Torsten Scheib
Illusionen
Blut und andere Körpersäfte spritzen auf die Frontscheibe meines Hondas. Auf der Motorhaube hat sich das Zeug auch verbreitet. Außerdem klebt da etwas, das Ähnlichkeit mit einem überfahrenen Tier hat. Ziemlich eklig. Ich steige auf die Bremse. Werde wieder daran erinnert, dass mit der Karre irgendwas nicht stimmt. Womöglich ist einer der Vorderreifen platt. Scheiße, was weiß ich denn schon? Ich kann ein Auto fahren, aber nicht reparieren, verdammt noch mal. Ich kann nicht mal den Vergaser von der Autobatterie unterscheiden!
Und zusätzlich darf ich meinen Wagen jetzt auch noch zur Autowäsche bringen. Was mich das alles wieder kosten wird! Und damit meine ich nicht nur den monetären Part. Meine Zeit ist kostbar und dank diesem … Arsch vergeude ich mindestens einen Vormittag!
Wo steckt er eigentlich? Ah, da ist er ja. Im Rückspiegel erkenne ich ihn. Er schlurft nach vorne gebeugt über den rissigen Straßenbelag. Wie eine Mischung aus einem Zombie und dem Glöckner von Notre Dame. Muss ein Penner sein, der zerrissenen Kleidung nach zu urteilen. Und was ist das? Bäh, das ist ja widerlich! An jeder freien Stelle seines dürren Körpers sind Pusteln und Eiterbeulen; manche noch relativ klein, andere dagegen zu voller Reife aufgeblüht. Oder sollte ich besser sagen: aufgeplatzt? Gelbes Zeug quillt aus ihnen hervor. Zähflüssig. Ich krieg ´ne Gänsehaut. Ekelalarm! Weiß der Typ denn nicht, wie unhygienisch das ist? Da können doch sich doch Krankheitserreger einnisten! Parasiten, Bakterien, Viren und was es da sonst noch gibt. Und – sehe ich das richtig? Sind das da schwarze Auswüchse – auf seinem fast kahlen Schädel? Boah, echt krass. Von den Schmerzen ganz zu schweigen. Ich bin mal im Sommer ohne Socken spazieren gegangen – die Rheinpromenade über den Lindenhof und wieder zurück – und hatte mir am Fußballen ‘ne ziemlich hässliche Blase eingefangen. Dummerweise habe ich sie dann mit einer Nadel aufgepiekst und als dann Luft an das nasse Fleisch kam … Mannomann, waren das Schmerzen gewesen. Will gar nicht wissen, von welchen Schmerzen dann dieses ungewaschene, ungepflegte, abstoßende Individuum heimgesucht werden muss! Aber der ist bestimmt ein Säufer. Unter Garantie! So einen Zustand erträgt doch kein normaler Mensch, wenn er sich nicht Hirn und Nervenenden mit einer Dauerdosis Zinn 40 betäubt. Oder was es sonst so an Hochprozentigem gibt.
Sollte ich mit Mitleid empfinden? Nö. Ich denke nicht daran. Dieser Prolet hat doch Augen im Schädel. Hätte er richtig geguckt, dann wäre ihm nichts passiert. Ist ja nicht so, als befänden wir uns auf der B9. Weit und breit war mein Wagen das einzige Fahrzeug und ausgerechnet in das muss dieser Schnösel rein rennen. Aber mal ganz davon abgesehen: so viel kann da nicht passiert sein. Das hier ist eine 30er-Zone und viel mehr hatte ich auch nicht drauf. Schließlich spielen hier Kinder. Und mit denen hätte ich Mitleid gehabt.
Ich lasse die Scheibe auf meiner Seite runtergleiten und strecke den Kopf aus dem Fenster. Hat sich ganz schön abgekühlt. Dabei haben wir doch August! Nicht mal die Sonne ist zu sehen. Hat sich von der reichlich aufgeplusterten Wolkendecke verdrängen lassen. Und was ist das für ein Gestank? Der raubt einem ja schier den Atem! Schwer und widerlich. Wie vergammeltes Fleisch. Bestimmt hat da jemand seinen Mähabfall mal wieder nicht ordnungsgerecht entsorgt. Und jetzt gärt das Zeug und stinkt zum Himmel. Könnt’ ich fuchsteufelswild werden!
Und was macht Quasimodo? Kotzt sich die Seele aus dem Leib! Mitten auf der Straße! Selbst ein Penner wie der könnte doch wenigstens einen Funken Anstand besitzen und rüber zum nächsten Gebüsch oder Baum gehen. Alles wäre besser als hier, wo ihn jeder hübsch beobachten kann. Andererseits sollte mich das nicht verwundern. Dieses ganze Viertel geht doch allmählich zum Teufel. Überall liegt Müll, die Vorgärten sind ungepflegt oder abgestorben, ganze Putzschichten sind abgebröckelt und Häuserfassaden mit tiefen Rissen überzogen. Dabei sind es gar nicht mal die überdeutlichen Merkmale des Verfalls, die mich so zornig machen (wo wir gerade dabei sind – fehlen dem Reihenhaus da drüben ein paar Fenster? Und dem gleich daneben die Tür?). Darüber könnte ich ja noch hinwegsehen. Okay – vielleicht. Was ich aber keineswegs ignorieren kann – und möchte – ist diese Gleichgültigkeit. Wir sind zu einer Leck mich am Arsch-Gesellschaft verkommen. Apathie ist die neue Motivation und jeder findet’s geil. Lieber stumpfsinnig vor der Glotze hocken, als mal raus zu gehen. Oder wenigstens ein Buch zu lesen.
Zu allem Übel glotzt mich dieser Quasimodo-Verschnitt jetzt unverhohlen an und … ich kenne diesen Blick! Diesen Ausdruck in seinen Augen! Willst du mir Schuldgefühle eintrichtern, Kerl? Glaubst du, ich zücke mein Portemonnaie und zahle dir Schmerzensgeld? Da haste dich aber geschnitten!
Er greift sich an den Hinterkopf. Irgendwas landet mit einem feuchten Schmatzen auf der Straße. Ungläubig starrt er auf seine roten Finger, ehe er sich wieder mir zuwendet.
„Hey, das ist nicht meine Schuld! Hätten Sie besser aufgepasst, wäre nichts passiert. Und außerdem: Wenn hier jemand sauer sein müsste, dann doch ich! Ich meine … ihr ganzes Blut und all das andere, ähm … Zeugs … das klebt jetzt an meiner Windschutzscheibe und auf der Motorhaube und garantiert auch am Kotflügel und dem Kühlergrill; von etwaigen Beulen oder Dellen ganz zu schweigen! Seien Sie froh, dass Sie so glimpflich davongekommen sind! Ich hätte auch die Polizei rufen können!“
Quasimodo stöhnt auf. Sein Atem geht rasselnd. Bestimmt raucht der wie ein Schlot. Für einen kurzen Moment erhasche ich einen Blick auf sein Gebiss. Beziehungsweise auf das Fehlen desgleichen. Mit kratziger Stimme raunt er mir irgendwelche Worte zu.
„Also wenn Sie wollen, dass ich Sie verstehen soll, dann müssen Sie entweder herkommen oder etwas lauter sprechen!“
Er sammelt Atem.
Wieder dieses abscheuliche Gerassel.
Dann: „Hilf … mir …!“
Meint der das ernst? Ich soll ihm helfen? Und wer, bitteschön, hilft mir? Wer kommt für die Verunreinigungen und den eventuellen Schaden auf? Gewiss nicht du! Dir helfen? Ich denke nicht dran! Und außerdem – findest du nicht auch, dass du aus einer Mücke einen Elefanten machst? Die paar Kratzer und blauen Flecken sind doch harmlos, verglichen mit den Einbußen am Honda. Kümmer’ dich lieber um deine Pestbeulen oder was immer die sind.
