Carmen Weinand
Rage
Mae hauchte dem schnarrenden Wecker mit einem gezielten Faustschlag das Leben aus.
Du wirst mich nie wieder nerven!
Wie so oft in den letzten Tagen fühlte sie sich wie gerädert. Ihre Augenlider klebten schwerfällig in ihrem Gesicht. Die Kopfschmerzen waren wieder da und ihr tat jeder einzelne Knochen weh. Es fühlte sich an wie ein beschissener Kater nach einer Hardcoreparty. Nur, dass sie schon seit Monaten auf keiner mehr war.
Sie blinzelte mühsam und bewegte vorsichtig ihren Kopf nach rechts. Dort lag der zertrümmerte Wecker. Das Gehäuse war gesplittert.
Geschieht dir recht, du Drecksau!
Als sie sich aufrichtete und vorsichtig ein Bein nach dem anderen aus dem Bett schob, fühlte sie sich wie eine achtzig Jahre alte Frau. Der Weg in das kleine Badezimmer erschien ihr endlos. Der Blick in den Spiegel glich dem Blick in einen alten verrottenden Sarg. Strähniges, braunes Haar, fingerdicke Ringe unter den Augen, blassgraue Haut und die gottverdammte, dicke Zornesfalte zwischen den Augenbrauen, die schon seit Monaten ihr hässlicher Begleiter war.
Jeden Morgen die gleiche zermürbende Routine. Zähne putzen, duschen, anziehen. Gott, sie hasste es.
Mit viel heißem Wasser, einer dicken Lage Make Up und einem kleinen Reisefön brachte sie ihren lustlosen Körper in einen halbwegs vorzeigbaren Zustand. In der Küche trank sie noch schnell einen Kaffee im Stehen, dann folgte der tägliche Griff nach den Autoschlüsseln – ein letzter Blick in den großen Spiegel in der Diele und die Haustüre schloss sich hinter ihr.
Es hockte in der verlassenen Diele gleich neben dem Schuhschrank und beobachtete, wie die Haustüre ins Schloss fiel. Es würde warten. Das tat es schon seit einigen Monaten.
Bald!
Gelassen schickte es noch einen Gedanken zur Hülle, die sich eiligen Schrittes von der Wohnung entfernte, spürte seinen Aufschlag und lehnte sich zufrieden zurück.
Mae nahm die Treppe nach unten. Im Fahrstuhl würde sie sowieso nur einen hysterischen Anfall bekommen, weil wieder jemand das hirnlose Geschmiere an den Wänden um einen weiteren nutzlosen Beitrag erweitert hatte.
Kurz wallte eine kleine, unangenehme Welle der Wut in ihren hintersten Hirnwindungen auf. Dann traf sie etwas im Nacken.
Was zum...!
Mit der Hand im Nacken und einem Fluch auf den Lippen fuhr sie herum. Hinter ihr erstreckte sich der dunkle Hausflur mit seinem ureigenen Pissegestank und den zerbeulten Briefkästen. Da war niemand.
Ihr Nacken blutete nicht, aber er brannte und vom Haaransatz zog sich eine brennende Spur nach oben bis rauf zum Schädel, wo sie direkt unter der Kopfhaut wieder verschwand. Dann war es vorbei. Jetzt reicht es mir. Ich werde gleich nach der Arbeit zum Arzt gehen dachte sie – und hatte es im selben Moment schon wieder vergessen.
Schon etwas besser gelaunt erreichte sie ihren Wagen, entriegelte das Schloss und setzte sich hinters Steuer. Als sie den Motor startete, ging automatisch das Radio an.
„She fucking hates me“ sang sie laut mit, kicherte amüsiert und schnitt einen roten Volvo, als sie zügig die Parklücke verließ.
Wie immer um diese Zeit waren die Straßen hoffnungslos überfüllt. Die ersten zwei Kilometer kam sie noch einigermaßen gut voran und dann ging plötzlich nichts mehr. Es hatte einige Meter weiter vorne einen Auffahrunfall gegeben. Ein Kleinbus hatte einen Pkw gerammt und diesen dabei gedreht und quer über die Straße geschoben. Die Beteiligten waren anscheinend unverletzt, denn sie hatten immerhin noch genug Energie, um mitten auf der Straße zu stehen und sich gegenseitig anzuschreien.
Mae schaltete genervt den Motor aus und stieg aus, um einen Blick auf die Unfallszene werfen zu können. Für den Moment sah es nicht so aus, als würde es zügig weiter gehen.
