auf die Reise zu einem Schiffswrack, in dem hunderttausend Dollar Drogengelder versteckt waren. Schon am nächsten Tag flogen wir nach Las Palmas. Ich war froh, aus Marokko herauszukommen. Irgendwie war mir das Land schon fast zu zivilisiert. Auch hier konnte man dem Internet und dem täglichen Gossip nicht entkommen. Zum Glück war ich nicht mehr in Asien, denn in Indonesien schien eine Art Virus ausgebrochen zu sein, der sich rasend schnell verbreitete. Ich ahnte, dass es Zeit wurde, nach Deutschland zurückzukehren. Nach diesem kleinen Abenteuer sollte Schluss sein. Aber ich konnte den Abstecher auf die kanarische Insel nicht genießen, denn wir bestiegen wenige Stunden nach unserer Ladung ein Tourist-Ship, das einmal am Tag nach El-Aaiun pendelte. Ich hatte gerade noch Zeit, mir in einem Duty-Free Shop auf dem Flughafen ein rotes Hawaiihemd zu kaufen. Wir wollten so wenig wie möglich auffallen und deshalb zogen wir uns so bunt wie möglich an. Manou trug eine orange Hippiescherpe und einen breiten Strohhut. Steve versank in einem blauen Batikshirt, dass Manou ihm ausgesucht hatte. Und Jill trug All-American-Girl-like ein rotes Top und blaue Jeans. Dass wir uns die Kohle aus der Portokasse einiger Drogenschmuggler unter den Nagel reißen wollten, sah man uns nun wirklich nicht an.
Wir sahen aus wie ein paar dumm-dreiste Touristen auf dem Weg ins Nirgendwo.
Die Reise nach Ad-Dakhla quer durch die Wüste ging leider nicht so glatt. Wir saßen vier Tage in einem schmierigen Bus und gondelten im Schneckentempo durch die West-Sahara. Jill wurde schlecht und sie erbrach sich mehrmals auf der Bank neben mir. Manou war auf Grasentzug, weil wir im Bus nicht rauchen konnten, und wurde zusehends gereizter. Sie zankte sich ununterbrochen mit Steve und ich hatte schon die Befürchtung, dass unser Unternehmen scheitern würde.
Aber irgendwann machten wir in einem kleinen Dorf halt und konnten dort übernachten. Jill ging es noch immer schlecht, und ich verbrachte mit ihr die Nacht auf dem Klo, während ich meistens ihren Kopf hielt. Aber aus dem Nebenzimmer vernahm ich den charakteristischen Geruch von Graswolken, und als ich danach das Bettgestell quietschen hörte und die dünne Wand zu unserem Zimmer wackelte, wusste ich, dass das Unternehmen gerettet war.
Zwei Tage später standen wir am Strand von Ad-Dakhla, die Sonne ging gerade unter und uns bot sich ein einmaliger Anblick. Bis zum Horizont säumten rotbraune Wracks das Wasser. Es mussten Hunderte sein. Jill schirmte ihre Augen vor der Sonne ab und fragte:
„Was sagt er?“
Steve wedelte mit den Händen. Er kam von dem Fischer, der uns zum Strand gebracht hatte, zurück und schüttelte den Kopf.
„Wir sollen von hier aus die Fotos machen! Es gibt keine Ruderboote!“
„Scheiß jetzt mal auf die Fotos“, sagte Jill und drückte meine Arme runter. Ihr Blick war finster und ihr Ton hart. Ich ließ die Kamera sinken und trat zur Gruppe. Seit drei Stunden waren wir am Strand und spielten die Fotografen. Bald würde uns kein Motiv mehr einfallen. Die Einheimischen betrachteten uns schon komisch, während sie ihre Fangnetze in rostigen Booten verstauten. Sie erwarten, dass wir wie die anderen Touris zurück in die Innenstadt gingen und dort die Kneipen unsicher machten. Wir mussten uns entscheiden. Die Sonne verlor an Kraft und das Meer leuchtete wie ein dunkler Diamant.
Ich sah zu dem Fischer, den Steve nach einem Ruderboot gefragt hatte. Er grinste uns mit fauligen Zähnen unverhohlen an.
„Warum geben sie uns verdammt noch mal kein Boot?“, fragte Jill genervt und blies eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
Steve kratzte sich am Nacken. Er trat neben Manou, die die ganze Zeit die Wracks beobachtete und nach der Bayflower Ausschau hielt. Sie ließ den Blick auch nicht vom Wasser, als sie sagte:
„Zu gefährlich. Sie haben Angst vor den Ghosts …“
„Ach … Fuck“, fauchte Jill. So aggressiv kannte ich sie gar nicht. Mir wurde klar, dass ich eigentlich keinen von ihnen wirklich kannte. Ich schlief zwar mit dieser Amerikanerin, aber würde ich sie jemals wiedersehen, wenn wir uns Kapstadt trennen würden?
„Was, wenn wir ihnen mehr Geld bieten?“, fragte Jill.
Manou drehte ihren Kopf abrupt zu uns. Das Licht der untergehenden Sonne meißelte ihre Silhouette vor den Horizont.
„Dann werden sie wissen, dass es dort etwas zu holen gibt!“
Jill verstummte.
„Und was ist die Alternative?“, schaltete ich mich ein.