Genau diese Worte bekommt er von mir zu hören. Und wie erwartet besitzt er nicht das Rückgrat, seine Niederlage wie ein Mann hinzunehmen. Stattdessen sinkt er einfach zu Boden.
„Blödes Arschloch.“ Ich lasse die Scheibe wieder hoch gleiten und fahre weiter. Nach gut hundert Metern blicke ich nochmals in den Rückspiegel. Quasimodo liegt noch immer auf der Straße. Und irgendwas Weißes, Spitzes ragt aus seinem Unterschenkel heraus. Komisch, hab ich vorhin gar nicht gemerkt. Was soll’s. Ist bestimmt nur halb so wild.
****
Also dieses Humpeln macht mich noch ganz verrückt. Babumm-Babumm-Babumm-Babumm – und die ganze Zeit über werde ich durchgeschüttelt wie so’n Modelldorf in ‘ner Scheekugel! Mittlerweile glaube ich nicht mehr, dass es ein Platten ist. Mittlerweile tippe ich eher auf die Achse oder die Antriebswelle … Scheiße, was weiß ich denn schon? Ich kann ein Auto fahren, aber nicht reparieren, verdammt noch mal. Ich kann nicht mal den Vergaser von der Autobatterie unterscheiden! Und zu allem Übel noch die Fliegen. Dicke, fette, hässliche Schmeißfliegen. Surren um mich rum als wäre ich ein riesiger Kothaufen. Und die verdammte Heizung funktioniert auch nicht, das Radio ist auch tot … und außerdem juckt mir der Schädel wie verrückt. Ja, natürlich weiß ich, was Kerstin jetzt sagen würde … und sie hat auch Recht … aber – lieber riskiere ich eine mögliche Infektion, bevor ich den Verstand verliere!
Ahh … ahh … tut das gut. Ja, ja, wunderbaar … ahh, ah- Autsch. Kacke. Jetzt hab ich doch zu dolle gekratzt. Oh, Mann! Nun seht euch die Bescherung an! Gelbes Zeug und Haarbüschel! Mist. Na ja, halb so wild. Dafür habe ich ja immer ein paar Kleenex – oh. Keine da. Egal. Wische ich mir die Hand eben an der Hose ab. So. Schon viel besser. Das einzige, was jetzt noch stört, sind die Fliegen auf meinem Kopf und das Kitzeln in meinem Nacken. Da läuft irgendwas sehr Zähflüssiges runter. Ist bestimmt nur Schweiß.
Mein Augenmerk gilt wieder dem Radio. Was ist nur los mit dem Ding? Warum kann ich keine Sender empfangen? Nur dieses nervtötende Rauschen? Letztens war es doch noch einwandfrei? Gott sei Dank hab ich eine CD im Player. Phil Collins. Und auch diesmal enttäuscht er mich nicht. Wahrscheinlich gibt es keinen besseren Pop-Song als Another Day in Paradise.
****
Ich lasse den Wagen in der Einfahrt sanft ausrollen. Das Knirschen des Kieses gibt mir ein beruhigendes Gefühl. Das und der gute alte Phil. In solchen Momenten frage ich mich, warum ich so ein verdammter Pessimist bin. So schlecht ist die Welt im Grunde doch gar nicht. Trotz Wirtschaftskrisen, Umweltkatastrophen, Rekordinflationen und den ganzen Kriegen rund um den Erdball. Wir Menschen sind im Grunde gar keine so aggressive Spezies. Und bestimmt auch nicht von Natur aus bösartig. Es gibt so viele gute Seiten an uns. So viel Potenzial. Wir haben es einfach noch nicht abgerufen. Der Mensch ist zu so viel Wunderbarem imstande. Es schlummert in uns. Davon bin ich überzeugt. Noch sind wir wie Kinder; noch haben wir so viel zu lernen. Und das werden wir. Daran gibt es keinerlei Zweifel. Eines nicht allzu entfernten Tages werden wir im Garten Eden leben; in Harmonie mit unseren Mitmenschen und im Einklang mit Mutter Natur. Kerstin würde nur müde lächeln und mit den Augen rollen, wenn ich ihr das vortragen würde. Mein Mann, der Hippie. Soso. Ich kann sie förmlich vor mir sehen. Mir geht das Herz auf. Und es ist mir auch in keinster Weise peinlich, einzugestehen, dass ich diese – meine – Frau auch nach fast zwanzig Ehejahren immer noch liebe wie am ersten Tag.
Das kann man von unserem Nachbarn nicht behaupten. Vor ‘nem halben Jahr hat er seine Frau rausgeschmissen. Weil er sie betrogen hat! Mistkerl. Dabei konnte man von Bettina halten, was man wollte – hässlich war sie mit Sicherheit nicht. Auch nicht dumm oder so. Vielleicht ein klein wenig naiv, was ihren Gatten betraf. Alle wussten, dass er sich hinter ihrem Rücken quer durch die Landschaft vögelt. Na ja, wie so viele Ehefrauen muss sie all die Jahre über mit Scheuklappen durchs Leben gelaufen sein. Manchmal hab ich die beiden abends im Esszimmer gesehen. Wie sie gestritten haben. Bis Norbert Oberwasser hatte und sie rausgeworfen hat. Wichser. Aber was kann man von solch einem asozialen Sack auch schon erwarten? Arbeit hat der doch schon lange nicht mehr. Lebt von Hartz IV und pennt bis Nachmittags. Eine faule Sau. Aber was er jetzt bringt, ist ja wohl der Oberhammer: liegt nutzlos im Vorgarten, nur mit seinen dreckigen Boxershorts und dem verschmierten Bademantel an! Selbst als ich seinen Namen rufe – wütend – reagiert er nicht. Stattdessen starrt er weiterhin in den Himmel; die Fliegen und den Gestank und natürlich mich bewusst ignorierend.
Arschloch.
Kopfschüttelnd setzte ich mich in Bewegung.
Knirsch-Knirsch-Knirsch.
Womöglich liegt es an diesem Arsch Norbert, vielleicht auch an dem Deppen von vorhin, aber irgendwie klingt der Kies heute anders.
Knirsch-Knirsch-Knirsch.
Ach was. Einbildung. Ich rede mir was ein. Der Stress, weiter nichts.
Knirsch-Knirsch-Knirsch.
Aber es ist wie vorhin, als mich das Jucken förmlich in den Wahnsinn getrieben hatte. Natürlich weiß ich, dass da nichts ist, aber ich bleibe trotzdem stehen. Blicke nach unten.
„Ooo-ha“, entfährt es mir.
Zwischen meinen Beinen schlängelt sich ein braunes Band entlang. Jedes Spektrum dieser Farbe ist darin enthalten: Bronze, Kupferbraun, Nussbraun, Kastanienbraun … Angewidert verziehe ich den Mund. Schaben, ist mein erster Gedanke. Und gleich so viele! Gefolgt von der unausweichlichen Frage, ob die Viecher aus meinem Haus stammen.
Mein Blick folgt der sich windenden Masse. Es ist gar nicht mal der Anblick dieser vierbeinigen Schädlinge, der mich ekelt. Vielmehr dieses fast schon schrille, unnatürlich laute Sirren, begleitet von vereinzelten Raschel- und sogar Fauchklängen. Das kann einem echt durch Mark und Bein gehen. Wie erwartet stammen die Viecher nicht von mir. Als wüssten sie von Katrins Reinlichkeit, machen sie kurz vor der Haustreppe einen Bogen, schlängeln sich rüber zu Norbert und verschwinden in der sperrangelweit geöffneten Haustür.
