Guido Ahner

Nyxie Zombie

 

Tina-Nyx Dubillard wollte gestern Abend nicht über ihre Eltern reden. Nicht schon wieder. Und vor allem nicht in der neuen Selbsthilfegruppe, die sie nur unter Zwang besuchte, nachdem sie mit den Leuten aus der vorigen nicht mehr zurechtgekommen war.

In der Gruppe wurde sie Tina genannt, so wie auch ihre Eltern sie nannten. Leute, die sie gut kannten und was auf sich hielten, nannten sie Nyxie. Ihr zweiter Vorname Nyx kam aus dem Griechischen und bedeutete Nacht. Die Eltern fanden das damals schick, so wie man bekifft so manches schick findet.

Nun war glücklicherweise Samstag, der perfekte Tag, um sich die Decke nicht auf den Kopf fallen zu lassen. Sie schluckte eine Tablette Distraneurin und fuhr mit der Bahn in die Stadt, um etwas Handfestes zu sich zu nehmen.

Auf ihrem Handy wartete eine SMS:

„Tina, haben Sie eigentlich einen Freund?“

Tina hatte noch nicht darauf geantwortet. Der Fragende war interessanterweise Doktor Frosch, der sie vor ein paar Wochen in der Notaufnahme behandelt und mit dem sie nach ihrer Entgiftung einen Kaffee in der Lobby des Krankenhauses getrunken hatte. Bei dieser Gelegenheit hatten beide routinemäßig ihre Nummern ausgetauscht. Über Privates wurde jedoch kaum geredet, mehr über Süchte und Therapien im Allgemeinen und die Anstrengungen des Dienstes als Notfallmediziner. Tina erkannte damals, dass Frosch erkannte, dass sie nicht besonders gesprächig war, was ihre Sauferei anging. Selbst in der alten Selbsthilfegruppe sprach sie nur ungern über die Ursachen, was daran liegen mochte, dass sie sie selbst nicht so recht lokalisieren konnte. Es hatte keine wirkliche Katastrophe oder Tragödie in ihrem Leben gegeben, nichts Dramatisches, nur kleine Beben, Traurigkeitsschauer und Depressionstümmelchen. Doch vielleicht war es gerade die Summe, die Tina zermürbt oder geschunden hatte, getrieben hatte in die Freuden des Feuerwassers.

Jetzt war Tina-Nyx trocken und schluckte bis zu vier Distras am Tag. Distraneurin war ein Mittel für Entzugspatienten, so was wie Alkohol ohne Flüssigkeit und legal nur stationär erhältlich. Tina verstand es, sich einer Quelle über das Internet zu bedienen und wurde nun im Zweiwochenrhythmus über einen geheimen Briefkasten beliefert.

Was sollte sie mit der SMS von Doktor Frosch anfangen?

Erstmal nichts. Tina holte sich an der Bude von Murats Eltern einen Döner und setzte sich noch ein wenig an den Brunnen vor dem Hauptbahnhof. Der Döner war klasse wie immer. Danach rauchte sie ausnahmsweise wieder mal eine blaue Gauloises. Sonst war sie schon vor Monaten auf billige Zigarillos umgestiegen, doch eine Nachzahlung von den Stadtwerken erlaubte ihr ein klein wenig Eskapismus. Vor kurzem hatte sie sich ein Buch über Paris und zwei DVDs gekauft, „Der phantastische Planet“ – ein französischer Zeichentrickfilm, und „Rope“ von Alfred Hitchcock, der sie wegen ihrer Profession als studierte Theaterregisseurin interessierte.

Jetzt kam sie grundlos in Stimmung, sich bei Luca zu melden, einem neuen platonischen Freund, fast acht Jahre jünger als sie und Bruder ihres Exfreundes Tedesco. Es schien eine Art Gratwanderung, mit Luca Kontakt zu halten, ohne in Verdacht zu geraten, wieder mit Tedesco, dem Arschloch, anbändeln zu wollen. Luca besaß noch eine jugendliche Frische und Ambitionen, von denen sich Tina in ihrer Prä-Desillusioniertheit ein Scheibchen abschneiden wollte. Eigentlich Einzelhandelskaufmann, strebte Luca eine Karriere als Schauspieler an, konnte sogar schon einige Minirollen in Vorabendserien verbuchen. Doch ihm fehlte es an Routine und lief ständig zu denselben Castings, zu denen seine Angebetete Uschi geladen wurde, die fast immer nur Putzfrauen spielen durfte und ein Buch mit dem Titel „Das feudelnde Faktotum“ plante, ganz in der Tradition von Charles Bukowski.

Luca befand sich gerade wieder in der Stadt und zeigte sich sehr erfreut über Tinas Anruf. Tina erlaubte sich zu lachen und Witze zu reißen, was bei Luca wunderbar funktionierte, weil er noch nicht so verhärtet und verstaubt war wie ihre übrigen Bekannten, allen voran ihre Nachbarin Beate, eine finstere Lesbe aus Brandenburg, die ergebnislos versuchte, auf ihrem Balkon Hanf anzubauen und die Beziehung zu ihrer Geliebten Peggy nur mit Valium durchhielt.

Luca und Tina beschlossen spontan, sich in der City zu treffen, in etwa einer Dreiviertelstunde. Tina freute sich aufrichtig. Sie hatte noch genug Zeit, um in den großen Buchladen zu gehen und ein wenig bei den Schnäppchen zu stöbern. Die Distra tat ihre Wirkung, die Müdigkeit und der kleine Sauerstoffmangel im Gehirn vom Reden und Lachen ließen sie seltsam lächerliche, freudsche Buchtitel fälschlich entziffern:

„Bombige Bohnen für Schwangere“

„Schnitzgrüpchen auf thailändisch“

„Exzemküche“

Soweit die Kochbücher. Die Geschichtsbücher hießen:

„Große Fundamentmützen“

„Altes Änemienien“ und bei den Ratgeberschinken fand sie:

„Immer wieder Möse“

„Der große Pimmelführer“

Sie war angewidert. Ihr Blick blieb auf einem großen Bildband über Hundertwasser haften, der nur zehn Euro kostete. Früher hatte sie Hundertwasser geliebt, war dann zu Klimt gewechselt, und später wurde Kandinsky wichtig, zu einer Zeit, in der sie bald nach dem Studium mehrere Wochen lang mit ihrem damaligen Freund Arne in einer stockdunklen Wohnung ohne Strom gelebt hatte.

Nein, sie wollte das Buch über Hundertwasser nicht mitnehmen und erinnerte sich in ihrer rauschhaften Müdigkeit daran, dass ihr momentaner Lieblingsmaler Caravaggio war. Und sie liebte den gleichnamigen Film von Derek Jarman mit Nigel Terry und Tilda Swinton. Mit dieser Schauspielerin zu arbeiten, wäre ihr eine Armamputation wert.

Tina blieb vernünftig und kaufte nichts.

Wo hatte sie sich doch gleich mit Luca verabredet? Bei der neuen Baustelle gegenüber vom Opernhaus, oder?

Tina musste sich plötzlich beeilen. Sie wusste und schätzte es, dass Luca für einen Italiener außerordentlich pünktlich war. Er hielt das für professionell.

Für einen kurzen Moment wurde es pechschwarz in Tinas Geist. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie gerade eben an die dunklen Wochen mit Arne gedacht hatte. Diese Wochen hatten eine bleibende Wirkung auf ihrer Erfahrungspalette hinterlassen. Wie ein LSD-Trip, der noch nach Jahren wieder aus der Versenkung auftauchen konnte. Doch diesmal zeigte sich das Gefühl intensiver und aufdringlicher als zuvor, was in ihr den Verdacht aufkeimen ließ, sich irgendeinen Infekt eingefangen zu haben.

Sie begann zu frieren, obwohl es für Ende September erstaunliche 24 Grad waren. Ein Schütteln erfasste sie, in seiner Art eine Mischung aus Abscheu, Melancholie und stechender sexueller Erregung, über die sie sich sehr ärgerte. Diese Gauloises brannten immer viel zu schnell herunter. Eine neue musste dran glauben. Luca, so erinnerte sie sich, war ein eifriger Schnorrer, mochte aber die billigen Zigarillos nicht. Sollte Tina ihm die Existenz der Gauloises verschweigen? Nein, das war bei weitem zu kindisch.

Luca kam pünktlich. Er sah klasse aus mit seinen 26 Jahren, so schlank, so gesund und frei von Tragödien.

Tina umarmte ihn und bot ihm gleich eine Zigarette an, die er aber stolz ablehnte. Nein, rauchen wollte er nicht mehr. Das letzte Casting war ganz gut verlaufen, und wenn er genommen wurde, durfte er im nächsten Münsteraner Tatort einen Kellner spielen. Seine Freundin war für eine Nebenrolle als Nutte abgeblitzt. Luca war unterwegs ein Einfall gekommen, den er unerhört lustig fand. Inspiriert von einem Leiter des Castingbüros wollte er die Floskel „Ich kann darüber nicht lachen“ in Zukunft öfter anwenden.

Besonders in einer Situation unter Fremden, in der jemand eine lustige Geschichte erzählt, die so wertfrei und erheiternd ist, dass alle darüber lachen. In diesem Fall wollte Luca, sowie das Gelächter verebbte, sagen: „Ich kann darüber nicht lachen“ und so Verwirrung auslösen. Dabei wollte er übertrieben ernst und beinah finster dreinschauen, damit sich die Leute fragten, welch unangenehme Assoziation er mit der launigen Erzählung verbinden mochte. Das amüsierte ihn, und Tina tat so, als gefiele ihr die Idee, riet ihm aber davon ab, sie bei einem Casting umzusetzen. Luca wirkte beleidigt und beteuerte, schließlich nicht blöd oder gar unprofessionell zu sein. Tina beruhigte ihn und schlug ihm vor, ins Kino zu gehen, aber Luca wollte nicht. Wie beiläufig und natürlich betont kühl fragte sie nach Tedescos Befinden. Luca sagte, er habe schon seit einer Woche nichts mehr von seinem Bruder gehört und hegte den Verdacht, dass er inmitten seines ständigen Referierens über antike Götter und Heroen langsam den Verstand verlor.

Tina musste sich wundern. Damals, als beide noch ein Paar waren, war Tedesco besessen gewesen von astronomischen Phänomenen. Er besaß so eine herrliche Mischung aus großer Neugier und rationalem Scharfsinn. Tina hatte ihn für seine Akribie bewundert und sich sogar mehrere Notizen gemacht, in denen sie Tedesco zu einer Theaterfigur adaptieren wollte. Nun, das lag alles schon lange genug zurück, um als Vergangenheit gelten zu können, mit allen dazugehörigen Wertungen.