Alle schwiegen. Ich hörte Jill nervös atmen. Seit ihrer Kotz-Arie war sie jetzt die Gereizte der Gruppe. Manou sah wieder über das Wasser.
„Schwimmen“, sagte sie.
Unser Schweigen war unsere Zustimmung. Wir beschlossen zu warten, bis es dunkel wurde, und dann zum Strand zurückzukehren. Die Sonne ging hier langsam unter und so standen wir noch eine Weile schweigend am Ufer und sahen zu, wie die Schiffe, die wie gigantische Gerippe aussahen, mit der heranbrechenden Dunkelheit verschmolzen. Als wir uns zum Gehen wandten, um in der Stadt etwas zu essen, rief uns der Fischer etwas hinterher. Er klang aufgebracht, fast wütend.
„Was hat er gesagt?“, fragte ich Manou, die ein paar Brocken arabisch verstand.
Sie schüttelte nur den Kopf.
„Dummes Geschwätz. Er sagt, das Schiff ist voller Geister …“ Verächtlich blies sie die Luft aus und schloss zu Steve auf. Ich drehte mich ein letztes Mal um. Die Sonne versank im Meer. Der Fischer war verschwunden. Auch die Wracks sah ich nicht mehr. Ich hielt jedoch einen Moment inne. Von den Wracks zog ein seltsames Geräusch zu mir herauf. Ich brauchte einen Moment, um es einzuordnen. Dann wusste ich, was ich hörte. Es war das Knirschen ihrer schweren Vertäuungen. Taue, die wahrscheinlich kreuz und quer durch das Wasser gespannt waren. Und da wollten wir durchschwimmen.
In einer überfüllten Bar ganz in Strandnähe aßen wir fettige Eier-Omeletts mit Zwiebeln. Dazu gab es nur Wasser aus einer Karaffe. Steve und ich wollten uns ein Bier teilen, doch als wir die Blicke der Einheimischen bemerkten, entschlossen wir uns, jeder eins zu nehmen. Doch leider hatten wir schon die Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Man beobachte uns neugierig. Vier Touristen, die kaum tranken und sich nicht unterhielten, waren schon etwas Ungewöhnliches. Irgendwann brachte uns der Wirt vier weiße Tequila in schmierigen Gläsern. Pur, ohne Zitrone und Salz. Wir hatten keine Wahl. Man prostete uns zu und so tranken wir mit ihnen. Das Zeug brannte in meiner Kehle wie Feuer. Jill hatte Tränen in den Augen. Nur Manou zeigte keine Regung. Die Einheimischen lachten und hoben erneut ihre Gläser. Es herrschte eine aufgekratzte Stimmung. Der verschwitzte Wirt grinste Jill breit an:
„World is going to hell!“
„Hier mit Sicherheit …!“, knurrte Jill und wollte gehen.
Wir zahlten und schleppten uns aus der Bar.
„Reißt euch zusammen!“, fauchte Manou.
„Wegen einem verfickten Tequila werdet ihr jetzt nicht schlapp machen!“
Ich pisste an eine Lehmhütte, ohne mich um die anderen zu kümmern.
„Die ahnen doch, was wir vorhaben!“, sagte ich schwankend und schüttelte ab.
Jill zog mich aus der Ecke weg und packte mich unter dem Arm.
„Wir brauchen nur etwas frische Luft. Gehen wir ein Stück.“
Wir entfernten uns von der Bar und hielten auf den Strand zu. Wir gingen langsam, und durch die Luft und die Bewegung fühlte ich mich tatsächlich plötzlich wieder besser. Als wir am Wasser standen, fiel nur das fahle Licht des Mondes auf die Wellen und die Wracks.
Wir alle zögerten. Ich nahm an, dass die anderen auch das gefährliche Knirschen der Taue hörten.
„Wir müssen es jetzt tun!“, sagte Manou. „Die Schlepper werden spätestens morgen früh hier sein.“
„Welches Wrack ist es?“, fragte ich.
Manou fixierte den Horizont.
„Das hinterste. Es muss das sein, dass als letztes hierher gebracht wurde.“
Sie zeigte auf einen schwarzen Punkt am Horizont. Dort, mindestens ein Kilometer entfernt, schaukelte eine großer Kutter einsam und allein auf den Wellen.
„Scheiße“, sagte ich. Niemand widersprach.
„Was ist mit den Tauen?“, fragte Steve und ich war ihm dankbar dafür.
Jill trat vor uns stemmte die Arme in die Hüften. Ihre kurvige Silhouette setzte sich vom silber glänzendem Wasser ab.
„Es sind nur Seile! Einfach nicht dran hängen bleiben …“ Sie griff in ihre Tasche und zog ein Messer hervor. Sie schnitt sich die Hosen knapp über den Knien ab und gab Manou das Messer. Sie tat es ihr nach.
„Fertig?“, fragte Manou uns. Niemand antwortete. Die Geldgier siegte. Statt einer weiteren Diskussion glitten wir in das dunkle Wasser. Es ging los.