„Siehst du, was du angerichtet hast? Wegen dir kann jetzt die ganze Nachbarschaft den Kammerjäger rufen! – Hast du mir zugehört, Norbert!“
Keine Antwort. Er starrt weiterhin ins Nichts.
„Du kannst den Toten von mir aus so lange spielen, bis du grün und blau wirst, Norbert. Sollte ich aber raus finden, dass es deine Schabenbrut in unser Haus geschafft hat, dann kannst du was erleben!“
Keine Antwort.
Wütend zermatsche ich ein paar der Viecher zu Brei. Zu dem Knirschen-Sirren-Rascheln-Fauchen gesellt sich ein pampiges Schmatzen. Als würde man Kartoffeln mit einem Stampfer zu Püree verarbeiten. Aber nicht alle Schaben spielen da mit. Ein paar von diesen Biestern werden frech und krabbeln an meinem Bein hoch. Sogar eine riesengroße schwarze Kakerlake ist drunter! Ich hüpfe zur Seite. Wische mir meine Angreifer mit dem Koffer ab. Sie kehren wieder zu ihrer Kolonie zurück. Und die Kolonie … schlängelt sich in meine Richtung!
„Verdammt!“, keuche ich – und sehe zu, dass ich Land gewinne. Aber plötzlich.
Ich stürme die Stufen rauf, suche nach dem Hausschlüssel. Immer wieder blicke ich über meine Schulter. Die Schabenflut kommt näher. Das darf doch nicht wahr sein! Und zu allem Übel passiert mir ausgerechnet jetzt etwas, das eigentlich nur in drittklassigen Spielfilmen passiert: Ich lasse den Schlüssel fallen!
Hastig hebe ich ihn auf. Der Anhänger – ein Foto von Katrin – klimpert. Ist fast so schlimm wie der Krach, den die Kakerlaken veranstalten. Oder meine zitternden Hände. Komm schon. Beruhige dich wieder. Wieder der Blick über die Schulter. Die ersten Schaben krabbeln schon die Stufen hoch! Dann: das beruhigende Klicken des Schlosses. Ich reiße die Tür auf und springe förmlich ins Innere. Mit einem lauten Scheppern knalle ich die Haustür zu. Lehne mich mit dem Rücke dagegen. Schließe die Augen. Atme tief durch.
Sekunden später geht es mir wieder etwas besser. Bis mir der Türspalt auffällt. Die ersten Schaben haben sich bereits durchgezwängt. Und es werden immer mehr! Angst und Hektik durchfluten meinen Körper. Ich werfe den Koffer einfach beiseite. Er landet polternd auf der Treppe. Ich muss den Spalt schließen! Sofort! Aber womit denn? Womit? Hier ist doch weit und breit nichts, dass ich –
Das Gästeklo. Ich wirble zur Seite. Stoße die Tür zum WC auf. In dem kleinen Badschrank unter dem Spülbecken verwahrt Katrin neben ihren Reinigungssachen auch ein paar Handtücher. Die könnten gehen. Reinigungsmittel, Eimer und Schwämme schießen an mir vorbei, während ich mich vorarbeite. Dann – endlich! Aber was ist das? Putzlappen, Reinigungstücher? Damit kann ich doch unmöglich was mit anfangen! Ich suche weiter – und finde schließlich ein paar ausrangierte Frotteehandtücher. Groß und schwer genug für meine Zwecke. Mit meiner Beute bewaffnet, kehre ich zur Haustür zurück. In der Zwischenzeit sind Dutzende von Schaben durch den Spalt gekommen. Vor Schreck erstarrt verfolge ich, wie sie über den Läufer wuseln, die Wand hinaufkrabbeln, die Kommode in Anschlag genommen haben. Kein schöner Anblick, aber ich muss mich trotzdem davon lösen. Wenn ich jetzt nichts unternehme, kommen immer mehr von denen hier rein – und wir ersaufen in Schädlingen!
Ich kicke und trete, bis der Weg einigermaßen frei ist. Dann klemme ich das erste Handtuch gegen den Spalt. Und das nächste. Vom Kleiderhaken schnappe ich mir den Regenschirm. Mit der Schirmspitze treibe ich die Handtücher tiefer in den Spalt. So. Das hält erstmal ´ne Weile. Nun zu den verbliebenen Eindringlingen. Was am Boden krabbelt, wird von mir zu Mus verarbeitet. Die Schaben an der Tapete und der Kommode erledige ich mit dem Regenschirm. Der Schirm ist übersät mit gelben Flecken, vermischt mit den Resten von Chitinpanzern. Ich hänge ihn wieder an den Ständer.
Neugierig luge ich ins Wohnzimmer. „Kathrin? Daniela?“
Nichts.
„Kathrin? Daniela?“
Ein schwacher Windzug streift mein Gesicht. Etwas landet auf meinem Hemd.
Eine Schabe.
Irgendwie ist die mir entgangen. Ist wahrscheinlich die Decke lang gewandert.
Ich picke sie auf. Sie zappelt zwischen meinen Fingern. Vier winzige Schabenbeinchen strampeln verzweifelt; unterstützt von einem sich aufbäumendem Schabenkörper.
Ich lasse sie in meiner Faust verschwinden. Es knirscht. Zwischen meinen Fingern quillt zähflüssige Pampe. Ich wische sie an meinem Hemd ab – und habe irgendwie den Faden verloren. Was wollte ich? Ach ja. Nach meiner Frau und meiner Tochter suchen.
„Ach da seid ihr“, sage ich, nachdem ich sie in der Küche entdeckt habe. „Hätte ich mir ja eigentlich denken können. Habt ihr mich nicht gehört? Egal. Ihr werdet mir jedenfalls nicht glauben, was heute passiert ist …“
****
„Ta-da!“ Stolz stelle ich den Servierteller auf den Tisch. Die gegrillte Katze duftet verführerisch. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich schnalle meine Lieblingsgrillschürze ab (Aufschrift: „Frauen lieben Männer mit Kohle“) und schnappe mir das Messer und die Zange. Als ich den gleichgültigen Ausdruck in Kathrins und Danielas Gesichtern erkenne, ist es vorbei mit der guten Laune. Bewusst überzogen lasse ich das Grillbesteck auf den Tisch fallen und sinke auf meinen Stuhl. Abwechselnd blicke ich meine Frau und meine Tochter an.
Weiterhin keine Reaktion.
Nicht die kleinste Regung.
Da platzt mir der Kragen: „Was, was?“, bringe ich schließlich hervor. „Ist es euch wieder nicht gut genug?“
Keine Antwort.
„Wisst ihr eigentlich, wie viel Mühe ich mir gegeben habe?“
Schweigen.
„Und glaubt ja nicht, dass ich die Sache vom letzten Mal vergessen habe! Das Fleisch ist durch; keine Sorge! Obwohl es mir ein Rätsel ist, was man an Medium durchgebratenem Steak widerlich finden kann. Und kommt mir jetzt bloß nicht mit dem Blut! Das, was da raus läuft, ist nämlich kein Blut, sondern Bratensaft!“
Stille.
Zornig schnappe ich mir Zange und Messer. Die Zinken bohre ich in den Hinterkopf der Katze, ehe ich zu schneiden anfange. Mühelos zerteilt das Messer das Fleisch. Es ist saftig und hellrosa und mit Sicherheit butterzart. Kathrin und Daniela glauben mir noch immer nicht. Also schneide ich weiter. Schließlich stoße ich auf Knorpel oder irgendein anderes Hindernis. Übe mehr Druck aus. Es knirscht. Mein Blick wandert zu meiner Familie. Kein Gemurre, kein Protest und auch keinerlei Ekelbekundungen. Hat aber nichts zu bedeuten. Kathrin ist ein Sturkopf und hat dieses Talent an ihre Tochter vererbt. Leider.