Luca fragte sie süffisant, ob sie weiter über Tedesco sprechen wollte. Luca, dieser Filou. Er wusste, dass er Tina damit ärgern konnte. Als er und Tina anfingen sich zu treffen, stand natürlich die Frage im Raum, ob der kleine Bruder eventuell ein erotisches Interesse an Tina hegte. Doch Tina fand heraus, dass sie für diesen schneidigen Kerl zu verbraucht erschien. Zu kaputt. Luca wusste von ihrem Alkoholproblem, so wie fast alle in ihrem Gesichtskreis. Ob sie nun dazu verdammt war, in Zukunft nur noch ähnlich geschädigte Existenzen als Partner zu bekommen, war schwer zu beurteilen. Sie legte es zurzeit nicht drauf an.

Bei einer widerlichen Sitzung in ihrer Selbsthilfegruppe erdreistete sich einst eine Frau und Leidensgenossin, die Behauptung aufzustellen, Tina wäre eine Person, die ein normaler Mann nicht mal mit einer Kneifzange anfassen würde. Tina, in ihren guten Momenten sehr schlagfertig, entgegnete, dass sie sich mit etwas anderem als einer Kneifzange gar nicht anfassen lassen würde.

Man warf ihr lebensverneinende Tendenzen vor, was Tina in ihrem Urteil bestärkte, dass diese Gruppenmitglieder sie überhaupt nicht kannten. Doch dafür gab sie sich selbst die Schuld. Sie gab einfach zu wenig preis, zu wenig für die geläuterte Trinkerin, die sie nicht sein wollte. Das Schlucken der Pillen war nur eine Übergangslösung. Bald wollte sie wieder vorsichtig trinken, es aber aufs Wochenende beschränken.

Luca überredete sie, zu einer Alternativbühne ins Studentenviertel zu fahren. Er wollte sie einigen Leuten vorstellen. Eigentlich verspürte sie keine Lust auf neue Bekanntschaften und bekam den Verdacht, dass sie bei irgendeinem durchgeknallten Amateurstück Regie führen sollte. Erst vor einem Monat hatte sie die Brocken hingeschmissen, als sie bei der Leitung einer Inszenierung von „Zoo-Story“ von Edward Albee die Geduld verloren hatte, weil die beiden Darsteller unbedingt in Affenkostümen auftreten wollten.

Das Theater war eine alte Lagerhalle für Feuerwerkskörper, die vor drei Jahren beinah vollkommen abgebrannt wäre. Irgendein Mäzen hatte sie mit ein wenig städtischen Geldern saniert und dann vergessen. Nun fanden dort größtenteils Laienaufführungen statt, bei denen der eine oder andere Schauspielstudent mitwirkte.

Die Situation war noch schräger, als es sich Tina hätte vorstellen können. Es gab dort zwei rivalisierende Schauspieltruppen, die beide unabhängig voneinander eine asiatisch angehauchte Version von „Woyzeck“ aufführen wollten. Die Gruppe, die ihr von Luca vorgestellt wurde, war der Verzweiflung nahe, weil man sich darauf geeinigt hatte, einen Wettstreit darüber auszufechten, welche der beiden Gruppen das Stück auf die Bühne bringen durfte. Da die andere Gruppe ein wenig mehr finanziellen Einfluss besaß und obendrein sportlich vorgebildet war, wurde ein Fußballspiel anberaumt, um einen Sieger zu ermitteln.

Und Tina sollte die unerfahrene Gruppe auf das Spiel vorbereiten. Sie konnte, als sie sich diesen Vorschlag anhörte, Luca in sich hinein lachen hören. Tina machte der Gruppe klar, dass sie absolut nichts von Fußball verstand. Ohne Erfolg. Man versprach ihr kostenlose Mittagessen in einem Restaurant in der Nähe und 500 Euro nach Abschluss des Trainings. Das Spiel sollte in vier Wochen stattfinden, und solange hatte Tina Zeit, sich zunächst im Fußball schlau zu machen und die Theatertruppe zu trainieren. Der einzige von ihnen, der ein wenig Sport trieb, war Eberhard, der ab und zu Tischtennis spielte.

Tina sagte zu. Man drückte ihr DVDs legendärer Fußballspiele und Lehrfilme in die Hand und verkündete stolz, schon mit dem Lauftraining angefangen zu haben. Verdutzt und überrumpelt, auch amüsiert, verließ Tina mit Luca die Lagerhalle. Luca klopfte ihr gönnerhaft auf die Schulter. Er würde ihr helfen, sagte er. Als Italiener konnte er ihr gewiss einige Dinge über Fußball erzählen. Auf die Frage, warum Luca nicht selbst diese Aufgabe übernahm, gab er zu verstehen, für so einen Kinderkram keine Zeit übrig zu haben. Tina bedankte sich mit größtmöglicher Ironie bei ihm und trat ihm tadelnd in den Hintern. Zusammen fuhren sie zu Lucas WG und sahen die DVDs quer. Da gab es die Weltmeisterschaften von 2006, 2010 und 1990, berühmte Tore der Fußballgeschichte, eine Trainings-DVD und ein Machwerk, von dem Tina erst glaubte, es sei ein englischer Krimi aus den Siebzigern. Doch hinter dem protzigen Titel „PROFIS“ verbarg sich eine Dokumentation über Uli Hoeneß und Paul Breitner. Sie zeigte, wie beide nackt im Bett Zeitung lasen, Sportsendungen besuchten und stupide Sportlerphrasen droschen, so als besäßen sie die Bedeutung der Bergpredigt und Genschers Ankündigung in der Prager Botschaft zusammen. Für Tina erschloss sich ein völlig neues intellektuelles Wirkungsgebiet, und sie zeigte sich fasziniert von Breitners Lockenpracht, die ihr noch sakraler vorkam, als sie eine weitere Pille geschluckt hatte.

In sich hinein kichernd dachte sie an ihre ehemals ambitionierten Versuche, mit autobiografischen Texten und Videoclips bei Theatern auf sich aufmerksam zu machen, wobei sie für die Titel wunderbar dümmlich mit ihrem zweiten Vornamen spielte:

„Nyx Gutes“ oder „Gott vor Nyx“ und schließlich „Nyx da!“

Ein Intendant antwortete ihr mit der kühlen Beleidigung:

„Von Nyx kommt Nyx.“ Danach war es vorbei mit dieser Art der Eigenwerbung.

Auf einmal spürte sie ein Zerren in ihrem Leib, eine plötzliche, unhöfliche Kälte auf ihrer Stirn, und sie stammelte irgendetwas über Seifenblasen. Luca hielt sich zu diesem Zeitpunkt in der Küche auf und telefonierte mit seiner Freundin Uschi. Als er wieder ins Zimmer kam, weinte Tina hemmungslos. Entsetzt stürzte er auf sie zu, fasste sie bei den Schultern und fragte, was mit ihr los sei.

„Die Pillen“, sagte sie kalt. Sie vertrage diese Dinger nicht mehr. Sie fühlte sich elend und ausgedörrt. Luca bot ihr vorsichtig an, einen Wein zu trinken, und Tina überlegte. Ein kühles Glas Soave, eingeschenkt vom schönen Luca. Nein, das konnte ja kein Rückfall in die Trinkerei sein, das war Kultur und angemessen für eine Regisseurin, trotz ihrer Degradierung zur Fußballtrainerin.

Ob es Luca denn weitersagen würde, wollte sie wissen. Er zwinkerte komplizenhaft. Dann ging er, um den Wein zu holen.

Wie spät war es? Gerade mal fünf Uhr am Nachmittag. Eigentlich zu früh. Aber in Lucas Zimmer war es so schön und gemütlich, und sie wollte einfach nur dieses miese kalte Gefühl loswerden. Sie musste natürlich an den Arzt Doktor Frosch denken, der sie in der Notfallaufnahme behandelt und in die Entgiftung geschickt hatte. Bei seinem Anblick hatte sie sofort an Kevin Spacey denken müssen. Im Geiste kniete sie vor ihm nieder und entschuldigte sich bei ihm. Was hatten diese dämlichen Fußballer mit ihr angestellt?

Ihr Handy klingelte. Ihre Freundin Nergiz. So aufgeräumt wie möglich erzählte Tina von ihrem neuen ‚Engagement’. Nergiz lachte sich schlapp. Mann, gut, dachte Tina, dass sie dieses kleine Formtief bei Luca durchlebte, und nicht bei Nergiz. Ihm gegenüber brauchte sie nicht die Starke zu spielen. Er hatte sie schon viel schlimmer erlebt. Aus Liebeskummer kleine Feiglinge kotzend auf dem Bahnhofsklo, apokalyptisch weinend über die Trennung von Tedesco. Unter dem Bordstein der Würde krauchend und wimmernd.

Luca war es gewesen, der sie in die Notaufnahme gefahren hatte. Beide hatten nie darüber ein ordentliches Gespräch geführt. Sie dachten wohl, es brauchte nicht durchgekaut zu werden. Man ließ die Sache ruhen.

Nun bewegte man sich wieder in die Richtung einer vergleichbaren Situation, doch als Luca mit der entkorkten Literflasche Soave im Zimmer erschien, war es wie Absolution. Natürlich brauchte sie weder seinen Segen noch seine Zustimmung, doch seine wertfreie Anteilnahme besänftigte ihr Gemüt. Damals hatte sie ihn gebraucht, um ins Krankenhaus zu kommen, und nun brauchte sie ihn, damit er ihr Wein gab.

Schon nach dem ersten Schluck fühlte sich Tina zehn Mal besser und zündete sich eine dieser herrlichen Gauloises an. Nun verdiente diese Existenz wieder den Titel Leben.

Luca benahm sich sehr weise und legte eine andere DVD ein. „Tanz der Vampire“, einen Film, den jeder halbwegs vernünftige Mensch liebte.

Tina bedankte sich aufrichtig bei Luca, der ihr leeres Glas wieder auffüllte. Tina sah ihn fragend an. Er verstand und versicherte, er habe noch unzählige weitere Flaschen in der Speisekammer. Sie wollte ihn küssen vor Freude, war aber noch nicht mutig genug.

Von Minute zu Minute kam ihr Gemüt immer besser in Schwung, und als sie ein Stadium erreicht hatte, in dem sie sich sogar eine gewisse Souveränität zutraute, rief sie erneut die SMS von Dr. Frosch auf:

„Tina, haben Sie eigentlich einen Freund?“

Tina antwortete:

„Nennen Sie mich Nyxie, Doc. Gehen wir mal aus?“

Sie drückte auf Senden.