Und so tauchte dann das Wrack vor uns in der Dunkelheit auf. Die Taue im Wasser hatten wir erstaunlich unbeschadet hinter uns gebracht. Ich hatte sie ein paar Mal gefühlt, war dann aber schnell über sie geglitten. Der Gedanke daran hängen zu bleiben und zu ertrinken, war furchtbar. Aber es passierte nichts. Wir ließen Dutzende Wracks hinter uns. Sie glitten wie stumme Ungetüme an uns vorbei, während wir schweigend auf die Bayflower zu hielten. Dann wurde das Feld lichter. Wir hatten das meiste überstanden. Am Horizont schaukelte nur noch unser Ziel. Ich beruhigte mich, denn eigentlich war das wirklich ein Kinderspiel. Das Wrack war leer. Wir hatten einige Stunden Zeit, um nach dem Geld zu suchen. Und morgen konnten wir verschwinden. Jeder um vielleicht fünfundzwanzigtausend Dollar reicher.
Jill schwamm vor mir. Sie war eine gute Schwimmerin und sah zudem auch noch verdammt sexy aus in ihren abgeschnitten Jeans im Daisy Dukes-Style. Sie erreichte als Erste das Wrack. Der Rumpf schien noch intakt zu sein. Jill schlug an und drehte sich zu uns.
„Das ist sie. Die Bayflower!“ Es klang hohl aus dem Rumpf, doch das Schiff war so groß, dass es auf den Schlag nicht reagierte. Aus der Nähe erkannte ich, dass es ein mittelgroßer Kutter war. Vielleicht fünfzig Meter lang und zehn Meter breit. Ein altes Modell, das aus den Fünfzigern oder Sechzigern stammte. Manou und Steve holten neben mir auf und erreichten sie ebenfalls. Sie tauchten aus dem Wasser auf und wischten sich die Tropfen aus dem Gesicht. Der rostige Rumpf bot genügend Stellen, um sich festzuhalten.
„Wie kommen wir darauf?“, fragte Jill, als sie bei ihnen war. Manou zog sich am Rumpf entlang und wir folgten ihr. Aus dem Nichts erschien eine Strickleiter.
„Damit verlassen die Schlepper das Schiff, wenn sie es verankert haben!“, sagte sie und zog daran. Sie spannte sich, blieb aber stabil.
„Dann mal los!“, murmelte sie und zog sich aus dem Wasser. Schweigend erklommen wir nacheinander die Bayflower. Wir rollten uns über die Reling und standen Sekunden später auf dem Deck des Wracks. Steve holte eine Taschenlampe aus seinem Rucksack hervor und knipste sie an. Der Strahl zuckte über das Deck. Wir starrten angespannt auf das vor uns liegendes Chaos. Das Schiff war wirklich heruntergekommen. Der Boden bestand nur noch aus rostigem Stahl. Überall waren Löcher. Dazwischen ölige Pfützen und Glasscherben. Man hatte das Gefühl, auf einem Schrottplatz zu stehen. Das Deck und die Reling waren bis auf die letzten Fetzen geplündert. Sogar die Rettungsreifen hatten sie herausgerissen. Nur noch ein paar faulige Taue und rostige Ketten deuteten auf die Takelage hin. Ein ungemütlicher, unwirtlicher Ort. Jill machte einen Schritt nach vorne.
„Vorsichtig!“, schrie ich. Ihr Fuß blieb einen Zentimeter über einer Glasscherbe hängen.
„Scheiße!“, flüsterte sie.
Steve kramte in seinem Rucksack herum und holte die Plastiktüten hervor, die für das Geld gedacht waren.
„Eine reicht auch!“, sagte er, zeriss die anderen und verteilte sie unter uns. Wir schnürten sie um unsere Füße und setzten uns dann in Bewegung. Ich warf noch einen Blick zum Ufer. Am Strand verloschen gerade die letzten Lichter. Ad-Dakhla machte Schluss für heute. Langsam schlichen wir über das Deck. Der Kutter schaukelte sanft vor sich hin.
„Wo wird der Briefkasten sein?“, fragte Jill. Manou deutete mit dem Kopf zur Steuerkabine, ein schmaler Block auf dem Deck.
Wir folgten ihr und erreichten das kleine Häuschen nach einigen Schritten. Manou öffnete die Tür und prallte sofort zurück. Sie stöhnte und hielt sich den Mund zu. Ich war direkt hinter ihr und bekam jetzt mit, was sie derart geschockt hatte. Ein beißender, fauliger Gestank nebelte uns ein. Es roch nach Blut und Urin. Faul und tot. Der Lichtstrahl tanzte in der Kabine auf und ab.
„O Gott!“, sagte Steve.
Die Kabine war vollkommen zerstört. Alle Navigationsgeräte waren zerstört worden. Ausgerissene Kabel stießen wie Stacheln aus ihren heraus.
Aber das war es nicht, was uns schockte. Dicke, dunkle Blutlachen bedeckten alles. Es sah aus, als hätte man die Kabine mit einem Blutschlauch ausgespritzt.
Jill hustete neben mir. Ich schlug die Tür wieder zu und wir lehnten uns an die Wand. Manou hatte es voll erwischt, sie torkelte zu Seite und übergab sich würgend. Wir warteten, bis sie wieder ansprechbar war. Sie sah entschlossen zu uns und wandte sich dann an Steve.