Ich schneide weiter. Vor und wieder zurück … vor und wieder zurück … vor und –
„Ach du meine Güte!“
Ein dunkelroter Strahl schießt aus dem klaffenden Spalt hervor. Das ist definitiv kein Bratensaft. Das Blut spritzt mir ins Gesicht und hinterlässt auf der Tischdecke eine verwaschene Zickzacklinie. Bevor die ersten Protestrufe losgehen, melde ich mich zu Wort: „Keine Panik, Leute, keine Panik! Das müsst ihr nicht essen! Ist schon okay. Bin nur ein wenig übermütig mit dem Messer gewesen.“
Puh, Glück gehabt. Da konnte ich ja in allerletzter Sekunde Schlimmeres vermeiden.
Rasch bringe ich mein Werk zu Ende. Der Kopf der Katze löst sich vom restlichen Körper und rollt vom Servierteller, die nächste rote Spur auf der Decke hinterlassend. Na ja. Ist halb so wild. Die Tischdecke muss sowieso gereinigt werden. Ich pfähle den Kopf mit der Zange und hebe ihn auf. Die Zunge des Tiers hängt schlapp aus dem halb geöffneten Maul. Die Katzenaugen besitzen einen fragenden Ausdruck. Als würde es sich die Frage „Warum ich?“ durch den Kopf gehen lassen. Tja, so ist nun mal das Leben. Fressen und gefressen werden.
Der Kopf landet auf meinem Teller.
„So und jetzt zu euch.“ Erneut setze ich das Messer an. Daniela bekommt ein herrliches Stück vom Oberschenkel, Kathrin ein prächtiges Nackenstück.
Ich nehme wieder Platz und wünsche guten Appetit.
Mann, ist das lecker! Vielleicht ein wenig knorpelig, aber ansonsten? Einfach fantastisch. Ich bin wirklich stolz auf mein Werk.
Kathrin und Daniela scheinen anderer Meinung zu sein. Noch immer glotzen sie mich an. Ihr Essen haben sie nicht angerührt.
„Wisst ihr was? Ihr könnt mich mal! Ihr mögt euer Essen nicht? Von mir aus. Dann bleibt eben mehr für mich!“ Mit der Gabel steche ich in den milchigen Augapfel der Katze. Er platzt auf wie der Dotter auf einem Spiegelei. Halb verflüssigtes Gelee breitet sich auf den Zinken aus.
Es schmeckt köstlich. Ihr Vegetarier habt ja keine Ahnung.
****
Nach dem Essen bringe ich Daniela ins Wohnzimmer und hocke sie auf die Couch. Ihr Gewicht macht mir ein wenig Sorgen. Sie fühlt sich so leicht an. Ob sie unter einer Essstörung leidet? Viele Teenager in ihrem Alter leiden ja darunter. Kathrin sollte mal mit ihr ein ernstes Wörtchen reden. Außerdem vernachlässigt sie schon seit einiger Zeit ihr Äußeres. Ihr strohblondes Haar ist fettig und strähnig und hat einen wesentlich dunkleren Ton angenommen. Außerdem haben sich Läuse und weiße Raupendinger auf ihrer Kopfhaut eingenistet. Der Anblick stimmt mich traurig. Sie ist doch so ein hübsches Mädchen; praktisch schon eine attraktive junge Frau – warum lässt sie sich dann so gehen? Ob es an diesem Jungen liegt, mit dem sie sich trifft? Marco – ist das sein Name? Bestimmt. Ich hatte Kathrin ja gewarnt, aber sie wollte ja nicht auf mich hören. Und wenn dieser Freak seine Hände nicht unter Kontrolle hat, dann gnade ihm Gott!
Was nicht heißen soll, dass sich der Groll meiner Tochter gegenüber einfach so in Rauch aufgelöst hat; oh nein. Ich bin noch immer stocksauer auf sie. Und auf Kathrin. Die gleich von mir was zu hören bekommt.
„Da“, sage ich und werfe Daniela die Fernbedienung rüber. Sie landet in ihrem Schoss. „Guck fern oder geh’ von mir aus hoch in dein Zimmer; ist mir egal.“
Ich warte nicht auf ihre Antwort. Stattdessen stapfe ich in die Küche zurück, wo Kathrin weiterhin vor ihrem Essen hockt.
„Was ist nur mit dir los?“, komme ich ohne Umschweife zum Punkt. Kathrin glotzt mich einfach nur an. Ihre Augen haben einen merkwürdigen, milchigen Schimmer. Liegt bestimmt am Schlafmangel. Mit ihrem weit aufgerissenen Mund wirkt sie infantil. Auch sie scheint nicht mehr sehr viel Wert auf ihr Äußeres zu legen. Die zusammengeklebten Haarstränen und nicht zuletzt ihre spröden, rissigen Lippen sind der beste Beweis dafür. Gelbes Zeug rinnt an ihrem Kinn entlang. Eklig. So lange sie nichts dagegen tut, werden meine Lippen geschlossen bleiben. So viel steht fest.
Seufzend fange ich mit dem Abräumen an. Kathrin ist ja sowieso nicht danach. Nicht mal helfen tut sie mir. Wie ein Stein hockt sie auf ihrem Stuhl und starrt ins Leere.
„Was ist nur mit euch los?“, greife ich das Thema wieder auf. „Du und Daniela … ihr beide habt … habt euch gegen mich verschworen. Und komm mir bloß nicht damit, dass ich mir das wieder nur einbilde! Das tue ich nämlich nicht!“ Vom Zorn angetrieben, reiße ich die Kühlschranktür auf und schmeiße den Servierteller mit der Katze aufs erstbeste Regal. Es klappert. Als ich die Tür wieder zuschlage, lösen sich ein paar Eier und zerplatzen auf dem Linoleum. Eine grüne Lache breitet sich aus. Es stinkt nach Schwefel. Und Darmwinden.
Mit dem Fuß wische ich die Sauerei etwas beiseite und fahre fort. Wortlos verfolgt Kathrin, wie ich die Bestecke einsammle, die Teller aufschichte, die Reste abkratze. „Liegt es an mir? Oder an der Arbeit? Bestimmt liegt es an der Arbeit. Aber was soll ich machen? Was? Soll ich alles hinschmeißen? Dem Chef sagen, dass ich keine Lust mehr habe? Sicher, dass könnte ich machen. Dann hätte ich auch wieder mehr Zeit für euch. Und mehr Zeit für mich. Wogegen ich absolut nichts einzuwenden hätte; glaub’ mir. Aber so einfach ist es nun mal nicht. Ich meine, wovon sollten wir dann leben? Hartz IV – so wie der Penner von nebenan? Und selbst wenn du wieder Vollzeit im Frisörladen arbeiten würdest – unsere Sorgen wären wir damit noch längst nicht los. Die Hypothek aufs Haus, die Leasingrate auf den Honda … begreif’ es doch bitte, Schatz: Es geht nicht anders. Irgendwann vielleicht, aber nicht jetzt.“
Ein Blick über die Schulter verrät mir, dass es Kathrin egal ist. Seufzend und mit geschürzten Lippen lasse ich das Geschirr zu den anderen Tellern und Tassen fallen, die im Spülbecken vor sich hingammeln. Das Scheppern tut mir in den Ohren weh. Ich will mich abwenden, als eine Ratte plötzlich am Beckenrand auftaucht. Das Mistviech ist gewaltig. Die schwarzen Augen funkeln mich zornig an und das Gebiss verheißt nichts Gutes. Allerdings hat sie sich einen besonders schlechten Zeitpunkt ausgewählt. Du willst dich also auch mit mir anlegen? Nur zu, kannste gerne haben!