Tina und Luca amüsierten sich über den Film, und Luca holte bald eine neue Flasche. Er vertrug nicht so viel wie sie und wurde langsam müde. Tina trank einfach weiter, und als der Film zu Ende war, legte sie „Gladiator“ ein. Russel Crowe hatte eine winzig kleine Ähnlichkeit mit Tedesco, und da sich dieser ja gerade für die Antike interessierte, schloss sich ein kleiner Kreis.

Tina musste für die dritte Flasche selbst in die Küche gehen, wo die zwei Mitbewohner von Luca saßen und über ihre Magisterarbeiten sprachen. So was hatte Tina hinter sich.

Sie schaute „Gladiator“ nur bis zu der Stelle, in der Russel Crowe seine ermordete Familie findet und nahm sich abermals die Fußballvideos vor. Mit großen Augen starrte sie auf die 22 rennenden Männer und begann erstaunlicherweise, sich Notizen zu machen.

Kurz bevor die dritte Flasche leer war, legte sie dem schlafenden Luca ein Kissen unter den Kopf, schrieb ihm eine Nachricht und verließ nach einem letzten Schluck die Wohnung.

Sie fand noch einen offenen Supermarkt, kaufte weitere vier Flaschen Tafelwein für je 1.99 € und billige Zigarillos.

Zuhause stellte sie einen taktischen Plan auf und ging die Mitglieder der Gruppe im Geiste durch, sortierte sie nach Größe und Körperbau. Sie fand es beruhigend, dass es in der Gruppe nur eine einzige Frau gab. Es war diejenige, die Woyzecks Ehefrau spielen sollte und am Ende von ihm erstochen wurde. Tina wollte sie irgendwo in der Abwehr unterbringen, es sei denn, sie verfügte über ein besonderes Ballgefühl. Doch das war unwahrscheinlich, denn sie wirkte eher wie eine Person, die am Wochenende ihre Mutter besuchte und abends um neun mit einem Früchtetee und einem entsetzlich vergeistigten Buch ins Bett ging, ohne Freund, denn dieser würde sich wahrscheinlich gerade auf einem Schnupperkurs für Eichhörnchenkunde oder aktive Suizidhilfe bei Krebskandidaten befinden und erst am nächsten Abend gewagterweise mit einer Flasche Biowein zurückkommen.

Tina wollte am ersten Trainingstag zunächst die Schnelligkeit der Leute testen und anschließend mit lockeren Ballübungen beginnen, die sie sich von dem Lehrvideo abgeschaut hatte.

Nach zwei Stunden Vorbereitungsarbeit hatte sie genug davon und schaute fern, bis sie unmittelbar vor dem Entkorken ihres zweiten Landweins wahnsinnige Lust auf Musik bekam und sich über Kopfhörer mit Portishead und Tori Amos satt hörte. Traditionell schloss sie das Musikhören mit den „Vier Jahreszeiten“ ab, und bei der vorletzten Flasche erfasste sie der beinah unwiderstehliche Drang, bei Tedesco anzurufen. Aber sie schaffte es zu widerstehen, und bei einer Wiederholung von „Robocop“ schlief sie ein.

Sie träumte von rohem Fleisch.

Es war überaus erstaunlich. Die Theatergruppe hörte aufs Wort. Man befand sich etwa zehn Minuten Fußweg von der Lagerhalle entfernt in einem kleinen Park, und Tina, ohne jeglichen Kater, teilte die Leute nach Schnelligkeit ein. Sie arbeitete viel mit ausgestrecktem Zeigefinger und brauchte nicht einmal laut zu werden. Alle hingen an ihren Lippen. Die drei Jungs, die am besten mit dem Ball umgehen konnten, nominierte sie für das Mittelfeld und einen besonders großen, ironischerweise der Darsteller des Woyceck, stellte sie ins Tor. Woyzecks Frau bekam einen Platz auf der linken Abwehrseite, aber Tina wusste, dass das nicht gutgehen würde. Allerdings stellte sich die Wahl der Stürmer als schwierig heraus, da alle gleich schlecht das Tor treffen konnten. Sie entschied sich, nur mit offensiven Mittelfeldspielern zu arbeiten und den Ball so lange wie möglich in den eigenen Reihen zu halten, denn ein präzises Kurzpassspiel einzustudieren konnte in dieser kurzen Zeit nicht bewältigt werden. Das Training sollte sich erstmal auf die individuellen Fähigkeiten konzentrieren. Insgeheim hoffte sie, dass Luca zur Not als Stürmer einspringen konnte, obwohl er nicht zur Truppe gehörte.

Ein weiteres Problem stellte die Kondition dar, doch Tina hatte bereits erkannt, dass man an diesem Manko am leichtesten arbeiten konnte und verordnete jedem ab sofort morgendliches Joggen. Tina konnte bereits riechen, dass die meisten Terminprobleme vorschieben würden, um sich zu drücken. In so einem Fall konnte sie eiskalt werden und klare Worte finden. Sie drohte nicht, schimpfte nicht, echauffierte sich nicht, sondern setzte die Leute nur darüber in Kenntnis, dass jede Missachtung ihrer Anweisungen ein sofortiges Scheitern der Mission zur Folge hatte. Murrende Darsteller kannte sie schon von früher, und selbst einem so großgewachsenen, frischgebackenen Torhüter wie Torben alias Woyzeck konnte sie mit einem Wimpernschlag die Stirn bieten.

Es war verrückt, doch während sie, noch nicht einmal mit einer Trillerpfeife bewaffnet, da an so was keiner gedacht hatte, diesen traurigen Haufen unprofessioneller Schauspieler und grauenhaft untalentierter Fußballer herumkommandierte, fühlte sie sich wieder als Regisseurin. In ihrem Element. Voll da. Egal ob Diktator, Dirigent, Kapitän, Regisseur oder Fußballtrainer, es gab nichts Schöneres, als die Zügel in der Hand zu halten.

Nach drei Stunden waren alle erschöpft, auch Tina, aber ihre Erschöpfung war gebettet in Zufriedenheit und von einem Sonnenbad im eigenen Ego begleitet. Den letzten Abend verbuchte sie als Ausrutscher und schluckte erst jetzt ihre erste Tablette Distraneurin.

Mit einer bleiernen Müdigkeit fuhr sie heim. Es war erst zwei Uhr nachmittags, doch sie konnte kaum noch klar denken. Die Tablette hatte voll eingeschlagen, aber bevor sie ins Bett fiel, checkte sie ihr Handy. Es zeigte eine Nachricht von Dr. Frosch:

„Ich habe zur Zeit Urlaub. Rufen Sie mich doch an. Ich möchte Sie zum Essen einladen.“

Tina lächelte. Ja, sie würde ihn anrufen. Aber nicht jetzt.

In einem nebulösen Halbschlaf durchquerte sie im Geiste einige schwarze Scherenschnitte und hellgraue Pentagramme. Russel Crowe wurde von einem Baumstamm mit Armen in die Garotte genommen. Eine Maus platzte, und in der Realität lief im Fernsehen die Wiederholung einer Talentshow. Tina bekam das Gefühl, Sachsen oder Wandalen seien in ihre Wohnung eingedrungen, aber darüber konnte sie ruhig hinwegsehen.

Gegen Abend kam sie wieder zu Bewusstsein und war stocknüchtern. Aber ihre Lust auf eine weitere Pille hielt sich in Grenzen. Im Kühlschrank befand sich noch ein letzter Rest Wein, und da sie nun ein wenig zittrig wurde, goss sie sich ein Glas voll. Mehr war nicht drin. Eine kleine Weile überschlug sie die Möglichkeit, Dr. Frosch anzurufen, doch sie traute sich nicht. In einem Anflug von verzweifelter Energie schwang sie sich aufs Rad und fuhr zur nächsten Tankstelle, bezahlte eine Unsumme für drei Flaschen Wein, trat erst die Rückfahrt an, kehrte aber wieder um und kaufte noch zwei Flaschen. Der Angestellte der Tankstelle war ein flaumiger Neuling und schon froh, den Strichcode richtig eingescannt zu haben. Er sah sie nicht schräg an und erwiderte auch nichts, als Tina ihm vorlog, dass sie ja schließlich noch auf eine Party gehen wollte und genug Alkohol mitbringen musste. Sie hasste es, wenn ihr etwas peinlich war. Wie bei einem Teenager, der sich ein Pornoheft kauft.

Tina fluchte, weil der gestrige Abend nicht mehr als einmaliger Ausrutscher gelten konnte. Sie dachte an die Entgiftungsstation. Eigentlich wollte sie dort nicht so schnell wieder hin. Ihre Leberwerte hatten sich noch in einem tolerablen Rahmen befunden, und bis auf das Zittern litt sie an keinen sonderlichen körperlichen Beschwerden.

Scheiß drauf, dachte sie.

Nach der ersten Flasche zeigte die Uhr erst sechs, und Tina bekam Hunger. In ihrem Kühlfach lagerte noch eine Putenbrust, die sie in der Mikrowelle auftaute. Zum Braten fehlte ihr die Geduld, also versuchte sie, das Stück Fleisch roh zu verspeisen. Obwohl es widerlich kalt war, konnte Tina Gefallen daran finden. Sie schmatzte und spülte mit Wein nach. Anschließend bekam sie Lust auf etwas Trockenes. Sie kaute an einer Scheibe Brot herum und sah aus dem Fenster. Draußen, bei dem kleinen Spielplatz, befanden sich Menschen, und Tina stellte sich vor, wie es wäre, einem von ihnen ein Stück Haut abzuschneiden.

 

Ihre Freundin Nergiz rief an und schlug vor, mit ihr und ihrem Freund ins Kino zu gehen. Genau wie Tina liebte Nergiz die gemütlichen Programmkinos. Tina sagte spontan zu und man entschied sich für die Acht-Uhr-Vorstellung von Coppolas „Dracula“. Dieser Film hatte Tina schon damals, Anfang der Neunziger, aufgewühlt, obgleich sie ihn stilistisch zu überladen fand. Das viele Blut machte sie unruhig, ebenso die Tatsache, dass Nergiz und ihr Freund, die neben ihr saßen, kaum voneinander lassen konnten. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was die beiden alles trieben, wenn sie alleine waren. Tinas Alkoholpegel schwenkte sanft nach unten, aber es störte sie nicht, und sie schluckte auch keine Tablette mehr. Das viele Blut in dem Film und die wellenartige, dramatisch aufbrausende Musik erhöhten ihren Puls, und als sie einen verstohlenen Blick auf Nergiz und ihren Freund warf, bekam sie den plötzlichen Wunsch, ihre Freundin zu beißen. In sich hineinlachend konzentrierte sie sich wieder auf den Film, doch dieser bizarre Wunsch verflüchtigte sich nicht. Während der Szene, in der Winona Ryder Gary Oldman an der Brust saugte, rückte sie näher an Nergiz heran, als deren Hand zielgerichtet auf den Schrittbereich ihres Freundes zusteuerte. Tina starrte auf Nergiz’ hübsche Schulter. Wie ein Apfel. Oder die Krone einer großen Kugel Vanilleeis. Oder noch besser: Fleisch.