„Gib mir die Lampe!“
„Was hast du vor?“
„Sehen, wie lange ich die Luft anhalten kann!“
Kurz darauf schnappte sie nach Luft, riss die Tür auf und verschwand in der Kabine. Wir hatten uns etwas abseits an die Reling gestellt. Wir sahen nur das hektische Zucken des Lichtkegels durch die schmierigen Fenster in der Kabine. Dann hielt er inne und war kurz nicht zu sehen. Offensichtlich leuchtete Manou in etwas hinein. Wir hielten die Luft an. Es war stockdunkel und totenstill. Während sich Jill und Steve auf Manou konzentrierten, horchte ich in die Nacht. Irgendetwas war da. Tok Tok.
Ich hörte ein Klopfen.
Ich sah über die Reling, doch die Wellen waren zu klein, um so ein Geräusch zu produzieren. Ich hörte es auch nicht erneut. Jill und Steve reagierten überhaupt nicht. Ich wollte gerade etwas sagen, da sprang die Kabinentür auf und Manou stürzte heraus. Sie stolperte einige Schritte auf uns zu und riss dann ihren Mund auf.
„Fuck!“, keuchte sie und atmete heftig.
Sie umklammerte die Reling und zog die Luft tief ein.
„Hast du was?“, fragte Steve.
Manou nickte nur, sagte aber nichts. Sie riss den linken Arm hoch, während sie auf das Meer hinausstarrte und präsentierte uns einen rostigen Stahlring, an dem blanke Schlüssel hingen.
„Deshalb haben sie es übersehen!“
Ich verstand nicht, merkte aber, dass es den anderen ebenso ging.
„Wofür ist das?“, fragte Steve.
„Schlüssel für einen Tresor. Wahrscheinlich im Lagerraum.“
„Und was bedeutet das jetzt?“, fragte ich.
Manou warf uns einen entschlossenen Blick zu.
„Dass wir wirklich Glück haben, dass wir eine Taschenlampe mitgenommen haben …“
Wir schoben uns Zentimeter um Zentimeter vor. Zuerst hatten wir eine Luke auf Deck geöffnet, dann waren wir eine schmale Metalltreppe heruntergestiegen und jetzt schlichen wir durch einen dunklen Gang, der uns zu den Frachträumen führte. Unsere Schritte hallten von den Wänden wieder. Ich hatte das Gefühl, dass das Schiff noch mehr schaukelte. Es knirschte und knarrte in allen Ecken. Die Luft war stickig. Jill hustete leicht, doch beschwerte sich nicht. Manou ging vor. Nur der dünne Strahl der Taschenlampe wies uns den Weg.
„Be careful!“, sagte Steve. Doch Manou verlangsamte das Tempo nicht.
„Ich will endlich von diesem Scheißfrachter runter!“, zischte sie und lief weiter. Jill war direkt hinter mir und ich spürte ihre Hand an meinen Hüften.
Dann erreichten wir eine Stahltür. Manou klimperte mit den Schlüsseln und schob sie in ein Schloss. Und jetzt hörte ich es wieder. Tok Tok.
„Warte!“, rief ich.
„Was?“, zischte Manou zurück.
„Fuck! Hört ihr das nicht? Da klopft doch jemand!“
Alle waren plötzlich still. Doch wie auf Knopfdruck blieb das Klopfen aus …
„Ach, da ist nichts“, sagte Manou und drehte den Schlüssel herum. Und ehe ich noch etwas sagen konnte, stieß sie die Tür auf.
Das Erste, was wir sahen, waren Müllsäcke. Schwarze Plastikbags, die zu einem Haufen gestapelt waren.
Manou schob sich durch die Türe und ließ den Lichtkegel durch den Frachtraum huschen. Wir trauten unseren Augen nicht. Es waren Hunderte. Sie waren kreuz und quer übereinandergestapelt. Es roch muffig und abgestanden. Manou trat in den Raum und ich folgte ihr.
Vorsichtig schlichen wir durch einen kleinen Gang zwischen den Säcken.
„Wo ist der Tresor?“, fragte ich.
„Vermutlich in einer Kammer am Ende des Raumes“, presste Manou hervor und ich hörte die Anspannung in ihrer Stimme.
„Was ist in den verfluchten Säcken?“, flüsterte Steve.
Niemand von uns antwortete. Manou blieb plötzlich abrupt stehen und leuchtete zum Ende. Dort knirschte eine dünne Holztür. Sie ließ den Schlüssel in ihren Händen klappern.
„Mach schon!“, drängte ich. Der Raum war mir nicht geheuer. Ich fragte mich auch, was in den verdammten Müllsäcken war. Wie auf Zuruf stieß ich mit dem Fuß gegen einen der Säcke und spürte einen leichten Widerstand. Ich hatte das Gefühl, gegen etwas Rundes, Weiches zu treten. Etwas Körperhaftes.
Manou fixierte die klappernde Tür und schob sich weiter vor. Ich behielt meine Entdeckung für mich. Jills Hand verkrampfte sich in meiner Hüfte. Ich spürte ihren Atem in meinem Nacken.
Dann war Manou an der Tür und öffnete sie. Tatsächlich, dort war ein kleiner Tresor.
„Bingo!“, flüsterte sie.
„Wir haben es geschafft!“, sagte Steve und in diesem Moment hörten wir einen dumpfen Schlag außerhalb des Schiffsrumpfes. Wir erstarrten. Das Schiff schwankte und ein erneuter Schlag ertönte.
„Was ist das?“, fragte Jill.
Manou hob den Kopf und lauschte einen Moment.
„Jemand legt an dem Schiff an!“, sagte sie und presste die Lippen aufeinander. Wir schwiegen und lauschten weiter. Zuerst war es still, dann klapperte es leise.