Ich packe mir den lästigen Nager. Das Fell der Ratte ist glitschig und verklebt. Sie wehrt sich nach Leibeskräften. Ihre Beinchen treten gegen meinen Handrücken. Schließlich bohrt sie ihre Hauer in das weiche Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Schmerz ist mir egal. Die kleinen Dinger, die aus ihrem Fell fallen auch. Müssen wohl Zecken oder Flöhe sein. Mit der anderen Hand schnappe ich mir ihren Kopf. Das Geräusch der zerbrechenden Wirbelsäule klingt wie ein kleiner Ast, der auf dem Knie gebrochen wird. Sofort erschlafft das Tier. Schließmuskel und Blase geben ihren Geist auf. Rattenköttel und warmes Urin kleben nun auf meiner Haut. Ich werfe die tote Ratte in die Spüle und schnappe mir ein Spültuch. Wische die Ausscheidungen weg. Dann das Blut. Der Bastard hat ganze Arbeit geleistet. Die Wunde ich ziemlich tief. Und blutet wie Sau. Ich lege die Hand unter die Spüle, drehe am Hahn. Nichts. Na wunderbar.
„Ich hoffe, die kleine Show hat dir gefallen“, presse ich zornig hervor, während ich das Spültuch um meine Hand wickle. Umgehend saugt sich der Stoff voll. „Ach und noch etwas. Morgen muss ich ins Büro. Du hast richtig gehört. Ich muss morgen ins Büro. Am Wochenende.“
Rasend vor Zorn stapfe ich aus der Küche.
****
Nachdem ich Daniela bettfertig gemacht habe, ist Kathrin an der Reihe. Es ist nicht gerade leicht, sie aus den verklebten Klamotten zu schälen. Das Überstreifen ihres Nachthemds ist da wesentlich einfacher. Wenngleich sie mir auch da keine große Hilfe ist.
Kurz danach liege ich neben ihr und starre zur Decke. Ich bin müde, finde aber keine Ruhe. Es gehen mir einfach zu viele Gedanken durch den Kopf. Die meisten drehen sich um mich und Kathrin und Daniela. Die Art, wie sie mich bewusst ignorieren, mag mich äußerlich unversehrt lassen. Innerlich versetzt es mir dafür jedes Mal einen Stich ins Herz. Aber wie kann ich es wieder gut machen – und vor allem: womit?
Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort.
Ich drehe mich zu Kathrin rüber. Sie regt sich nicht. Blickt weiterhin nach oben. Ehe ich mich versehe, verschwindet meine Hand unter ihrem Nachthemd und geht auf Wanderschaft. Kathrins Haut ist ganz kalt. Selbst als ich zärtlich ihre Brust umfasse, rührt sie sich nicht. Im Gegensatz zu mir. Frustriert wende ich mich wieder ab. Himmel, selbst eine schlechte Lüge wäre besser gewesen als diese sture Abweisung.
Draußen bellen ein paar Hunde. Mülltonnen klappern. Ein Mann schreit. Die Hunde bellen wieder. Noch mehr Krach. Noch ein Schrei. Dann ist es wieder ruhig.
****
Mit den ersten Sonnenstrahlen werde ich wach. Hab schlecht geschlafen. Alpträume. Von Feuer. Viel Feuer. Und Menschen, die darin geschmort haben. Am besten denke ich nicht mehr daran.
Kathrin schläft weiter. Für einen kurzen Moment spiele ich mit der Idee, sie aufzuwecken. Sie hätte es verdient. Schließlich entscheide ich mich dagegen. Ein grau-trüber Himmel begrüßt mich, als ich aus dem Schlafzimmerfenster blicke. Hinter den Wolken versteckt sich die Sonne. Sie wirkt irgendwie … krank. Trüb. Nicht wie ein strahlender Stern. Vielmehr sieht sie wie eine Hefekugel aus.
Ich klappe das Fenster auf. Will nur mal kurz durchlüften. Doch daraus wird nichts. Fürchterlicher Mief schlägt mir entgegen. Schwer zu beschreiben. Eine Mischung aus vergorener Milch und brennendem Laub. In der Nachbarschaft regt sich nichts. Na ja, es ist Samstag. Da schlafen die meisten länger.
Ich schlurfe rüber ins Badezimmer. Drehe am Wasserhahn. Zunächst kommt nichts, dann braunes Wasser. Ich fülle meinen Becher, tauche die Bürste hinein und putze mir die Zähne. Hellrotes Blut quillt aus meinem Zahnfleisch. Ist nichts Neues. Sollte mal wieder zum Zahnarzt gehen. Dieser Horvath macht seine Sache ganz gut. Ist auch ein ziemlich netter Kerl. Und – was ist das?
Ich beuge mich etwas vor, bis meine Nase beinahe den Spiegel des Medizinschranks berührt. Ah, tatsächlich. Einer meiner Vorderzähne ist locker. Noch einer. Ärgerlich. Vorsichtig wackle ich ihn ein wenig, dann löse ich ihn aus dem Zahnfleisch. Geht ganz leicht. Wie die anderen, will ich ihn auch in die kleine Schachtel legen, die ich im Medizinschrank deponiert habe. Aber ich passe nicht auf und daher flutscht der Zahn aus meinen Fingern, landet klimpernd im Becken und nähert sich kreiseziehend immer schneller dem Abfluss. Ich will ihn mir schnappen, bin aber zu spät. Tja, Pech gehabt. Seufzend will ich mich abwenden, erhasche dann aber doch noch einen Blick auf mein Spiegelbild. Ich bin zwar kein passionierter Pessimist, muss aber eingestehen, dass ich schon mal besser ausgesehen habe. Meine Haut ist schwammig und grau. Dunkle Ringe nisten unter meinen verklebten Augen. Als ich mir durchs Haar fahre, kommen meine Finger mit einem beachtlichen Büschel zurück. Haarausfall. So ein Mist. Ich dachte immer, dieser Kelch würde an mir vorüberziehen. Nun ja. Dagegen lässt sich wohl auch nichts machen. Vielleicht eine Perücke, irgendwann? Ach nö. Bin nicht der Typ dazu.
Eigentlich sollte ich sie ja auch aus dem Schlaf reißen, überkommt es mich, während ich in dem Stapel neben dem Bett nach frischer Kleidung suche. Wobei „frisch“ nicht unbedingt die passende Beschreibung ist. Die Hemden und Hosen sind zerknittert, dreckig, stinken. Die Unterwäsche auch … Zu dumm, dass Waschmaschine und Trockner ausgerechnet jetzt den Geist aufgeben mussten. Was soll’s. Muss man eben durch. Ein bisschen Deo und es geht. Eigentlich sollte ich sie wirklich aus dem Schlaf reißen, nehme ich den Faden wieder auf. So mit richtig viel Tamtam, dass sie glaubt, einen Herzanfall zu kriegen! Die Idee hat was. Aber wenn ich mir Kathrin so betrachte … nie im Leben würde ich die wach kriegen. Die pennt wie eine Tote.
Eine Tote. Der war gut.
****
Auf halbem Wege nach unten fällt mir die böse Überraschung von gestern ein. Und damit meine ich nicht die Verschwörung meiner Familie mir gegenüber. Das verdammte Krabbelzeug!, schießt es mir siedendheiß durch den Kopf. Der ganze Gram über Daniela und Kathrin hat es mich völlig vergessen lassen. Auf einmal habe ich richtiggehend Schiss, die andere Hälfte der Stufen zu nehmen. Wenn mich am Fuße der Treppe eine böse Überraschung erwartet? Eine zornige, zu allem bereite Armee aus Chitinpanzern und Mandibeln? Das hätte gerade noch gefehlt.
Auf Zehenspitzen schleiche ich mich weiter. Was noch an Restmüdigkeit da gewesen war, ist inzwischen verpufft wie eine Gaswolke. Stattdessen fühle ich mich wie aufgeputscht. Als ob man mir eine Adrenalinspritze ins Herz getrieben hätte. So wie in diesem Film … keine Ahnung, wie der heißt. Als eine der Stufen unter meinem Gewicht zu ächzen beginnt, zieht sich alles in mir zusammen. Mist!