Tina biss zu. Aber nicht stark. Nergiz zuckte hoch und gab einen kleinen Laut von sich, glotzte Tina an und lachte. Tina wollte auch lachen, konnte aber nicht. Als Nergiz in den seltsam verklärten Gesichtsausdruck ihrer Freundin blickte, krauste sie die Stirn und schüttelte den Kopf. Sie hatte bereits gerochen, dass Tina nicht mehr nüchtern war, also schrieb sie diesen kleinen Angriff dem Alkohol zu, gepaart mit der Tatsache, dass Tina anscheinend ausgehungert nach Zärtlichkeit war.

Beim Abspann des Films musste Tina ein paar Tränen laufen lassen, aber sie schluchzte nicht. Ohne viele Worte verließ man das Kino, und Tinas Beißattacke wurde nicht angesprochen. Nergiz und ihr Freund zog es nach Hause, also war Tina wieder allein. Und wieder hungrig.

Ein schwarzer Blitz schoss durch ihr Hirn, als sie gerade auf ihr Rad steigen wollte. Stattdessen schloss sie es erneut an und verkroch sich in ein Gebüsch. Sie holte ihr Handy heraus und schrieb eine SMS an Dr. Frosch:

„Treffen Sie mich doch-„

Dann fiel ihr nichts mehr ein. Ohne viel zu überlegen rief sie ihn direkt an.

„Frosch.“

„Dubillard hier, Tina Dubillard.“

„Nyx Dubillard? Wie schön, dass Sie mich endlich anrufen. Wie geht es Ihnen, Nyxie?“

Tina wunderte sich, dass er sie mit ihrem zweiten Vornamen anredete, Doch dann erinnerte sie sich, es ihm kürzlich erlaubt zu haben.

„Nyxie, geht es Ihnen gut?“

„Ach Doktor ... Ich weiß es nicht. Habe wieder etwas getrunken.“

„Das dachte ich mir. Erinnern Sie sich noch an meinen Vorschlag wegen einer Langzeittherapie? Haben Sie darüber mal nachgedacht?“

“Um ehrlich zu sein, nein. So was kommt für mich nicht in Frage. No Rehab. No no no.“

“Und planen Sie, wie Frau Winehouse auf den großen Abgrund zuzurasen?“

„Eigentlich nicht.“

„Eigentlich ist so ein Plan nur eine Illusion, Nyxie. Der Abgrund hat sich bereits aufgetan. Haben Sie es noch nicht gemerkt?“

„Nein ...“

„Also schön. Wo gehen wir morgen essen, wohin darf ich Sie ausführen? Essen Sie gern japanisch?“

„Nein, bloß das nicht. Am liebsten-„

„Italienisch. Richtig?“

„Sind Sie Hellseher?“

„Ganz und gar nicht. Ich hole Sie morgen um acht Uhr ab und führe sie ins Gattopardo.“

„Klingt fantastisch.“

„Hübschen Sie sich ein wenig auf.“

„Was soll denn das heißen? Bin ich so hässlich?“

„Im Gegenteil, aber es gibt immer noch Luft nach oben.“

„Sie haben gut reden, der Sie mich an einem absoluten Tiefpunkt kennengelernt haben.“

Frosch lachte.

„Also ich hole Sie morgen ab.“

„Ist gut.“

Beide legten auf. Tina fühlte sich ein wenig paranoid. Irgendwie hegte sie den Verdacht, dass Frosch mehr über sie wusste als sie selbst über sich wusste. Konnte Blödsinn sein, konnte auch kein Blödsinn sein.

Tina stieg auf ihr Rad und fuhr davon.

Der Wind schnitzte an ihrer Haut herum, und in ihrem Kopf tönte die Filmmusik von „Dracula“.

Die kühle Luft stach ihr im Hals, und sie sehnte sich nach einem Glas Wein, nach der wohligen Wärme ihres Sofas und ihres Bettes. Sie würde morgen mit Dr. Frosch essen gehen. Was für einen Wagen er wohl fuhr. Was würde er anziehen, einen Anzug? Rauchte er? Was aß er am liebsten? Pasta? Tortellini mit Fleischfüllung? Fleischfüllung.

Tina sah ihn nicht, den Passanten, der in der kleinen Seitenstraße, zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt, voll in sie reinlief. Das Rad prallte an der Hüfte des Mannes ab und machte einen Satz in die Höhe. Tina wurde mit dem Ruck kurz nach oben geschleudert, landete mit dem Hintern aber wieder auf dem Sattel. Der Mann hatte weniger Glück. Irgendwie hatten seine Weichteile Schaden genommen, weil er nun im Schmerz ächzend sich zusammen krümmte, mit beiden Händen vor seinen Lenden. Tina rief eine Entschuldigung aus, obwohl der Mann selbst Schuld gehabt hatte, so unbedarft den Fahrradweg zu überqueren. Tina stieg vom Rad und fragte sich, ob es notwendig war, einen Rettungswagen zu rufen. Sie fragte den Mann, ob alles in Ordnung war. Er antwortete etwas wie: ‚Sehe ich etwa so aus’ oder ähnliches. Er fluchte und blieb gekrümmt. Vor Tinas Augen tat sich ein Gitter aus pechschwarzen Streben auf, und die Kälte, auch ohne Fahrwind, klopfte wie kleine Hämmer auf sie ein. Sie brauchte Wärme.

Mutig berührte sie den Mann an der Schulter. Er reagierte nicht darauf und musste sich an einem parkenden Auto festhalten. Sie sprach ihn an, doch er antwortete nicht. Sein Kopf war kurzgeschoren, und sein Nacken lag blass im schütteren Straßenlicht. Das Gitter vor Tinas Augen verdichtete sich und schnürte ihre Vernunft ein. Sie sprach noch etwas, leise und dünn, so als wollte sie sich ironisch über das Kommende hinwegsetzen. Plötzlich spürte sie, wie nach dem Ende einer Oper, wie ihr Herz aufhörte zu schlagen. Der Rhythmus machte einer weiten Wüstenei der Stille Platz.

Es war merklich zu ruhig in ihrem Leib, und in ihrem Kopf knotete sich das Gitter zu immer engeren Maschen.

Wärme wollte sie.

Ihr Kopf war nicht mal besonders schnell, als sie in den Nacken des Mannes biss. Vielleicht dauerte es eine ganze Sekunde, bis er reagierte. Als nächstes fand sich Tina auf dem Asphalt wieder, niedergestreckt vom Arm des Mannes, der sich nun den Nacken mit der Hand bedeckte. Ganz schnell registrierte Tina mit ihrer Zunge den Geschmack von salzigem Schweiß und ein wenig Blut. In diesem Augenblick fielen ihre Gedanken sehr schnell, wie ein Hagelkorn zwischen Felsvorsprüngen. Sie war nicht Dracula, schon gar nicht seine Braut. Dies war etwas anderes.

Der Mann flüchtete.

Zuhause sah Tina keine Veranlassung, sich den Mund auszuwaschen und behielt den Mischgeschmack aus Haut, Schweiß und Blut unter ihrer Zunge. Sie trank Wein bis zum Einschlummern.

Alle bis auf zwei waren am Morgen joggen gewesen. Nach den Aufwärmübungen leitete Tina ein erstes Trainingsspiel und unterbrach es immer, wenn sie es für richtig hielt. Sie änderte die taktische Aufstellung ein paar Mal und ließ immer wieder Torschüsse üben. Der beste Spieler war der Torwart, Woyzeck. Die Frau konnte sie fast vergessen, und auch den Idioten, den sie für die rechte Verteidigung eingeteilt hatte. Das galt es zu kompensieren in einer Mannschaft, die an sich ein einziges Kompensationsmonstrum darstellte.

Doch alles in allem machte die Truppe einen motivierten Eindruck, und es war ja noch genug Zeit. In einer SMS schrieb Luca, dass er es bereute, Tina Wein gegeben zu haben. Tina wusste darauf keine originelle Erwiderung. Ihre Gedanken drehten sich um die Verabredung mit Dr. Frosch, die ihr erstes Rendezvous seit der Trennung von Tedesco sein würde. Endlich gönnte sie sich nach zwei Tagen wieder eine Dusche. Beim Fönen ihrer schwarzen Haare trank sie ein Glas Wein, aber ohne Eile, wie ein kultivierter Mensch. Sie dachte darüber nach, wie viel gesellschaftliche Akzeptanz vom Wie abhing.

Die Zeit bis acht Uhr kroch nur langsam dahin, und sie lenkte sich mit der Lektüre der Tageszeitung ab. Sie stieß auf eine Meldung, in der es hieß, dass in der Nacht ein 24jähriger Mann von einer Radfahrerin angefahren und von ihrem Hund in den Hals gebissen wurde.

Tina wurde wütend. Wieso war die Rede von einem Hund? Sie musste an die Zeit von vor vier Jahren denken, als sie in einer Nachbarstadt ein Stück inszeniert hatte und in der Presse als blond beschrieben wurde, wobei es für Tina auf der Hand lag, dass die Presse sie mit ihrer blonden Requisiteurin verwechselt hatte.

Warum konnten die Menschen einfach nicht genau hinsehen? Gerade Leute, die über andere Leute schrieben. Es war offensichtlich, dass gute achtzig Prozent der Dinge, die wiedergegeben und erzählt wurden, teilweise falsch dargestellt wurden oder nicht stimmten. Der Ärger ließ die Zeit schneller verstreichen. Sorgen um eine mögliche Verhaftung machte sie sich keine. Ihr Verständnis war bereits von der Tatsache, dass etwas nicht stimmte, genug gesättigt, um sich über sich selbst zu wundern.

„Nyxie, es freut mich, Sie wieder zu sehen. Sie sehen wunderschön aus.“

Tina trug ein mittellanges schwarzes Kleid. Das leichte Rouge täuschte über ihre Blässe hinweg. Sie bat Dr. Frosch nicht herein, sondern trat sofort aus der Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Dr. Frosch lächelte. Er führte sie zu seinem Wagen. Ein Suzuki.

Das Gattopardo war gut besucht, doch Dr. Frosch hatte bereits vorher einen Tisch bestellt. Alles lief völlig gewöhnlich und konform ab. Tina wusste wie man sich benahm. So ein Verhalten konnte sie nach Wunsch abrufen, und Dr. Frosch konnte angenehm überrascht sein.

„Haben Sie gleich nach der Entgiftung wieder zu trinken angefangen?“ fragte er, nachdem er eine Flasche Chianti bestellt hatte.