„Die Schlepper!“, sagte Manou und legte den Finger auf die Lippen. Wir verhielten uns ruhig und lauschten in die Dunkelheit. Jill fing an zu zittern.
„Pssst!“, machte ich und versuchte, sie zu beruhigen. Dann war es plötzlich vollkommen still. Irritiert sahen wir uns an. Wir hören ein erneutes Schlagen und dann klang es, als würde jemand rudern.
„Sie hauen wieder ab!“, sagte Manou.
„Aber warum?“, fragte Jill.
Die Antwort erhielten wir einige Minuten später. Das ganze Schiff wurde plötzlich erschüttert. Es knirschte an allen Nieten. Ruckartig setzte sich der Kutter in Bewegung. Wir hörten die Wellen gegen den Rumpf klatschen.
„Sie schleppen uns ab!“, sagte Manou.
„Shit!“, schrie Jill.
Und sie hatte verdammt recht.
„Schnell raus!“, brüllte ich. „Wir müssen springen!“
Und in diesem Moment brach die Hölle los. Die Müllsäcke bewegten sich. Wir hörten ein dumpfes Stöhnen und dann rissen plötzlich die Plastikverschlüsse und schmutzige Hände gruben sich aus den Müllbergen hinaus. Manou riss die Lampe herum und zeigte uns ein furchtbares Schauspiel. In den Säcken waren Menschen. Ich erkannte, dass es Schwarze waren. Doch sie waren leichenblass. Ihre Augen wirkten tot, aber ihre Körper bewegten sich. Jetzt sah ich auch, was das Klopfen verursacht hatte. Manche hatten blutige Köpfe mit dicken Platzwunden, aus denen Blut perlte. Sie hatten sie offensichtlich gegen die Bordwand geschlagen und damit sich selbst die Verletzungen zugefügt. Außer dem Stöhnen gaben sie keinen Ton von sich. Mechanisch, fast wie ferngesteuert gruben sie sich den Weg frei.
„Raus hier!“, schrie ich noch mal.
Und diesmal starteten wir. Nur Manou hielt inne und schrie:
„Ich hole das Geld!“ Sie fummelte die Schlüssel heraus und drückte sie in das Schloss. Ich hielt ihr die Lampe, damit sie etwas sehen konnte.
„Bring Jill raus!“, schrie ich Steve an. Doch es war hoffnungslos, denn sie konnten ohne Licht nichts sehen.
„Hol erst das Geld!“, schrie Jill.
Ich warf ihr einen bösen Blick zu und so standen wir drei inmitten von sich windenden Sterbenden, die sich aus ihren Säcken befreiten.
Manou riss die Tresortür auf. Wir starrten auf einen Berg von Papier.
„Irgendwo hier muss es ein!“, schrie sie.
Ich riss die Papiere aus dem Tresor, doch es war kein Geld zu sehen.
„Hier ist nichts!“
Panisch blickte ich mich um. Die Kranken um uns begannen, sich zu orientieren. Sie starrten sich gegenseitig an und gaben knurrende Laute von sich.
„Fuck!“, schrie ich und riss die Lampe herum. Der Ausgang tauchte am Ende des wimmelnden Ganges auf.
„Wartet, hier ist es!“, schrie Manou, doch das war mir egal. Ich hörte, wie etwas zu Boden flatterte, vermutlich das Geld, aber kümmerte mich nicht weiter darum. Stattdessen ließ ich die Kranken nicht aus den Augen. Immer mehr Säcke bewegten sich. Sie wurden aufgerissen und blutig verkrustete Hände kamen zum Vorschein. Wir mussten hier raus. Der Erste war schon völlig frei und rollte sich aus dem Sack heraus. Er trug ein blaues Krankenhemd, das von Blut und Schweiß verdreckt war. Er stöhnte und hustete. Ich sah seine rot unterlaufenen Augen. Sie waren ansonsten völlig schwarz. Er fletschte die Zähne, als der Lichtstrahl ihn traf und sah zu mir hoch. Er verzog sein Gesicht zu einer Fratze, die Schmerz und Wut ausdrückte.
„Leuchte hier zurück!“, fauchte Manou.
„Fuck you!“, schrie ich. „Raus jetzt hier!“
Ich schubste Jill nach vorn und drängte sie so durch die Masse. Manou fluchte etwas Undeutliches, folgte mir aber. Wir balancierten durch den Gang und als ob ich es geahnt hatte, griffen die ersten Kranken nach uns. Ich wusste, dass wir in Gefahr waren. Was immer sie auch hatten, es machte sie aggressiv. Immer mehr Säcke platzten und immer mehr Körper schlugen dumpf auf dem Boden auf. Ihr Fauchen wurde zu einem Chor. Wir erreichten den Ausgang und schlugen die Tür sofort hinter uns zu. Atemlos pressten wir uns dagegen.
„Was zum Teufel ist da los?“, brüllte ich. Manou atmete hastig aus. Sie sah mich wütend an, dann zuckte sie mit den Schultern.
„Organhandel, pharmazeutische Experimente, Genozid, was weiß ich …“
„Die Kranken sind gefährlich!“, fluchte ich.
Jill und Steve schwiegen.
„Vielleicht sind sie nur krank?“, sagte Manou.