Noch zwei Stufen. Noch immer keine Geräusche.
Jetzt nur noch eine. Weiterhin keine verdächtigen Anzeichen. Hat aber nichts zu bedeuten. Die Biester sind gerissen.
Dann stehe ich im Flur und … atme auf. Bis auf die Überreste meines gestrigen Kampfs ist nichts zu sehen. Selbst die Handtücher klemmen noch unter dem Türrahmen.
Trotzdem: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Darum bewaffne ich mich wieder mit dem Regenschirm. Schabe mit der Spitze die Tücher beiseite. Bereite mich auf das Schlimmste vor. Nichts passiert.
Gut. Und jetzt … ich hole tief Luft. Reiße die Tür auf, den Regenschirm zum Angriff erhoben. Nur dass die Angreifer verschwunden sind. Alles präsentiert sich ruhig und friedlich. Ein typischer früher Samstagmorgen eben.
Bis auf diesen furchtbaren Gestank. Auf dem Weg zu meinem Auto trifft er mich wie ein Vorschlaghammer. Eine Mischung aus Rost, vergorener Milch und Zuckerwatte. Ich muss mich echt zusammenreißen, um nicht drauflos zu kotzen. Ob das wieder Norberts Werk sein könnte? Zuzutrauen wäre es ihm. Augenblicklich drehe ich mich zu seinem Grundstück um. Nichts zu sehen. Bis auf den dunklen Fleck auf dem Rasen. Und den dreckigen Bademantel daneben. Eigenartig.
Eigentlich sollte ich ja schon längst unterwegs sein, solange die Straßen noch leer sind, aber dieser Mief lässt mir keine Ruhe. Überall schaue ich nach, selbst unter dem Honda. Alles Fehlanzeige.
Da fallen mir die Mülltonnen ein.
Ich haste nach rechts zum Zaun, öffne das Türchen und betrete den kleinen Durchgang, der sich zwischen unserem und dem Haus der Sebaldts befindet. Je näher ich den Tonnen komme, desto unerträglicher wird der Gestank. Ich muss mir einen Arm vor Mund und Nase pressen, um nicht drauflos zu reihern. Und ja, wirklich: zwischen den Tonnen liegt … etwas. Ein Ding. Mann könnte es als Menschen umschreiben, doch passt dieses Attribut nicht wirklich. Menschenähnlich. Vielleicht. Wenn man in Geberlaune ist. Was da zwischen den Mülltonnen in seinem eigenen Sud liegt, erinnert an die Reste eines mittelalterlichen Gelages. Oder an die Überbleibsel, die das Hairudel nicht mehr gepackt hat. Schlimm. Zusammen mit dem Gestank ergibt das eine wirklich üble Kombination. Wirklich, wirklich übel. Prompt fällt mir der Krach von vergangener Nacht ein. Tja, da haben wir wohl den Übeltäter. Selber schuld. Was schnüffelst du auch mitten in der Nacht in fremder Leute Mülltonnen rum? Das dich die Hunde erwischt haben, ist Künstlerpech.
Ein Arm schießt in die Höhe. Lediglich zusammengehalten durch Hautfetzen und Nervenstränge. Er ähnelt mehr einem saftigen Nackenstück vom Metzger denn einer Gliedmaße.
„Hilf … mir …“
Ich weiche zurück. Nein. Nicht schon wieder. Nicht noch mal so ein Theater wie gestern. Außerdem – ich kenne euch Typen nur zu gut. Reicht man eurer Mischpoke den kleinen Finger, nehmt ihr gleich die ganze Hand. Oder den Arm. Der danach aussieht wie etwas von der Schlachtbank.
„Vergiss es, mein Freund. Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Du ganz allein hast dich in diese Misere reingeritten. Und ich werde ganz bestimmt nicht den edelmütigen Retter markieren und – „
„Bitteee …!“
Jetzt bin ich doch überrascht. Irgendwie hielt ich dieses Ding die ganze Zeit über für einen Mann. Aber die Worte, die aus dem lippenlosen Mund gekommen sind, haben eindeutig eine feminine Note. Was sagt man dazu.
Was man dazu sagt? Na nix natürlich. Ich werde jedenfalls ganz bestimmt nicht nachgeben und dieser Frau helfen. Jeder ist sich selbst der nächste. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern mit Überlebenstrieb.
Ich marschiere zurück zum Wagen. Öffne die Tür … und erstarre. Manchmal bin ich aber auch wirklich ein ziemlicher Dummkopf. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?
Ich eile zum Kofferraum, reiße ihn auf und durchwühle den Inhalt. Nachdem ich gefunden habe, was ich brauche, kehre ich noch mal zum Durchgang zurück. Es wäre doch eine Schande, so viel gutes Fleisch einfach verkommen zu lassen, nicht wahr?
****
Die Fahrt ins Büro gestaltet sich doch schwieriger wie erwartet. Es ist schlichtweg unfassbar, wie sehr die Stadt in der jüngsten Vergangenheit verkommen ist: überall liegen Müll und anderer Unrat auf den Straßen. Und von den mutwillig aber dennoch willkürlich abgestellten Fahrzeugen möchte ich erst gar nicht sprechen! Haben die Leute denn noch nie etwas von Parkplätzen gehört? Der Straßenverkehrsordnung?
Himmel, es wird allerhöchste Zeit, dass dagegen endlich was unternommen wird.
Obwohl wir Wochenende haben (es ist doch Samstag, oder?) gestaltet sich die Fahrt ins Büro als unerwarteter Marathon, der von mir das Äußerste abverlangt. Immer wieder muss ich irgendwelchen Gegenständen ausweichen oder mitten auf der Straße stehende Fahrzeuge umrunden. Nicht viel, und ich wäre mit einem brennenden Ölfass kollidiert. Ein brennendes Ölfass! Man stelle sich das nur mal vor! Gelegentlich passiere ich vereinzelte Gestalten, die sich schwerfällig ihren Weg bahnen. Sie erinnern an alte Greise; kraftlos und erschöpft. Tja, selber schuld. Das ist nun mal der Preis, den man für’s Saufen bezahlt!
Nach mehr als der doppelten Fahrzeit parke ich den Honda vor dem Gebäude der Versicherung. Es ist ein vertrauter Anblick. Dieser Koloss aus Beton, Stahl und Glas. Irgendwie schafft es dieses Gebäude immer wieder, dass ich mich besser fühle. Keine Ahnung, warum. Aber wegen dem Rumstehen und Rumglotzen bin ich nicht hier. Es liegt noch jede Menge unerledigte Arbeit vor mir. Staubtrockener Papierkram. Na ja. Je mehr ich mich beeile, umso schneller bin ich fertig.
Jemand hat die Glastüren eingeschlagen. Ich sollte wütend sein, bin es aber nicht. Nur traurig. Diese sinnlose Zerstörungswut. Was soll sie bringen? Ist es wirklich „cool“, fremdes Eigentum nur zum Spaß zu beschädigen? Oder ist diese Tat aus einem tieferen Sinn hervorgegangen? Vielleicht waren es gar keine Rowdys. Vielleicht ist dies das Werk von irgendwelchen irren Protestlern. Arbeitslose Weltverbesserer in Birkenstock-Sandalen. Die sind doch mittlerweile überall, wettern gegen alles und jeden: die Politik, den Euro, die Atomkraft …
Weltenverbesserer. Das ich nicht lache! Wohl eher Weltfremde.