Sie ging entschlossen auf die Streithähne zu und schnappte auf dem Weg zu ihnen bereits erste Wortfetzen auf. „...Führerschein im Lotto gewonnen!“ keifte eine kleine, fette Mittvierzigerin. „Wohl das Lenkrad mit dem Bügeleisen verwechselt!“ revanchierte sich der glatzköpfige Kleinbusfahrer. So ging es ein paar Minuten hin und her, während sich im Hintergrund bereits ein handfestes Hupkonzert anbahnte.
Maes Stimmung wechselte von amüsiert zu genervt. Sie hatte in der vergangenen Woche bereits eine erste Abmahnung kassiert, weil sie mehrfach zu spät im Callcenter erschienen war. Nervös warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr, als sich der altvertraute Kopfschmerz der vergangenen Monate wieder bemerkbar machte.
In Maes Wohnung erwachte es langsam aus seinem Ruhezustand. Jetzt!
Mae wurde langsam ungeduldig. Das Geschrei der beiden Unfallfahrer zerrte an ihren Nerven. Die Zeit rannte ihr davon – ihre Zeit, die von diesen beiden Vollidioten verschwendet wurde. Die Stimme der fetten Schlampe hörte sich in ihren Ohren wie eine defekte Kreissäge an. Die Glatze spuckte beim Sprechen. Mae starrte fasziniert auf die kleinen Spucketröpfchen, die der Fetten während des Streites um die Ohren flogen. Und noch bevor sie begriff, warum sie schon wieder einen, dieses Mal stärkeren, Schlag in den Nacken erhielt, bewegte sich ihr Körper auf die Glatze zu.
„Misch dich nicht ein, du....“ Der Rest des Satzes ging in einem gurgelnden Schrei unter, als Mae ihn vorne an der Jacke packte und ihn mit einem gezielten Kopfstoß auf den Asphalt beförderte. „Fahr deine beschissene Dreckskarre hier weg! Sofort!“
„Aber sie können doch nicht...“ begann die Fette und hielt erschrocken inne, als Mae zu ihr herumwirbelte. „Pack deinen fetten Arsch ins Auto und mach, dass du wegkommst, sonst vergesse ich mich!“ sagte Mae zuckersüß und lächelte die Frau an.
Glatze hatte sich in der Zwischenzeit in seinen verbeulten Kleinbus gerettet und sprach hektisch in ein Handy. Die fette Frau wich zurück, stolperte über die eigenen Füße, landete auf ihrem Hintern und rappelte sich panisch wieder auf. Ehe Mae bis fünf zählen konnte, war der zerbeulte PKW von der Straße verschwunden. Zufrieden lächelnd ging Mae zu ihrem Wagen zurück und setzte ihren Weg zur Arbeit fort.
Sie fühlte sich großartig.
Nach etwa zehn Minuten kam das große Bürogebäude in Sicht, in dem Mannings IT Solutions seinen Sitz hatte, die Firma, in dessen Service-Callcenter für Privatkunden sie schon seit sechs Jahren arbeitete. Wie immer war der Firmenparkplatz komplett überfüllt. Eigentlich war Mae es gewöhnt, frühestens nach drei Runden um das gesamte Gelände einen Parkplatz zu bekommen. Aber nicht an diesem Tag. An diesem seltsamen Tag war alles anders. Deswegen nahm sie es auch nicht mehr hin, dass Steven Crown mit seinem BMW gleich zwei Plätze auf einmal belegte. Deswegen duldete sie die konfus abgestellten Fahrräder auch nicht mehr, die eigentlich auf einem separaten Platz hinter dem Gebäude abgestellt werden sollten. Und genau deswegen würde sie auch nicht mehr erlauben, dass die Rezeptionistin Emma Gent jeden Tag nach Feierabend einen dekorativen Blumenkübel des Parkplatzes um einen Meter verschob, um sich so den Parkplatz für den nächsten Tag zu reservieren.
Mae legte den Gang ein und gab Gas, die halbe Parklücke im Visier, die Steven gnädigerweise übrig gelassen hatte. Mit einem schrillen Knirschen zwang sich ihr Wagen in die viel zu enge Lücke, bis beide Autos wie siamesische Zwillinge nebeneinander standen.
Inzwischen waren die Kopfschmerzen weg. Stattdessen lief ihr grünlicher Rotz aus der Nase, wie sie mit einem Blick in den Rückspiegel feststellte. Sie wischte ihn nachlässig mit dem Ärmel ab, öffnete das Faltdach ihres Wagens und kletterte hinaus. Abschließen nicht nötig dachte sie und kicherte albern. Dann griff sie sich eines der Fahrräder, das gleich neben Stevens BMW stand und schleuderte es mühelos auf dessen Windschutzscheibe, die zwar nicht zerbrach, aber ein hübsches netzförmiges Rissmuster bekam.