„Fuck, sie haben nach uns gegriffen! Habt ihr das nicht gemerkt?“
„Wie viel Geld hast du gesehen?“, fragte Jill merkwürdig ruhig.
Manou richtete sich auf und warf mir einen abfälligen Blick zu.
„Hundert, vielleicht zweihunderttausend Dollar!“
Ich umklammerte die Lampe fester.
„Wir gehen da auf keinen Fall wieder rein! Die Menschen da drin sind gefährlich.“
„I think, they are just dying!“, sagte Jill nach einer Pause.
In dem Moment donnerte eine Faust gegen die Tür hinter uns. Jill zuckte wie zur Bestrafung zusammen. Ich sah sie schweigend an.
„Wir müssen sehen, wer uns abschleppt!“, sagte Manou und wandte sich zur Treppe. Niemand protestierte und so erklommen wir sie und öffneten vorsichtig die Luke zum Deck. Helles Licht fiel durch den Spalt. Die Sonne ging auf. Wir rollten uns auf das Deck und blieben liegen. Dann krochen wir zur Reling und zogen uns vorsichtig hoch. Etwa dreißig Meter vor uns fuhr ein moderner Kutter, der uns im Schlepptau hatte. Er zog eine ölige Rauchwolke hinter sich her.
„Die Schlepper“, sagte Manou leise. Wir drückten uns mit dem Rücken an die Reling und rührten uns nicht. Hinter uns wurde die Küste von Ad-Dakhla immer kleiner.
„Sie ziehen uns hinauf aufs Meer,“ sagte Manou.
„Wozu?“, fragte Steve.
Eine qualvolle Pause entstand, bevor Manou antwortete.
„Sie werden auf offener See das Schiff stürmen und es dann versenken!“
Wir alle wussten, was das bedeutete. Sie würden zwischen uns und den Kranken keinen Unterschied machen.
„Was ist, wenn wir springen?“, fragte ich und sah sehnsuchtsvoll zur Küste. Manou blies die Luft aus.
„Es ist zu weit. Wir werden es nicht schaffen. Außerdem gibt es hier Haie.“ Eine Weile lang schwiegen wir alle. Wir saßen in einer tödlichen Falle. Jill fing an, zu weinen. Ich drückte mich an sie und schwieg. Wir starrten in den Sonnenaufgang, während uns die Schlepper auf die See hinauszogen.
Irgendwann verlangsamte sich das Tempo. Wir wagten einen Blick und erkannten, dass der Kutter seine Motoren ausgeschaltet hatte. Drei Männer verließen das Steuerhaus und machten sich an einem Beiboot zu schaffen, das am Achterdeck des Schiffes angebracht war. Sie trugen Maschinenpistolen.
Jill wandte sich an Manou.
„Gib mir die Schlüssel!“
„Wozu?“, fragte Manou gereizt.
„Was hast du vor?“, fragte Steve.
„Ich lasse die Kranken frei. Nur wenn sie an Deck sind, können wir bei dem Chaos mit dem Boot der Schlepper entkommen.“
„Vergiss es!“, sagte ich.
Manou zögerte, doch dann griff sie nach den Schlüsseln und drückte sie Jill in die Hand.
Jill beachtete mich nicht weiter, sondern kroch zur Luke.
„Sie will auch das Geld holen“, sagte Manou.
Ich hatte es geahnt. Ich robbte mich ebenfalls nach vorne und folgte Jill durch die Luke.
Sie bemerkte mich, als ich die Treppe betrat.
„Was willst du?“, fragte sie unwirsch. Ich antwortete nicht, sondern sprang den Rest.
„Du machst nur die Tür auf!“, sagte ich eindringlich und griff nach ihrem Arm.
Sie nickte und wir schlossen die Tür auf. Der Geruch von Blut und Tod schwappte uns entgegen. Jill zögerte einen Moment. Niemand erschien im Ausgang.
„Komm!“, sagte ich und wollte sie auf die Treppe ziehen. Doch sie versteifte sich und stieß meinen Arm weg.
„You Germans are such cowards! You will never understand the value of money!“
Sie riss sich los und betrat den Raum mit den Kranken. Ich fluchte und folgte ihr. Draußen hörte ich, wie das Boot der Schlepper gegen den Rumpf schlug.
„Gib mir die Lampe! Ich leuchte dir den Weg“, sagte ich.
Ohne zu zögern, drückte sie mir die Lampe in die Hand. Ich leuchtete über ihren Rücken.
„Beeile dich!“, bat ich sie und traute mich, einen Blick nach rechts und links zu werfen.
Die meisten Kranken hatten sich inzwischen befreit und krochen kraftlos über den Boden. Einige standen bewegungslos herum und ließen den Kopf hängen. Ich versuchte, niemand von ihnen zu blenden und leuchtete nur auf den Boden. Wie eine gelenkige Turnerin tappte sie in den Raum und wich den reglosen Kranken geschickt aus. Sie schienen sich nicht für uns zu interessieren. Ich bemerkte einige Frauen und Kinder. Die Gruppe wirkte wie eine komplette Dorfbevölkerung. Der Lichtstrahl traf das Geld auf dem Boden. Es waren schmutzige Dollarbündel. Dutzende. Jill erreichte sie und begann geräuschlos mit dem Einsammeln. Sie klemmte sich die Bündel unter die Arme, während ich zitternd die Lampe hielt. Es schien zu klappen.