Glassplitter knirschen unter meinem Gewicht, als ich das Foyer betrete. Es liegt im Dunkeln, vereinzelt unterbrochen durch kleine und große Lichtspeere. Staubflocken baden sich in der Helligkeit. Der Anblick erinnert an den falschen Schnee in einer Schneekugel. Die Musikbeschallung ist abgeschaltet. Nix mit „The Girl from Ipanema“ oder „Don’t worry be happy“ in ihren Easy Listening-Versionen. Außer, ich habe im Fahrstuhl mehr Glück. Da läuft das Zeug nämlich auch an einer Tour. Die Klänge meiner Schritte hören sich im verwaisten Foyer unnatürlich laut an. Irgendwie … deplatziert. Ich lenke meinen Blick zum Empfang, kann aber niemanden entdecken. Nur einen leeren Stuhl. Ist halt Wochenende.
Bei den Fahrstühlen angekommen, drücke ich den Meldeknopf. Er leuchtet nicht. Das Display über den geschlossenen Türen bleibt ebenfalls dunkel. Also versuche ich es bei den beiden anderen. Mit dem gleichen Ergebnis. Sauerei! Man hätte doch wenigstens ein Schild aufstellen können!
Na ja, was soll’s. Es ist zwar ein langer Weg bis in den siebten Stock, aber ein wenig Bewegung schadet ja nie.
Das Treppenhaus präsentiert sich genauso verlassen wie das Foyer. Hier klingen meine Schritte sogar noch lauter. Noch unheimlicher. Zwischen dem Dritten und dem Vierten halte ich inne und lege die Ohren an. Nix. Ich recke meinen Hals übers Geländer und blicke nach oben. Auch nix. Trotzdem komisch. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich zum Deppen mache, rufe ich lauthals „Haalloo“ und bekomme – wie erwartet – keine Antwort. Gerade als ich weitergehen möchte, ertönt weiter oben ein Geräusch. Ein Schaben. Oder Schlürfen. Wieder blicke ich nach oben, wieder rufe ich. Wieder erhalte ich keine Antwort. Echt merkwürdig. Als wäre es dem- oder derjenigen zu peinlich, mir zu antworten. Oder er oder sie hat einfach keine Manieren. Wundern würde es mich nicht.
Also weiter. Doch schon ein Stockwerk später bleibe ich schon wieder stehen. Ein stechender Gestank liegt hier in der Luft. Widerlich. Schwer. Er kitzelt meine Nase, meinen Hals, bringt mich zum Husten. Himmel, sogar meine Augen fangen zu tränen an! Ich krümme mich. Der Anfall will einfach kein Ende nehmen. Meine Lungen brennen, meine Augen stechen, mir wird schwindlig. Und zu allem Übel blutet mir jetzt auch noch die Nase. Ein richtiger Sturzbach ergießt sich aus ihr. Ich wische das Blut weg und lege den Kopf in den Nacken, weiterhin hustend. Keine gute Idee. Das Blut gelangt in meinen Hals. Nun huste und würge ich. Mensch, reiß dich gefälligst zusammen!, gebe ich mir selbst den Befehl, während ich mich am Geländer abstütze. Der helle Marmorboden ist gesprenkelt mit kleinen und großen Tropfen. Ein großer Klatscher gesellt sich dazu, als ich das Blut aus meinem Hals ausspucke. Mann, wie peinlich. Hoffentlich hat keiner was gesehen. Was soll’s, dafür sind ja die Reinigungskräfte da.
Zum Glück geht es mir allmählich wieder besser. Langsam kriege ich wieder Luft. Der Schwindel löst sich auf. Ich blinzle die Tränen weg und will weitergehen, als ich im Augenwinkel eine Bewegung registriere. Ich wirble herum und blicke zum Durchgang. Nichts. War wohl doch nur Einbildung. Oder? Und selbst wenn nicht, so bin ich nicht scharf darauf, es rauszufinden. Jeder weiß ja, wie die Typen aus dem Fünften so unterwegs sind. Also weiter. Der Gestank verfolgt mich aber. Grausam. Riecht verbrannt. Wie verdorbenes Fleisch. Oder ein Steak, dass man stundenlang auf dem Grill hat schmoren lassen. Unbeschreiblich süßlich.
Manchmal riecht es beim Metzger ähnlich. Wenn jemand vom Schlacht- in den Verkaufsraum kommt. Nicht ganz so intensiv, aber ähnlich. Gibt es eine Bezeichnung dafür? Fleischig? Schlachtig? Keine Ahnung.
Also weiter. Gott sei Dank stinkt es im Siebten nicht. Nur ein wenig verbrannt. Da hat wohl wieder jemand sein Mittagessen zu lange in der Mikrowelle gehabt, was?
Ich entringe mir ein knappes „Oje!“ als ich die Unordnung auf dem Korridor erblicke. Verstreute Seiten, so weit das Auge reicht. Von dem hübschen roten Läufer ist kaum noch was zu sehen. Ohnehin ist hier im Grunde sowieso nur sehr wenig zu erkennen. Kein Wunder – die Lampen sind ausgeschaltet. Man will wohl Strom sparen. Nicht, dass ich was dagegen hätte, aber so im Dunkeln rumzustolpern ist auch nicht unbedingt der schönste Zeitvertreib. Ich suche und finde den Lichtschalter. Nichts tut sich. Verdammt! Erst die Fahrstühle und jetzt das! Hier herrscht ein ernstzunehmendes Problem! Hoffentlich wird es schnellstmöglich behoben werden. Kaum auszumalen, wenn am Montag die Belegschaft reinschneit und sämtliche Computer, Telefone, Kopierer und Faxmaschinen nicht funktionsbereit wären! Als ich weitergehe, erkenne ich in den schwachen Lichtfingern, die auf den Flur fallen, die mögliche Ursache für das Chaos hier oben. Wie es scheint, hat es gebrannt. Die dunklen Russspuren an der Wand lassen jedenfalls diesen Schluss zu. Sehen irgendwie komisch aus. Wie moderne Kunst. Manche sehen sogar wie Menschen aus. Hm.
Ich wende mich ab, gehe weiter. Die Seiten rascheln unter und – irgendwo hinter mir. Was …? Ich bleibe stehen. Blicke über die Schulter. Warte. Nichts. Noch mal Hm.
Dann habe ich mein Büro erreicht. Prompt erfasst mich ein kalter Windstoß. Der Türgriff löst sich aus meinen Fingern und die Tür donnert lautstark gegen die Wand. Verdammt! Wer hat hier die Fenster offen gelassen? Die Putze? Pah, wenn es nur so einfach wäre.
Meine Fenster sind eingeschlagen worden. Noch mehr sinnlose Zerstörung. Oder auch nicht. Womöglich mussten sie die Feuermänner einschlagen. Wegen dem Rauch und so. Was weiß ich.
Ich nehme hinter meinem Schreibtisch Platz. Sortiere die vom Wind durcheinander gebrachten Unterlagen. Im Grunde brauche ich meinen Computer nicht. Nur meinen Lieblingskuli … ah, da ist er ja. So. Weiter. Ich komme wirklich gut voran. Bis aus ein paar Kleinigkeiten gibt es an den Berichten nichts auszusetzen. Irgendwann habe ich dann schließlich den letzten hinter mich gebracht und begutachte zufrieden und auch ein wenig stolz mein Werk. Wirklich. Nicht schlecht. Ich massiere mir den Nacken und drehe den Sessel zum Fenster. Normalerweise ist die Aussicht von hier oben toll. Heute leider nicht. Viel Nebel. Und irgendwo scheint es auch zu brennen. Muss in der Nähe vom Berliner Platz sein. Beiläufig fahre ich mir über die Lippen. Dann finden meine Finger die Zähne. Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich kann es einfach nicht lassen. Ist wie’s Nägelkauen. Und bevor ich mich ermahne, es sein zu lassen, blicke ich auch schon auf einen Schneidezahn in meiner Handfläche. Ich muss wirklich dringend zum Zahnarzt.