„Nein, ich habe dieses Wochenende erst wieder ... äh ... angefangen. Das klingt so, als wollte ich nicht mehr aufhören ...“

„Wissen Sie, ich gehe eigentlich nicht oft essen. Kürzlich erst bin ich zwischen zwei Terminen, als mich der Hunger quälte, zu McDonalds gegangen und habe einen Big Mac gegessen. Und ich musste dabei über Alkoholismus nachdenken. Über das Phänomen, dass man sein Leben unter die Knechtschaft eines Getränks stellt. Stellen sie sich einmal vor, dieser Big Mac würde mein ganzes Leben bestimmen, wie ein Tyrann darüber herrschen. Und habe ich ihn erst gegessen, taucht aus den Untiefen der McDonalds-Küche ein weiterer Big Mac auf, und noch einer, und weitere, ohne Ende, wie bei einer Hydra. Ist das erstrebenswert, diesem matschigen Fleischbrötchen die Regie über das eigene Leben zu überlassen? Klingt absurd, ich weiß.“

„Ich habe mich in den letzten Wochen mit Distras über Wasser gehalten. Wir alle müssen essen, egal ob Big Macs oder Lasagne. Wir alle werden beherrscht von Dingen, die wir uns oral einverleiben. Die Sucht begleitet den Menschen seit Jahrtausenden.“

„Komisch, dass es bei all dieser Verdammnis immer noch Leute gibt, die Leuten wie Ihnen helfen und nicht zitternd in einer Notaufnahme liegen.“

„Unter anderen Umständen könnte es auch passieren, dass Sie meine Hilfe benötigen. Wollen sie zufällig gerade eine Fußballmannschaft aufstellen?“

„Wie bitte?“

„Vergessen Sie’s. Warum haben Sie mich zum Essen eingeladen?“

„Wegen Ihrer Pulsfrequenz. Sie ist ein wenig ungewöhnlicher als die anderer Alkoholkranker. Ich habe an Ihnen ein neues Medikament ausprobiert, mit dem ich ihren Puls auf ein konstantes Niveau bringen kann. Die Kollegen in Südafrika haben bereits erste Erfolge damit erzielt.“

„Eine Art Betablocker?“

„Nein, nicht ganz.“

„Wie heißt das Medikament?“

„Es hat noch keinen Namen. Wenn sie nichts dagegen haben, würde ich Sie in den nächsten Tagen unter Beobachtung halten und Ihnen weitere Dosen verabreichen.“

„Ich lasse mich nicht mehr stationär einweisen.“

„Das wird auch nicht nötig sein. Aber wollen wir nicht erstmal bestellen?“

Tina wählte Tortellini mit Fleischfüllung und Dr. Frosch Pizza mit Meeresfrüchten. Er wollte erstmal das Thema wechseln, und man sprach über die Probleme Griechenlands, die Zukunft des Euro und der aktuellen Bundesregierung. Frosch schilderte die Situation des Pflegedienstes nach Wegfall des Ersatzdienstes und ließ an irgendeinem Punkt durchblicken, dass er Witwer war. Tina zeigte sich betroffen und fragte vorsichtig nach.

„Meine Frau und meine beiden Töchter sind bei einem Brand ums Leben gekommen. Das ist jetzt ein Jahr her.“

„Das tut mir unendlich leid.“ Tina wusste, dass man zu so einer furchtbaren Tragödie nichts Angemessenes sagen konnte.

„Nyxie, sie brauchen keine übertriebene Pietät zu demonstrieren. Ich besitze die Fähigkeit, mit so einem Unglück, sofern man es überhaupt so nennen kann, auf meine Weise einen Konsens zu finden.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Keine Sorge. Da sind Sie nicht die einzige. Ich scheine mit meiner emotionalen Reife bei vielen Menschen unangenehm anzuecken.“

Tina verstand es immer noch nicht.

„Doktor Frosch –“

„Nennen Sie mich Ferdinand.“

„Oh. Ferdinand?“

„Ja.“

„Sie wirken so gleichmütig angesichts dieses Verlustes.“

„Das können Sie laut sagen. Der Tod meiner Frau und meiner Töchter hat mir nicht das Geringste ausgemacht.“

Tina glaubte, falsch verstanden zu haben. Am Nachbartisch lachte eine Gruppe von Personen über den Witz über die Frau von Herkules. Wie hieß die Frau von Herkules? – Fraukules.

„Ferdinand, Sie wollen mir weismachen –“

„Ich könnte jetzt wieder auf das Beispiel des Big Mac zurückkommen. Soll ich mein Leben von zwei Scheiben Rindfleisch, Weißbrot, zwei Scheiben Käse und ein wenig Salat abhängig machen? Organisches Leben ist dem Zyklus der Natur unterworfen. Sie und mich eingeschlossen. Der Tod ist nicht nur banal, er ist obendrein nicht existent. Der Tod ist ein ebenso hartnäckiges menschliches Konstrukt wie Gott oder die Hölle. Ich ziehe aus dem Tod meiner Familie meine Vorteile. Ich habe mehr Geld und mehr Zeit, um mich um die Forschung zu kümmern und Fachzeitschriften zu lesen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen gerne etwas zeigen. Schauen sie mal.“

Er griff in die Innenseite seines grauen Jacketts und holte einen zusammengefalteten Zeitungsartikel heraus. Er gab ihn Tina, die ihn aber nicht lesen konnte, weil er auf japanisch war. Frosch erklärte ihr: „Da drin steht, dass kürzlich bei Okinawa ein Mann festgenommen wurde, der im schweren Verdacht steht, drei Menschen verstümmelt zu haben. Eine routinemäßige medizinische Untersuchung hat ergeben, dass dieser Mann eigentlich gar nicht mehr lebensfähig war. Sein Herzschlag war nichtexistent. Er spürte keine Schmerzen, und eine klaffende Wunde an seinem linken Arm blutete nicht. Er konnte nicht sprechen und befand sich in einer Art Dämmerzustand. Doch seine körperlichen Kräfte waren überdurchschnittlich. Er war in der Lage, einen der Krankenpfleger mit einer Hand in die Höhe zu heben.“

Frosch nippte an seinem Weinglas.

„Sehen Sie, Nyxie, dieser Mann hat es irgendwie geschafft, den Tod zu ignorieren. Das hat ihn vor ernsthaftem Schaden bewahrt.“

„Hat er diese Leute umgebracht?“

„Sieht ganz so aus.“

„Und was hat das alles mit Ihrer Familie zu tun?“ fragte Tina. Frosch antwortete nicht und sah sie an, als ob sie selbst die Antwort kannte. Doch so war es nicht. Sie schüttelte den Kopf.

„Mit meiner Familie hat das gar nichts zu tun, Nyxie. Vielmehr mit Ihnen.“

Das Essen kam. Tina fühlte sich nicht wohl bei dieser Unterhaltung und machte sich über die Tortellini her.

An einem anderen Nebentisch dinierte ein Pärchen um die dreißig. Sie sahen so glücklich und gesund aus, als ob der Tod nur der dämliche Traum eines depressiven Säufers war. Frosch entging es nicht, dass Tina die Beiden beobachtete. Leicht amüsiert fragte er:

„Sehen Sie da irgendwas, dass Sie gerne hätten?“

Tina sah ihn ungehalten an und glaubte, er meinte Glück und Partnerschaft.

Frosch sagte: „Das können Sie vergessen.“

„Sind Sie bei allen Verabredungen so charmant?“

„Haben wir beide dasselbe gemeint? Ich meinte das Fleisch, dass der junge Herr verputzt.“

Tina konterte: „Ich kann nicht verstehen, wie jemand in einem italienischen Restaurant Wiener Schnitzel essen kann.“

„Wiener Blut. Für manche unwiderstehlich.“

Ja, da hatte er recht. Tina war unzufrieden über ihre fleischgefüllten Nudeln. Sie schmeckten viel zu zerkocht.

„Gleich gehe ich rüber zu diesem Idioten und reiße ihm das Schnitzel vom Teller.“

„Das werden Sie mal schön bleiben lassen, Nyxie. Außerdem bevorzugen Sie doch Fleisch im Rohzustand. Mit der Wärme des Körpers.“

Tina wunderte sich und mutmaßte, dass ihre neue Leidenschaft vielleicht mit der Entgiftung zu tun hatte.

„Ist das normal, dass mir ständig Fleisch im Kopf herumspukt? Und diese einengenden Bewusstseinszustände. Kann man da nichts dagegen unternehmen?“

„Sehen Sie es nicht als Beschränkung an. Es ist vielmehr der noch zu schmale Spalt zu einer neuen Form der Gesundheit.“

„Ferdinand, was passiert mit mir?“

„Essen Sie ihre scheiß Tortellini auf und begleiten Sie mich nach Hause.“

Frosch bezahlte und führte Tina nach draußen zu seinem Wagen. Nachdem Tina auf dem Beifahrersitz platzgenommen hatte, fischte Frosch eine Einwegspritze aus dem Handschuhfach und versetzte Tina in perfekter Überrumpelung eine schmerzlose Injektion, so als ob er ihr nur über den Handrücken gestreichelt hätte. Das Mittel war dünnflüssig und dunkelblau. Auf der Spritze stand eine Nummer, aber kein Name. Tina konnte nicht mehr angemessen reagieren, denn ihr Blickfeld faltete sich zusammen wie ein schwarzer Prospekt. Eigentlich wollte sie fluchen, bekam aber nur ein schütteres Krächzen heraus. Von der Fahrt bekam sie nichts mit.

Der nächste verbuchungswürdige Eindruck war ein kahler Raum mit einem Bett und einem widerlich glänzenden Fleischerhaken, der von der Decke hing.

Tina saß auf dem Bett und fror.

„Es wird Ihnen gleich wärmer werden.“

„W...“ Sie wollte fragen, wo sie war, aber das schaffte sie nicht. Plötzlich assoziierte sie die Ausgangssituation des Films „Saw“, doch hier sah es weitaus gepflegter aus.

Dr. Frosch stand an der beigefarbenen Tür.

„Sie wollen sicher wissen, was ich Ihnen injiziert habe. Wie ich sagte, hat es noch keinen Namen, aber ich bekomme langsam eine Idee. Sind Sie immer noch hungrig?“

Die Frage sollte bejaht werden, aber da Tina auch gleichzeitig ans Trinken dachte, stellte sie mit Erstaunen fest, dass ihre Gier nach Wein nicht mehr vorherrschte. Nun nickte sie.

„Ich bringe Ihnen gleich etwas. Noch ein wenig Geduld ... Ach übrigens, willkommen in meinem Zombie-Labor.“

Frosch verließ den Raum.