Da hörten wir draußen einen hellen Schrei. Manou! Dann krachte ein Schuss. Wieder ein Schrei. Diesmal Steve! Jetzt bretterte eine ganze Salve los. Dann war es abrupt still. Jill sah mich geschockt an. Ich nahm Bewegungen neben uns wahr. Die Kranken torkelten auf uns zu. Ich wich zurück. Jill griff nach einem letzten Bündel, da tauchte neben ihr ein breiter Schatten auf. Es wurden mehr und plötzlich war sie eingekreist.
„Hilf mir!“, schrie sie und umklammerte mit beiden Armen das Geld. Aber ich torkelte wie an Fäden gezogen zurück. Jill wollte an ihnen vorbei, doch sie schubsten sie. Sie stürzte zu Boden.
„Daniel!“, schrie sie. Eine Hand patschte in ihr Gesicht und ihre Stimme erstarb. Die Kranken fielen auf sie. Ich hörte ihr Knurren, als ich aus dem Raum stolperte. Sofort erklomm ich die Leiter. Ich wollte mich lieber erschießen lassen, als ihnen in die Hände zu fallen. Ich riss die Luke auf und sah direkt in die toten Augen von Manou. Neben ihr lag Steve. Er hatte ihre Hand umklammert. Die Schlepper hatten sie durchsiebt. Schwere Stiefel huschten an mir vorbei. Auf dem Deck herrschte aus irgendeinem Grund Hektik. Etwas wurde auf Arabisch gerufen und dann hörte ich aus der Ferne ein tiefes Grollen. Es war das Dröhnen von schweren Rotoren. Hubschrauber! Aus meinem Versteck sah ich, dass die Schlepper sich abseilten. Wie viele Hubschrauber es waren, konnte ich nicht sagen. Aber ich war erleichtert. Ich kletterte aus der Luke, erhob mich und starrte in den Himmel. Am Horizont hingen zwei schwarze Helikopter am Himmel. Ihre breiten Rotoren ließen sie wie gigantische Insekten aussehen. Ich lächelte erleichtert, dann sah ich genauer hin. Das waren keine Rettungshubschrauber. Sie hatten links und rechts Ausleger, an den Mündungsrohre und Raketenwerfer angebracht waren. Apache Kampfhubschrauber.
Ich stürzte an die Reling und riss mein Hemd in die Höhe. Sie mussten mich sehen. Die Apaches rauschten heran. Das Gebrüll ihrer Rotoren erfüllte jetzt die ganze Luft. Die Schlepper hatten ihr Schiff erreicht und kletterten an Bord. Im gleichen Moment rauschten die Apaches über uns hinweg. Die Kraft ihrer Rotoren frästen runde Muster in das Meer. Ich schwenkte mein Hemd. Sie mussten mich einfach sehen. Tatsächlich machten sie kehrt. Sie flogen eine Schleife und blieben etwa hundert Meter vor uns in der Luft stehen. Regungslos hingen sie am Himmel. Sie waren so laut, dass ich meine eigene Stimme nicht hörte.
„Help!“
Ich erkannte die Piloten hinter den Frontscheiben. Ich lachte auf und winkte ihnen zu. Sie trugen dunkle Sonnenbrillen und hatten uns genau im Blick. Ich winkte so stark ich konnte. Sie gaben etwas über Funk durch. Die Schlepper hatten inzwischen ihr Schiff gestartet. Der kleine Frachter gewann an Tempo. Da drehte einer der Apaches ruckartig ab und folgte den Schleppern langsam. Plötzlich sah ich einen Blitz unter seinen Tragflächen, direkt dort, wo die Raketenwerfer angebracht waren. Dann hörte ich einen heftigen Rumms. Und dann explodierte der Frachter der Schlepper in einer gelben Feuerblume. Brennende Trümmer wurden auf das Meer geschleudert. Der andere Helikopter hatte sich nicht bewegt, sondern behielt mich im Blick. Ich schwenkte mein Hemd noch wilder.
„Help!“, schrie ich. „Help!“
Und dabei bemerkte ich nicht, dass hinter mir die Luke geöffnet wurde. Erst als ich das Fauchen hinter mir hörte, wurde mir klar, was passierte. Die Kranken krochen an Deck. Und plötzlich wimmelte das Schiff nur so von herumirrenden bleichen Wahnsinnigen, die sich die Haut von den Knochen rissen. Ich erklomm die Reling und hielt mich an einer rostigen Stange fest. Sie torkelten und wankten über das ganze Wrack. Dabei deckten sie es mit ihren Blut und Eiter verspritzenden Wunden ein. Der Apache vor mir rührte sich nicht.
„Hierher!“, schrie ich und wedelte mit den Händen. Das Dröhnen der Rotoren wurde noch lauter. Der andere Helikopter kreiste jetzt das Wrack ein. Die Kranken sahen zu ihnen hinauf und fauchten. Unkontrolliert schubsten sie sich gegenseitig und begannen zu brüllen. Plötzlich brach eine Salve los. Eine Maschinenkanone ratterte und deckte das Deck mit Kugeln ein. Ich stürzte zu Boden und hörte nur noch, wie die Geschosse in die Körper einschlugen. Sie zerfetzten sie buchstäblich im Stehen. Blut und Kleidungsreste wurden in die Luft geschleudert. Ich presste mich auf den rostigen Stahl. Es schneite eine rote Suppe aus Haut und Knochen. Aber das Rattern hörte nicht auf. Der andere Apache feuerte jetzt auch. Zerfetzte Tote schlugen neben mir auf und ich lag bald in einem See aus Blut.