So gut hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Eine neue Stärke strömte durch ihren Körper. Wenn es nicht so kalt wäre, würde ich Crown noch auf die Motorhaube scheißen.
Es fühlte sich ziemlich wohl in dieser weiblichen Hülle. Nach und nach dehnte es sich in alle verfügbaren Richtungen aus, bis die Frau komplett von ihm erfüllt war. Die Kopfschmerzen erschienen ihm lästig, also entfernte es sie. Je wütender sie wurde, um so stärker wurde es. Ihre schlechte Laune war wie Nahrung. Und sie hatte eine Menge davon. Nur noch ein bisschen mehr war nötig, um eine neue Saat auszusetzen.
Sie betrat das angenehm beheizte Bürogebäude durch den Haupteingang, steuerte auf den Fahrstuhl zu und drückte den Knopf. Im selben Moment hetzte Rose Marks durch den Haupteingang und ging ebenfalls Richtung Fahrstuhl.
Oh nein, bitte nicht!
Rose war die schlimmste Tratschtante, die das Universum erschaffen konnte. Mit ihr zusammen im selben Aufzug zu sein, kam einem Supergau gleich. Noch bevor sich die Aufzugtüren hinter den beiden Frauen schließen konnten, begann Rose mit belanglosen aber zahlreichen Worten, auf Maes Nerven einzuhämmern. Bereits im vierten Stock hatte sie Mae den gesamten Ablauf ihres vergangenen Tages erzählt. Im achten Stock wusste Mae, dass Rose derzeit an Verdauungsproblemen litt und im 12. Stock brach sie Rose mit einer einzigen schnellen Bewegung das Genick.
Das war sein Startschuss, um die Teilung seiner Energie zu beginnen. Zuerst begrüßte es einen, dann zwei und dann drei weitere Brüder im Körper der Frau. Und es würden noch sehr viel mehr werden, wenn Mae weiter so gut mitspielte.
Sie betrat gut gelaunt das Großraumbüro im 18. Stock, wie immer zu spät. Roses Leiche hatte sie einfach im Fahrstuhl liegen gelassen. Wer auch immer sie fand, würde sich schon darum kümmern.
Ohne lästige Zwischenfälle erreichte sie ihren Arbeitsplatz. Ein freundliches Winken hier – ein leichtes Kopfnicken dort. Alle Kollegen waren bereits in ihre Arbeit vertieft. Sie warf ihre Jacke über den Stuhl, die Handtasche unter den Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Dann loggte sie sich ins Firmennetzwerk ein und setzte das Headset auf. Schon nach kurzer Zeit kam der erste Anruf rein. „Mannings IT Solutions. Sie sprechen mit Mae. Was kann ich für Sie tun?“ „Mein Drucker druckt nicht“ plärrte es ihr nörgelnd entgegen. „Schalten sie den Drucker bitte aus, nehmen ihn vom Stromnetz, warten kurz und....“
„Meinen sie vielleicht, das habe ich noch nicht versucht?“ unterbrach die Kundin sie genervt. „Sie glauben wohl, ich bin von gestern. Natürlich habe ich ihn bereits aus- und wieder eingeschaltet. Das Mistding druckt trotzdem nicht.“ Mae hob eine Augenbraue. „Hat der Drucker eine USB-Verbindung zu ihrem Rechner? Ist das Kabel eingesteckt?“
„Wollen Sie mich verarschen?“ bellte es zurück. „Natürlich ist das Kabel angeschlossen. Der Rechner ist eingeschaltet und im Dezember ist Weihnachten. Jetzt überspringen sie mal ihre altklugen Ratschläge und holen mir einen richtigen Fachmann an den Apparat!“
Mae kicherte leise. „Jetzt hör mal gut zu, du Fotze! Keiner der Männer hier wird mit einer Schlampe wie dir reden wollen. Du bist eine widerliche, stinkende Missgeburt und deine Eltern sind Geschwister. Verpiss dich aus meiner Leitung, sonst komme ich vorbei, ramme dir den Hörer in deinen faltigen Arsch und lasse dich den Drucker fressen. Hast du das verstanden, du Stück?“