Tina sah an sich herunter. Sie trug noch immer das schwarze Kleid, und neben ihr lag ihre Handtasche. Schnell schüttete sie sie aus und fischte sich eine Zigarette aus der Packung. Nur zum Test aktivierte sie ihr Handy und stellte erstaunt fest, dass sie hier tatsächlich einen Empfang bekam. Sie versuchte es bei Nergiz, aber als die Mailbox piepte, versagte Tina die Stimme. Sie wählte die Handynummer von Luca. Er ging ran, sagte ein paar Mal Hallo, aber Tina konnte nur mit einem gutturalen Laut antworten. Luca verlor die Geduld und legte auf. Tina erinnerte sich dunkel, dass er gar nicht in der Stadt war. Es erschien logisch, nun die Polizei anzurufen. Immerhin konnte man dieses Szenario als Entführung einstufen. Ihr Daumen schwebte schon über der Taste 1. Sie drückte sie, und die 1 erschien auf dem Display. Noch einmal.

Das letzte Mal, dass sie Kontakt mit der Polizei gehabt hatte, war schon ein paar Jahre her. Sie und ihr damaliger Freund Arne waren aus der dunklen, stromlosen Wohnung geworfen worden, wüst und nackt. Eine verzweifelt schöne Zeit war das gewesen. Arne kam irgendwo hin, und Tina konnte ein paar Tage in einem Frauenhaus unterkommen, bevor Nergiz sie aufnahm. Nun aber wollte sie nicht weiter abschweifen. Sie brauchte nur noch die 0 drücken. Konnte sie sprechen? Und hatte Ferdinand nicht gesagt, dass er gleich etwas zu essen bringen würde?

Tina hatte die Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, als die Tür aufging. Frosch kam herein und trug etwas Schweres, doch es war nicht etwas, sondern jemand. An Kragen und Hosenbund schleppte er einen kleinwüchsigen Mann in den Raum. Er konnte nicht größer als einen Meter zwanzig sein und trug einen maßgeschneiderten Anzug.

„Darf ich sie mit Doktor Stratus bekannt machen? Er hat eine Praxis für Psychotherapie in Langenhagen und durchlebt momentan die Wirkung eines starken Sedativums, das ich ihm in seinen Cognac geschmuggelt habe. Seine letzte Diagnose war etwas voreilig gewesen, und außerdem hat er mit dem Gedanken gespielt, in Ohio an einem Zwergenweitwurfwettbewerb teilzunehmen. Manchmal muss man die Menschen vor sich selbst schützen.“

Frosch hing den Zwerg am Gürtel an dem Fleischerhaken auf und ließ ihn ein wenig hin und her baumeln. Der kleinwüchsige Mann war etwa Ende vierzig und hatte ein rundes, puppenhaftes Gesicht. Tina fielen die kurzen, wurstigen Finger auf.

„Guten Appetit“ sagte Frosch lapidar und ging wieder hinaus.

Tina blieb mit dem baumelnden Zwerg allein.

Vom Bett aus konnte sie sein After Shave riechen. Es schien das gleiche zu sein, das Tedesco immer benutzt hatte. Erneut wuchteten sich Erinnerungen in ihr hoch. Spiekeroog im Sommer, zusammen mit Tedesco am Sonntag draußen vor dem einzigen Pizzarestaurant der Insel, und wie sie die letzte Fähre verpassten. Das war noch Freiheit gewesen.

Tina stand auf und taumelte auf den hängenden Dr. Stratus zu. Er trug einen Vollbart. Tina hasste Bärte. Sie hob ihren blassen Arm und riss dem Psychotherapeuten mühelos den linken Ärmel seines Jacketts und des Oberhemds ab. Der entblößte Arm war muskulös und rosig, so sauber und mundgerecht. Tina zelebrierte das weite Öffnen ihres Mundes mit einem lauten Atemhauch und biss in den Arm. Kurz glaubte sie, den Zwerg stöhnen zu hören. Ihre Zähne gruben sich durch die Muskulatur bis zum Knochen vor. Da sie es nicht schaffte, das ganze Fleischstück herauszutrennen, nagte sie sich beflissen durch und schlang, kaum kauend, das Fleisch in sich hinein. Große Stücke rutschten ihren Hals hinunter. Das Gefühl war erstaunlich befriedigend, doch es hielt nicht lange vor. Tina riss sich mit dem Kopf los und sah zu, wie das Blut an dem Zwerg herunterlief und zu Boden tropfte. Mit Entsetzen konnte sie erkennen, wie der kleine Mann blinzelte. Er bewegte den Kopf. Kam zu Bewusstsein. Tina starrte ihn an, mit ihrem blutverschmierten Gesicht und ihrer bleichen Haut. Der Mann stammelte etwas, bewegte den Kopf nach links und sah die Bescherung. Er stieß einen piepsenden Laut aus, hob den Kopf und erblickte Tina. Nun fing er an zu kreischen. Tina schlug die Hände auf die Ohren. In diesem kahlen Raum war so ein Kreischen unerträglich.

Die Tür schlug auf, und Dr. Frosch eilte herein. Schnell und ohne Zögern gab er dem Zwerg eine Injektion, worauf das Kreischen verstummte.

„Nun weiß ich, dass die Wirkung mit Ihrer Hilfe, Nyxie, endlich ein zuverlässiges Maß erreicht hat. Erinnern sie sich, dass ich ihnen bei ihrer Entgiftung Blut entnommen habe? Ich hatte vorher schon einige Typen getestet, doch Ihr Blut, Nyxie, scheint bislang die beste Melange aufzuweisen. Deshalb habe ich mich entschieden, das Mittel nach Ihnen zu benennen. Es wird Nyxodron heißen. Nyxodron - süchtig nach sich selbst durch sich selbst. Kein Medikament, sondern ein Egoment zur Hilfe für die optimale Individuierung. Ich darf Sie beglückwünschen, Nyxie. Sie sind das, was man als den perfekten Zombie bezeichnet.“

Frosch ging auf sie zu und fühlte ihren Puls. Da war nichts. Mit dem Stethoskop hörte er ihr Herz ab. Es schlug nicht.

„Perfekt“ sagte er.

Ja, finde ich auch, dachte Tina im ersten Moment.

„Ich glaube, ich kann Sie jetzt nach Hause gehen lassen. Und machen Sie sich keine Gedanken über Ihre Sprechunfähigkeit. Bald werden Sie einsehen, dass es keiner Worte mehr bedarf.“

Bereitwillig ließ sich Tina noch eine Injektion geben und wankte durch einen Hinterausgang hinaus in die Stadt.

 

Es war tiefschwarze Nacht, und Tina ließ sich einfach treiben. Zunächst testete sie ihre fünf Sinne und stellte fest, dass sie hervorragend funktionierten. Die Dunkelheit wurde ihre zweite Natur, in der sie sich exzellent zurechtfand. Die ersten, die dran glauben mussten, waren ein Mann und eine Frau Anfang fünfzig, die sich offensichtlich nicht einigen konnten, ob sie in Venedig oder auf Sylt ein zweites Mal heiraten sollten. Tina beantwortete die Frage stellvertretend und warf die beiden zerbissenen Leiber eine Böschung hinunter, bis sie am Fuße eines beliebten Kinderspielplatzes ausbluteten.

Ihr Handy klingelte, aber sie ignorierte es. Doch es brachte sie dazu, an Luca zu denken. Seine Lenden würden ein delikates Dessert abgeben, bevor sie sich Tedesco widmen würde, auf dessen Hirn sie es angelegt hatte.

In der Nähe des Bankenviertels staunte eine Gruppe Jugendlicher nicht schlecht, als ihnen diese bleiche blutbeschmutzte Frau im schwarzen Kleid entgegen kam. Sonst um keine schlüpfrige Bemerkung verlegen, fanden sich die Halbstarken im eigenen Zaudern gefangen, und als Tina sie aus eisgrauen Augen mit dem Blick streifte, glotzten sie still und starr.

Tina fasste das mit ihrem modifizierten Geist als kleine Provokation auf und begann mit den Armen herum zu fuchteln. Die juvenilen und am liebsten delinquenten Herren waren um eines Rates verlegen und verkniffen sich auch lauthalse Vulgärinjurien, als Tina armwedelnd nach ihnen zu schnappen versuchte. Sie hopsten vor ihr zurück, scheu und irritiert wie kleine Hunde. Und das Scheuen wurde zu einem Fliehen. Wehe dem, der als letzter ausharrte und den Tina tatsächlich am Gesäß erwischte,, tief in seine Hinterbacke durch die Hose mit den Zähnen vorstieß und immerhin ein Stückchen Fleischpolster erntete.

Der Schrei klang belustigend, aber Tina machte sich nichts mehr aus Humor, zerrte den Hosenfetzen aus ihrem Mund und kaute die Miniportion bis zum Herunterschlucken.

Obwohl die Welt für Tina eine andere geworden war, kannte sie noch jede Straße und jedes Geschäft. Und ihre Geistesgegenwart hatte einen lichten Moment, als sie eine öffentliche Toilette aufsuchte und sich notdürftig reinigte. In dem schmutzigen Spiegel sah sie eine Frau, die trotz ihrer noch jungen Züge tausend Jahre alt sein konnte. Tausend Jahre und darüber hinaus eine Menge Ewigkeit, wobei das eine so unwesentlich wie das andere jämmerlich war. Alles Unfassbare besaß bei genauer Betrachtung einen Anstrich des Lächerlichen. Container voller Wein, Silos voller Big Macs, Meere voller Blut. Albert Speers Kuppel für Hitlers Germania. Das eine war so aufdringlich oder nichtig wie das andere. Irgendwann würde auch die monströseste Menge zur Neige gehen, bis eine einzelne Flasche, ein einzelnes Brötchen, eine Holzhütte mit Hakenkreuz oder ein kleiner Tropfen Blut wieder ein ganzes Universum sein wollte.

Tina traf noch einige Menschen, die sie anfressen konnte. Einen von ihnen, ähnlich stattlich wie der Radfahrer von voriger Nacht, tötete sie schnell, fraß seine Augen und Teile seiner Lunge, zerriss den Leib knirschend und rot sprudelnd in der Mitte und saugte sowohl Nieren als auch Testikel auf. Die Zigarette danach erfüllte ihren Zweck als Botschafter für die Verdauung und besiegte ein lästiges Völlegefühl. Ihr Handy klingelte erneut.