Doch aus der Luke kamen noch mehr. Der Schwall der Wahnsinnigen hatte gerade erst begonnen. Eine Feuerpause entstand. Ich riss meinen Kopf hoch und sah plötzlich, wie ein Pilot mit seinem großen Helm nickte und dann auf seinen Steuerknüppel drückte. Der Apache zuckte kurz. Ich hechtete zur Reling, knallte gegen das rostige Metall und rollte mich instinktiv darüber. Dann ließ ich mich fallen. Vor mir erstreckte sich nur das dunkelblaue Meer. Plötzlich war es sehr still. Erst als ich das Wasser direkt auf mich zukommen sah, hörte ich den Einschlag der Rakete. Ich schlug auf den Wellen auf, als das Wrack in einer Wolke aus Feuer und Blut über mir explodierte. Ich sank tiefer. Körperteile und brennende Wracktrümmer überholten mich. Der Rumpf der Bayflower zerbarst direkt vor mir und gab Hunderte von schwarzen Müllsäcken frei. Ich rauschte mit ihnen in die Tiefe. Das Letzte, was ich sah, waren die Apaches, die über mir die kreisten und dann schließlich abdrehten. Dann wurde alles schwarz.
„Er lebt!“, hörte ich eine Stimme auf Englisch sagen.
Ich öffnete die Augen und sah eine Greenpeacefahne über mir flattern. Jemand mit einem Rauschebart hatte sich über mich gebeugt und schob meine Lider hoch. Ich hustete.
„Willkommen auf der Rainbow Warrior!“, sagte der Mann grimmig und verschwand aus meinem Blickfeld.
Eine halbe Stunde später hatte man mich in eine Decke gewickelt und mir eine Tasse Tee gebracht. Ich saß auf einem Ölfass und schaute auf den atlantischen Ozean. Der Wind zerrte an mir, als der Seebär und ein junger Matrose zu mir traten. Der Kapitän sprach Englisch.
„Mein Name ist Lasse Tronsen. Sie sind auf der Rainbow Warrior III. Wir haben Sie etwa fünfzig Kilometer vor der Küste von Mauretanien aus dem Wasser gefischt. Hatten Sie einen Seeunfall?“
Ich nickte. Mühsam begann ich zu sprechen.
„Ich bin Deutscher. Könnten Sie mich irgendwo an Land setzen? Ich muss zur deutschen Botschaft und etwas melden“, erklärte ich.
Er sah mich einen Moment lang skeptisch an.
„Tut mir leid, das ist leider nicht möglich. Die afrikanische Küste steht unter Quarantäne.“
Ich schluckte.
„Ich muss zurück nach Deutschland. Ich habe mich seit sechs Tagen nicht mehr bei meiner Familie gemeldet …“
Wieder schwiegen sie.
„Wann haben Sie denn das letzte Mal Nachrichten gehört?“, fragte mich der Jüngere.
Ich überlegte.
„Etwa vor fünf oder sechs Tagen.“
Tronsen sog die Luft tief ein.
„Vor drei Tagen wurde der internationale Notstand ausgerufen. Europa ist vollkommen abgeriegelt. Niemand kommt da rein oder raus.“
„Was ist passiert?“
Tronsen hob die Brauen und zuckte mit den Schultern. Dann griff er in seinen dicken Anorak und holte eine zerknitterte BILD-Zeitung hervor. Er gab sie mir. Sie war fünf Tage alt. Die Überschrift lautete: Bayflower jetzt in Deutschland. Erste Fälle des aggressiven Virus, das vermutlich auf einem Schiff aus Indonesien ausbrach und von der Besatzung über Marokko weltweit verbreitet wurde, wurden jetzt in München bekannt. Kanzlerin ist alarmiert.
Ich las den ganzen Artikel. Sie hatten das Virus tatsächlich Bayflower getauft. Und Bayflower wütete jetzt auf der ganzen Welt. Als ich aufsah, wusste ich, dass ich nicht nach Deutschland zurückkehren konnte. Tronsen stand noch immer vor mir. Er hatte Mitgefühl in den Augen.
„Wir steuern Ascension an, eine abgelegene Insel im Südatlantik. Dort ist eine Kabelstation. Außerdem gibt es eine kleine Stadt und eine Militärbasis. Wir können nur hoffen, dass sie uns aufnehmen.“
Ich erwiderte nichts, sondern hörte seine Stimme nur von Weitem. Ich sah an ihm vorbei auf das unendlich erscheinende graue Meer.
„Wir brauchen noch jemand im Maschinenraum … Trauen Sie sich das zu?“
Ich nickte langsam. Tronsen sagte eine Weile lang nichts.
„Was haben Sie denn vorher gemacht?“
„Jura studiert.“
Mir fiel auf, dass der Himmel und das Meer die gleiche Farbe hatten. Es gab kein Ende und keinen Anfang.
„Schätze, das werden Sie eine Weile lang nicht mehr brauchen …“
Ich ahnte, dass er recht hatte und trank vom heißen Tee, der mich wärmte.