Mae drückte den Anruf weg und sah aus den Augenwinkeln den Büroleiter Hank neben ihrem Platz stehen. Sie drehte den Bürostuhl in seine Richtung, lächelte und fragte: „Gibt es ein Problem, Hank?“ Hank schnappte nach Luft und wollte Mae gerade nach ihrem Geisteszustand fragen, als sich bereits ihr Kugelschreiber in seine Kehle bohrte. Hank sank auf die Knie, gurgelte noch ein paar Sekunden mit fragendem Blick unverständlich vor sich hin und kippte zur Seite. Mae lief inzwischen noch mehr von dem grünen Rotz aus der Nase, tropfte auf ihren Sweater und von dort auf den Boden. Ihre Augen waren von roten Äderchen durchzogen und zu schmalen Schlitzen zusammen gepresst. Ihr Atem ging pfeifend und stank wie eine Jauchegrube. Inzwischen hatte sich Panik im Großraumbüro breit gemacht. Ein Teil der Belegschaft floh in Richtung Treppenhaus. Vor dem Aufzug hämmerten drei Kollegen gleichzeitig verzweifelt auf die Knöpfe. Wer sich nicht unter den Schreibtischen verkrochen hatte, stand stocksteif mitten im Raum und stierte, gelähmt vor Entsetzen in Maes Richtung. Mae hustete. Ein dicker gelblich grüner Schleimbrocken löste sich aus ihren Bronchien. Sie spuckte ihn auf Hanks Leiche, sprang mit einem Satz auf ihren Schreibtisch und von dort auf Lucy Ragman, die ihren Arbeitsplatz gleich neben dem von Mae hatte. Lucy fiel zu Boden. Mae hockte auf ihrem Brustkorb und beugte sich zu Lucys Gesicht hinunter. Mit ihrer dick belegten Zunge fuhr sie der vor Angst zitternden Frau durchs Gesicht. „Ich weiß, dass du mit Hank fickst, du dreckige Sau.“ Lucy nässte sich ein und begann zu weinen. Mae griff sich Lucys Regenschirm, der auf dem Boden lag und rammte ihn in Lucys linkes Auge. Das Mädchen zuckte noch ein paar Mal und lag dann still. Mae hockte noch immer auf der Toten.
Es hatte sich inzwischen in Maes Körper um ein Vielfaches vermehrt und wartete darauf, den letzten Schritt zu tun. Das machst du gut, mein Mädchen. Noch ein bisschen. Gib uns noch ein bisschen mehr von deiner Wut.
Mae atmete schwerfällig und drehte langsam ihren Kopf, um gerade noch zu bemerken, wie Neil Jacobs sich von hinten mit einer großen Blumenvase an sie heran schlich. Mit einer einzigen fließenden Bewegung sprang sie von Lucy herunter und landete mühelos auf Neil. Er stürzte zu Boden und wehrte sich verzweifelt. Die Vase fiel ebenfalls und zersprang. Neil schlug unkoordiniert nach Mae, kam aber nicht gegen sie an. Mae griff nach einem der umherschlagenden Arme und brach ihn mühelos in der Mitte durch. Das Letzte, was Neil sah, bevor er starb, war Maes irres Grinsen, als sie ihm seinen eigenen Knochen aus dem offenen Bruch ins Herz rammte.
Jetzt!
Mae richtete sich auf, griff nach einer der Scherben der zerbrochenen Vase und begann langsam, das Büro abzuschreiten.
Die verbleibenden Menschen waren inzwischen halb tot vor Angst. Sie kauerten unter den Schreibtischen, in den Ecken und auf den Böden. Sie wimmerten, viele schrien und manche starrten nur noch entrückt ins Leere. Einige hatten sich in der kleinen Küche eingeschlossen.
Mae setzte die Scherbe an ihren Hals und schnitt sich mit einer einzigen schnellen Bewegung die Halsschlagader auf. Sofort pulste das Blut aus der Wunde. In diesem Moment begann Mae, durch das Büro zu rennen. Sie benetzte die Hände mit ihrem Blut und schleuderte es auf jeden, an dem sie vorbei kam. Wieder schrien alle, verließen ihre Verstecke, rannten wild durcheinander, versuchten, dem Blutregen zu entkommen und sich in Sicherheit zu bringen.
Das Ganze dauerte vielleicht nur 15 Sekunden. Dann brach Mae zusammen.
Wir kommen. Jetzt.
Nach einigen Minuten hatten die Überlebenden begriffen, dass Mae tot war.
Langsam kamen alle aus ihren Schlupflöchern. Hier und da schluchzte noch jemand. Die Menschen kamen zusammen und sahen erst jetzt das volle Ausmaß des Massakers. Es kehrte wieder Ruhe ein. Manche hatte Kopfschmerzen. Aber das war egal. Es gab einiges zu tun. Und es musste sofort erledigt werden.
Denn wir sind viele.