„Hier Ferdinand. Ich nehme an, Sie sind satt geworden. Die nächste Dosis ist erst in zwei Tagen fällig. Bis dahin lasse ich Sie in Ruhe. Es wird Sie vielleicht interessieren, dass Doktor Stratus bereits in Ihre Fußspuren tritt, auch wenn sie ihm ein wenig zu groß sind. Noch einen Hinweis habe ich für Sie: Es wird Ihnen etwas schwerer fallen zu schlafen. Harren Sie einfach aus und warten Sie auf den neuen Hunger. Und es wird Sie erstaunen, dass Sie nicht mehr die Toilette aufsuchen müssen. Die Nährstoffe Ihrer Nahrung werden zu hundert Prozent von Ihrem Körper absorbiert. Das ist furchtbar hygienisch, nicht wahr? Denken Sie ein wenig an die Cote d’Azur. Das hilft manchmal. Oder an Inverness. Adieu.“

„Krrrähhuähhuähh ... Mmhh ... Rrrrr ...“ sagte Tina.

 

Irgendwo harrte sie aus, in einem Versteck hinter einem Autoparkplatz. Eigentlich ging ihr nichts Besonderes durch den Kopf, vielleicht ein wenig Venedig und das Endspiel von 1990 mit dem Elfmetertor von Andi Brehme.

„Rrrrhhh ... Acha ...Ffff ...“

Auf einmal tauchte eine Reminiszenz in ihrem Kopf auf. Luca hatte einmal seinen Bruder Tedesco zitiert, kurz nach der Trennung. Tedesco soll über Tina gesagt haben: „Je besser ich sie kannte, desto weniger wusste ich, wer sie eigentlich war.“

Ein typischer Satz ihres Exfreundes.

Im Morgengrauen schlich sich Tina von gaffenden Blicken verfolgt nach Hause und begegnete ihrer Nachbarin Beate im Treppenhaus. Erstaunlicherweise war Tina in der Lage, nett zu lächeln und ihre Sprechunfähigkeit zu übertünchen. Dass die Nachbarin bereits die Tageszeitung gelesen und unter anderem von mörderischen Irren gelesen hatte, konnte Tina nicht wissen. Und Beate konnte nicht wissen, dass damit Tina gemeint war.

Der Nyxie-Zombie inspizierte diese Wohnung der alten Tina und fand sie verhältnismäßig angenehm. Doch was sie üblicherweise tat, frühstücken und Kaffee trinken, erschien ihr nun völlig abwegig. Aber es konnte nicht schaden, den Fernseher einzuschalten. In den Nachrichten gab es ebenfalls Meldungen über herumstromernde Individuen, die wahllos Menschen anfielen. Als man Passanten auf der Straße dazu befragte, fiel zwei Mal das Wort Zombie. Tina wusste es. Was sie war. War es besser als Alkoholikerin? Besser als Fußball trainierende Regisseurin?

Jetzt waren es auch andere. Ob die alle von Ferdinand Frosch dazu gemacht worden waren, konnte man kaum wissen, doch es erschien unwahrscheinlich. Oft schon hatte in der Vergangenheit die Realität die Kunst imitiert, und nun kamen eben die Zombies über die Menschen. Sie würden kommen und gehen, doch Frosch hatte Unrecht mit seiner Theorie über Individuierung. Zombies galten so wenig als Individuen wie Ameisen. Sie waren auch nur Süchtige, jedoch – und hier lag der Unterschied – schadete die Sucht ihnen nicht, sondern nur den normalen Menschen, ihren Opfern.

Frosch hatte anscheinend eine sehr wichtige Sache vergessen, als er Tina das Nyxodron verabreicht hatte. Er setzte anscheinend voraus, dass seine Intention große Begeisterung und Freiheitsekstase bei den Infizierten auslöste. Doch bereits jetzt fühlte sich jemand wie Tina gelangweilt. Außer Fleischfressen gab es nichts zu tun. Und fatalerweise ergaben auch andere Tätigkeiten keinen Sinn mehr.

Über Tinas durchgesessenem Sofa hing ein Druck von „Der Vampir“ von Edvard Munch. Tina konnte sich daran erinnern, dass sie dieses Bild damals nach den Wochen der Dunkelheit in der Wohnung ihres damaligen Freundes Arne aufgehängt hatte, kurz nach ihrem Einzug in diese Wohnung. Kurze Zeit später hatte sie Tedesco kennengelernt.

Immer wieder musste sie an diese radikale Zeit denken, in Arnes Wohnung ohne Strom, verwahrlost und von Sex zu Sex dahin siechend, gierig, und alles Äußere ablehnend, fast wie Zombies. Arne hatte man danach weggesperrt. Sie hatte ihn nur noch ein paar Mal besucht, bevor er ihr einschärfte, den Kontakt zu ihm abzubrechen. Erst später sah sie ein, dass er recht gehabt hatte. Tedesco mit seiner zumindest damals gesunden Weise, die Winde des Lebens zu verschlucken, hatte sie wieder auf den Boden gebracht, ohne sie auf eine profane Art zu ernüchtern. Bei ihr hatte er einen neuen Zauber anwenden können.

Nun, Jahre nach dieser Zeit der Blöße und der Dunkelheit, saß sie in einem verschmutzten Kleid in ihrer Wohnung, mit Mord im Mund und ohne Schutz.

Das war nicht gut.

Ganz und gar nicht. Verschiedene Extreme durchlebt man besser in einer Partnerschaft. Meistens kann man sich gar nicht mehr vorstellen, ohne den Partner in einer ähnlichen Situation zu stecken und bildet sich ein, man könne nie von der Höhe herunterfallen. Dabei weiß man doch genau, dass jeder Start einer Beziehung automatisch der Beginn des Countdowns zur Trennung ist. Es ist schlimm, wenn einem nur die Vergangenheit blieb.

Zitternd fischte sie das Handy aus der Handtasche und ballte ihre Konzentration zusammen. Die SMS an Luca und Nergiz lautete:

„Hilfe, Leute ... Ich bin ein Zombie.“ Aha, schreiben ging also noch, oder schon wieder.

Gab es noch eine Polizei? Vielleicht zogen einige Beamte nun gierig nach dem Fleisch der Anwälte durch die Straßen.

Tina plünderte den Kühlschrank. Das neue Putenschnitzel verspeiste sie wie es war. Gemüse und Käse schmiss sie weg. Aber sie trank den Wein, und zwar schneller als sie jemals zuvor getrunken hatte. Er tat ihr gut, Immerhin befand sie sich schon eine ganze Weile auf null Promille.

„In Vino Veritas.“

Wer hatte das gesagt? Sie selbst. Unglaublich.

„Uno, due, tre, quattro, cinque, sei, sette, otto, nuove, dieci.“

Tedescos Einfluss wirkte noch immer. Als sie mit ihm zusammen war, wollte sie unbedingt italienisch lernen. Zählen konnte sie und beherrschte einige Floskeln.

Der Fernseher lief noch immer. Nun zeigten sie ein Mittagsmagazin mit einem prominenten schauspielenden Musiker, der seine neue CD vorstellte, und führten irgendwelche vegetarischen Kochrezepte vor, bei denen der Prominente mitmachen musste. Irgendwie ein unpassendes Programm für eine Nation im Zombiezustand. Tina sah auf die Uhr. Sie verpasste gerade ihr Fußballtraining. Sie rief den Mannschaftskapitän an.

„Jens, hier Tina, rrrhhff ... Come stai? Habt ihr ohne mich angefangen?“

„Ja. Wo bleibst du denn? Bist du krank?“

„Mir ist eine Familiensache dazwischen gekommen. Du weißt schon. Familie. Face a face Cosa nostra. Omerta. Macht ohne mich weiter, okay? Und immer schön flott. Und Freistöße üben. Ich melde mich wieder ...“

Tina legte auf. Dann rief sie einen ihr bekannten Taxifahrer an und bat ihn, ihr ein paar Flaschen Wein vorbeizubringen. Diesen Sonderdienst hatte sie schon lange nicht mehr in Anspruch genommen. Einmal ist es sogar vorgekommen, in einer wüsten Nacht, dass sie an dem Fahrer die Fellatio verübt hatte, um an den Alkohol zu kommen. Sie rühmte sich immer noch dafür, dass der Mann nur auf ihr Gesicht gespritzt hatte.

Nergiz rief an.

„Nyxie, was zum Geier ist denn los mit dir? Spinnst du?“

„Wie viele Zombies sind in der Stadt unterwegs?“ fragte Tina nervös.

„Zombies?“

„Ja, Zombies.“

„Ach so, die meinst du. Also ich finde, die machen da ein viel zu großes Trara um die Sache.“

„Ach ja?“

„Na, nur wegen ein paar Wahnsinnigen. Die sind doch schon längst gefasst.“

„Sag bloß.“

„Ja, du brauchst keine Angst mehr zu haben. Alle hinter Gittern.“

„Ist unter ihnen auch ein Zwerg?“

„Ein Zwerg?“

„Ja, ein kleiner Mann mit einer tiefen Wunde am Arm.“

„Ich habe keine Ahnung. Nyxie, hast du wieder gesoffen?“

„Kannste laut sagen.“

„Oh du Idiotin, du Arschloch. Lernst du denn nie aus deinen Fehlern?“

„Du, ich glaube nicht, dass die alle Zombies gefangen haben.“

„Was redest du da für einen Müll?“

„Mindestens einer ist noch frei. Oder zwei. Aber mindestens einer.“

Es klingelte an ihrer Tür.

„Nergiz, ich muss Schluss machen, es ist jemand an der Tür.“

Tina legte auf, holte Geld und nahm den Wein in Empfang. Momentan wusste sie weniger wer sie war als je zuvor in ihrem Leben. Sie hatte in der vergangenen Nacht viel über sich gelernt, und was war dabei heraus gekommen?

„Je besser ich sie kannte, desto weniger wusste ich, wer sie eigentlich war.“

Sie entkorkte die Flasche und verzichtete auf ein Glas. Es war zu hell im Zimmer. Tina zog die Vorhänge zu und zündete eine Kerze an. Nun war es beinah wie damals in der dunklen Wohnung. Für ein paar Minuten ließ sie die Atmosphäre auf sich einwirken. Wie schön wäre es, die Zeit zurückdrehen zu können. Oder auch nicht. Aber die Zukunft erschien gerade jetzt so schwammig.

Nochmals klingelte ihr Handy. Es war Luca. Er befand sich wieder in der Stadt. Bezugnehmend auf ihre SMS sagte er:

„Hey, du warst schon immer ein Zombie. Sonst alles klar?“

„Ich weiß nicht. Luca, ich glaube ich müsste nochmal mit Tedesco reden. Verstehst du? Nur reden, ohne Hintergedanken.“

„Dann ruf ihn doch an.“

„Ich habe seine Nummer nicht mehr.“

Luca gab sie ihr.

„Nyxie, ich könnte mir in den Arsch beißen, dass ich dir wieder Wein gegeben habe.“

„Bleib cool. Du hast keine Verantwortung. Nur ich. Danke für die Nummer, ich melde mich wieder.“

Nun saß sie da mit Tedescos neuer Handynummer. Ihr war nicht klar, was sie eigentlich von ihm wissen wollte. Ob es was mit Liebe zu tun hatte oder mit dieser Selbsterkenntnissache, konnte sie nicht genau sagen.

Sie hörte das Klingeln. Nach dem fünften Mal nahm jemand ab.

„Hallo?“

„Hier ist Nyxie. Teddy, bist du’s?“

Früher wollte er immer, dass sie ihn Teddy nannte, aber sie fand das würdelos. Nun sprach sie ihn so an, als wollte sie sich anbiedern.

„Wer ist Teddy? ... Hier gibt’s keinen Teddy.“

„ ... Mit wem spreche ich?“

„Mit Herkules. Dem Mann von Fraukules.“

Tina legte schnell auf. Dieser Kerl hatte nicht wie Tedesco geklungen. Irgendwie südöstlicher. Sie glaubte nicht, dass sie sich bei der Nummer vertan hatte. Vielleicht lebte Tedesco inzwischen in einer WG, aber das sah ihm gar nicht ähnlich. Egal.

Er war Vergangenheit.

Tina fühlte sich unsagbar einsam. Mit den Weinflaschen und ihren Billigzigarillos legte sie sich ins Bett und schaltete den kleineren der beiden Fernseher ein. Im Bett zog sie sich nackt aus und packte sich in die warmen Decken ein. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. So eingekauert und in sich eingerollt wurde sie sich wieder der Tatsache gewahr, dass ihr Herz nicht schlug.

Ein paar tiefe Züge aus der Flasche später schluchzte sie stoßartig und zog sich die Decke über den Kopf. Nun war es still, bis auf das leise Wimmern des Fernsehers, in dem Leute agierten, deren Herzen schlugen. So ein Mist. So wollte sie nicht enden, nicht wie eine nun auch medizinische Außenseiterin. Sie dachte an Arne und seinen schlanken Leib. Er hätte sie verstanden, und ihr Zombiedasein hätte ihm nichts ausgemacht. Zwar besaß er kein sehr umfangreiches Vokabular, doch eine natürliche Gabe zum Trost und die Fähigkeit, einen Menschen dazu zu verführen, nichts mehr als sich selbst wichtig zu nehmen und nur der einzigen geliebten Person daran teilhaben zu lassen.

Tina empfand nicht etwa eine alte Liebe neu, aber sie brannte vor Sehnsucht nach genau diesem Gefühl des Isoliertseins in der Dunkelheit und der Freiheit, die unter einem endlosen Schacht wartete. Und sie wollte Arne fressen. Ihn und Tedesco. Auch Luca wollte sie fressen, ebenso Nergiz. Alle bei sich im Magen haben. Tina lachte leise. Sie erlebte eine kleine Stimmungsspitze und tauchte aus den Daunen auf, trank aus der Flasche und schaltete auf einen Dokukanal. Dort gab es einen Film über die Inkas. Vielleicht konnten alte Kulturen doch als Vorbilder dienen. Jedenfalls boten sie einen guten Unterschlupf für den Geist.

Tina schlief ein und erwachte erst am Abend, Ihr Magen knurrte. Schnell zog sie sich etwas über. Kein Kleid, sondern Jeans und T-Shirt.

Draußen liefen genug Leute herum, um eine Auswahl zu treffen, aber zu viele, um unauffällig zu bleiben. Nyxie schwang sich aufs Rad und fuhr in einen einsameren Stadtteil. Es dauerte nicht lange, bis sie eine junge Frau um die zwanzig fand, die sich wohl gerade eiligst auf dem Weg zu einem Rendezvous befand. Junge Liebe, das Schönste was es gab, aber es gab sie auch zuhauf. Dieses kleine Pflänzchen würde es nicht schaffen. Tina bemühte sich, die Angelegenheit ohne viel Geschrei über die Bühne zu bringen. Die Reste der jungen Blondine stopfte sie in einen Müllcontainer. Auf dem Nachhauseweg besorgte sie sich Zigarettennachschub und kaufte auch gleich noch zwei Flaschen Wein, obwohl sie noch fünf zuhause stehen hatte.

„Haben Sie Ihre nächste Dosis vergessen?“ rief Frosch aus seinem Wagen heraus, den er in der Nähe von Tinas Haus geparkt hatte. In der Tat war das ominöse Nyxodron nicht mehr im Dunstkreis ihres Interesses aufgetaucht.

„Brauche ich dieses Zeug wirklich?“

„Wenn Sie keine Alkoholikerin mehr sein wollen, ja.“

„Ich will immer noch trinken. Ich bin immer noch eine Alkoholikerin.“

„Kommen sie zum Fenster. Sie brauchen die Injektion, sonst meldet sich die Schulnatur zurück und sie sterben als Säuferin in ihrem Bett.“

„Ich werde meine Sprache wieder verlieren.“

„Nur vorübergehend.“

Tina fügte sich. Der Stich schmerzte nicht, und als sie danach etwas zu sagen versuchte, schlug es fehl. Frosch nickte ihr gönnerhaft zu und startete seinen Wagen.

Leicht verärgert betrat Tina ihre Wohnung und trank die schon angebrochene Flasche leer. Es wollten keine Worte über ihre Lippen kommen.

„Ppfffrrhhh ...“

Da sie ihr Handy auf die Futterfahrt nicht mitgenommen hatte, checkte sie es nun auf eingegangene Anrufe. Eine Nachricht von Tedesco wartete auf ihrer Mailbox:

„Herkules hat mir gesagt, dass jemand angerufen hat. Also du warst es. Kann ich etwas für dich tun? Weißt du, ich habe gerade nicht viel Zeit zum Schwelgen in der Vergangenheit. Ich hörte, du hast dich entgiften lassen. Das ist doch gut. Bleib schön sauber.“

Das war alles. Arschloch. Tina nahm einen ihrer Schuhe und schleuderte ihn so hart gegen ihre Wohnzimmertür, dass das Glas zersprang und die Scherben wie Geschosse in den Flur sausten. Die Wut war eigentlich selbstgerichtet. Sie hatte sich mit dem Anruf Blöße gegeben, was eigentlich völlig vermeidbar war. Tina sah ein, gerade jetzt extrem sprunghaft zu sein und nicht mal fünf Minuten im Voraus planen zu können. Für eine Regisseurin der denkbar kontraproduktivste Wesenszug. Nicht mal drei Wochen ist es her, dass sie aus der Entgiftung gekommen und mit guten Vorsätzen ans Tageslicht zurückgekehrt war. Und nun schüttete sie wieder Traubensaft und aß obendrein noch Menschen. Das wäre alles nicht so tragisch, wenn sie darüber nicht ihre Professionalität vergessen würde. Den Theaterleuten hatte sie strikte Disziplin für das Fußballtraining eingeschärft, und nun gab sie selbst das übelste Beispiel ab. Besoffen konnte sie sich bei denen nicht blicken lassen, aber nüchtern würde sie es nicht mehr um die nächste Ecke schaffen.

Sie dachte: „Ich brauche nur drei Tage, dann bin ich wieder auf null. Nur drei Tage in der Klinik, und ich bin wieder fit. Heute fahre ich in die Notaufnahme. Hoffentlich ist Frosch nicht da. Nein, ich warte lieber noch einen Tag. Ich will mich besaufen.“

Gesagt, getan. Und sie wusste auch, dass die Klinik schon lange keine Option mehr war.

Spät in der Nacht war Tina betrunken genug, um ein paar Inszenierungsideen aufzuschreiben und seit langem mal wieder mit ihren Muppet-Show-Handpuppen zu spielen. Sie besaß Animal und Gonzo, dem seit einem turbulenten Kindergeburtstag, bei dem Tina für Unterhaltung gesorgt hatte, ein Stück von der Nase fehlte. Leider konnte Tina die Stimmen nur im Geiste imitieren. Schließlich nahm sie die beiden Puppen mit ins Bett, trank weiter und schaute diverse DVDs durch, ohne bei einem bestimmten Film hängen zu bleiben. Bei „Der Kontrakt des Zeichners“ schlief sie ein.

Sie konnte nicht hören, wie es um drei Uhr morgens bei ihr klingelte. Ein paar Atemzüge später klopfte es an ihrer Wohnungstür. Ein bis zwei Stimmen riefen: „Polizei! Machen Sie bitte auf!“

Tina schlief fest und taub.

„Polizei! Frau Dubillard, aufmachen!“

Erneutes Hämmern an der Tür. Dann folgte eine Pause. Die Nachbarin Beate war bereits wach geworden und horchte an ihrer Tür. Die Polizei war schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Haus gewesen.

„Frau Tina-Nyx Dubillard! Aufmachen!“

Dreimal wurde noch gehämmert. Dann sagte einer der Beamten:

„Tja, die Alte ist nicht da.“

„Kein Wunder. Sie ist tatsächlich tot. Peter hat doch über Funk die Exitus-Info rausgegeben.“

„Dann stimmt das also.“

„Ja, scheint so. Sie ist tot. Wohl schon aufm Tisch. Die Sache ist doch längst durch.“

„Und Erwin schickt uns her, nur damit wir nicht schon wieder bei McDonald´s abhängen.“

Die Nachbarin horchte.

Die Polizisten gingen wieder ihrer Wege.

Die Nacht tat dasselbe. Am nächsten Tag fühlte sich Nyxie fit und ausgeruht. Voller Elan und Tatendrang. Nach einem schnellen Glas Soave und einer Dusche verließ sie die Wohnung, um zum Training zu fahren. Im Treppenhaus traf sie Beate.

„Frau Dubillard, haben Sie denn heute Nacht nichts gehört?“

„Nein, was denn?“

„Zwei Herren von der Polizei sind vor ihrer Tür gewesen, und sie haben gerufen und geklopft.“

„Wirklich?“

„Ja, und einer der Herren hat angedeutet, dass Sie bereits verstorben seien. Ist das nicht makaber? “

Tina war sich darüber im Klaren, dass sie nicht mehr im konventionellen Sinne lebte. Dass ein wie immer zu bewertendes Leben hinter ihr lag und ein neues begonnen hatte und besonnen eine neue Definition suchte.

Sie musste sich nur an die Umstände gewöhnen. Das mit dem Trinken ließ sich doch hervorragend mit dem Tod arrangieren. Tina musste nur ein wenig entspannter damit umgehen und sich nicht immer in die Tragik ihrer Einsamkeit verkitschen. Es würde sich schon noch ein netter Mann oder Zombie finden.

„Frau Dubillard, die haben behauptet, Sie seien tot! Wie kann denn so ein furchtbarer Irrtum passieren?“

Tina lächelte:

„Tja, Scheiße passiert.“