Aber zuerst brauche ich eine Tasse Kaffee. Also beschließe ich, noch der kleinen Teeküche einen Besuch abzustatten, bevor ich mich auf den Heimweg mache. Sie liegt gleich neben meinem Büro. Mit den Berichten unterm Arm mache ich mich auf den Weg. Jedoch erwartet mich eine böse Überraschung: die verdammte Kaffeemaschine springt nicht an. So ein Pech. Just, als ich mich abwenden will, bemerke ich eine Bewegung im Augenwinkel.
„Hallo?“, rufe ich und kehre zum Flur zurück. Diesmal ist es keine Einbildung. Vor meiner Tür steht eine … Person. Ein Mann.
Er sieht ein wenig ungepflegt aus mit seinem verstrubbelten Haarkranz und den zerknitterten Klamotten. Und diese dunklen Flecken … ganz ehrlich – so wäre ich nicht auf die Straße gegangen. Man will doch nicht für den letzten Penner gehalten werden!
Ich trete einen Schritt vor. Frage den Unbekannten, ob ich ihm helfen kann. Keine Antwort.
Ich nehme den nächsten Schritt. „Kann ich Ihnen – “, beginne ich, als sich der Mann umdreht. Im Halbdunkeln kann ich sein Gesicht erkennen. Er sieht krank aus. Mit den eingefallenen Wangen und den blutunterlaufenen Augen. Und rasiert hat er sich auch schon lange nicht mehr.
Statt einer Antwort lächelt er mich an. Keine Ahnung, wie ich dieses Lächeln zu deuten habe. Wer ist dieser Mann? Ein Kunde? Ein Techniker?
Er hebt die Rechte und erst jetzt erkenne ich den Gegenstand den er bei sich hat. Eine Axt. Ah – ein Techniker. Oder Elektriker. Solche Typen gelten ja gemeinhin als ein wenig verschroben.
„Sagen Sie mal“, beginne ich – und gehe automatisch zwei, drei Schritte zurück. Warum eigentlich? „Hat es hier ein Feuer gegeben? Einen Kabelbrand oder so?“
Der Mann sagt etwas, aber ich kann ihn nicht verstehen. Vielleicht spricht er ja unsere Sprache nicht. Er macht den ersten, ich mache den vierten Schritt.
„Hören Sie, guter Mann – wenn Sie meinen, dass dieses Chaos auf meinem Mist gewachsen ist, dann irren Sie sich gewaltig. Ich bin nur hier, weil ich ein paar Dinge aufarbeiten wollte. Mehr nicht. Ich verstehe, dass Sie sauer sind, dass man ausgerechnet Sie dazu erkoren hat, diesen Unrat in Ordnung zu bringen, aber das ist noch lange kein Grund, Ihre Wut an mir auszulassen.“
Er grummelt. Dann knurrt er. Und dann – kommt er angestürmt. Die Axt verfehlt meinen Schädel nur um Zentimeter. Die Schneide frisst sich tief in die Wand. Zu tief für den Fremden. Zornig zerrt und ruckelt er am Griff, hat aber kein Glück.
„Eine Unverschämtheit!“, schimpfe ich und trete den Rückweg an. „Glauben Sie mir, davon werde ich Ihre Vorgesetzen in Kenntnis setzen!“
Meine Worte sind noch nicht verklungen, da gelingt es ihm, die Axt wieder frei zu bekommen. Er zeigt damit in meine Richtung.
„Und lernen Sie gefälligst mal unsere Sprache!“, rufe ich, bevor ich ins Treppenhaus zurückweiche. Jedoch nicht, bevor die überprüften Berichte im ERLEDIGT-Korb landen, direkt neben dem Kopierer.
****
Unglaublich, einfach UNGLAUBLICH … Die Episode mit dem Rüpel von vorhin steckt mir noch ziemlich in den Knochen, als ich unten ankomme. Noch immer ist der Platz am Empfang vakant und auch sonst ist keiner zu sehen. Die Glassplitter knirschen erneut unter mir, als ich nach draußen trete. Und noch immer kriege ich diesen ungehobelten Asozialen nicht aus dem Kopf. Mir sind schon so manche komischen Vögel begegnet. Besonders als ich noch ein Jungspund und überwiegend im Außendienst unterwegs gewesen war. Aber so was? Nein. Das gerade eben war in der Tat eine Premiere. Selbst mein Nachbar Norbert ist dagegen ein Waisenknabe!
Na ja. Höchstwahrscheinlich werde ich diesen Kretin niemals wieder zu Gesicht bekommen. Aber mein Versprechen an ihn – das werde ich erfüllen. Gleich am Montag werde ich mich an Seegers vom Vorstand wenden und ihm alles erzählen. Solche Menschen kann man doch nicht einfach ungeschoren und unbehelligt herumlaufen lassen!
Irgendwie hat mir die ganze Sache meine gute Laune vermiest. Und zu allem Übel fängt jetzt auch noch mein Kopf wieder zu jucken an …
Wie geht dieser Spruch noch? Die bösen Dinge passieren immer dreifach?
Im gleichen Moment, als ich mich meinem Honda zuwenden will, erhält der Spruch seine Bestätigung. Etwas Großes, Schweres stürzt direkt vor mir in die Tiefe – und landet frontal auf dem Wagendach. Die Wucht des Einschlags drückt den ganzen Wagen zusammen, bis er schließlich an zerknüllte Alufolie erinnert. Ich bin … entsetzt, schockiert, überrascht, erstaunt, keine Ahnung, was … Schockgefrostet ist vielleicht eine gute Beschreibung. Ich mag ein unverbesserlicher Pessimist sein, aber damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Wen wundert’s? Ich meine, das Letzte, was man erwartet, ist, das irgendetwas aus heiterem Himmel zu Boden stürzt und deine Karre zu Schrott verarbeitet. Meine Herren.
Und am allerwenigsten … am allerwenigsten erwartet man, das es sich bei jenem Etwas um einen Menschen handelt.
Hm, lustig. Er hält noch immer die Axt in seiner Hand. Na so was.
****
Nie ist ein Taxi da, wenn man eins braucht. Dabei stehe ich doch direkt an der Rheinvorlandstraße. Hier ist doch eigentlich immer was los: LKWs, PKWs, Taxis, Busse …
Busse. Warum bin ich nicht gleich drauf gekommen?
Fragt sich nur, wo die nächste Haltestelle ist. Vielleicht beim alten Eisstadion? Bestimmt. Ist ja ein Knotenpunkt mit dem Gericht und der Unibibliothek daneben. Ja, dort halten garantiert Busse. Vielleicht nicht so oft, weil heute Samstag ist. Aber sie halten. Hundertpro.
Es ist nicht weit. Vielleicht ein Kilometer. Ein Klacks.
Aus irgendeinem Grund kommt mir dieser Teil der Stadt heute besonders komisch vor. Verwahrloster. Ausgestorbener. Selbst für einen Samstag. Ist bestimmt nur Einbildung. Kathrin sagt ja auch immer, dass ich gerne aus einer Maus einen Elefanten mache. Ich denke, sie hat Recht. Sind bestimmt nur die Nerven.
Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Verfolgt.
Ich bleibe stehen. Warte. Blicke über die Schulter. Und tatsächlich.
Der Köter sieht ziemlich verwahrlost aus. Verfilztes Fell. Spindeldürr. Die Rasse? Keine Ahnung. Könnte ein Retriever sein. Auf jeden Fall sieht er mich zornig an. Angriffslustig. Als er sein Gebiss zeigt und zu knurren beginnt, weiß ich, dass er’s ernst meint.
Todernst.
Trotz seines abgemagerten Körpers prescht der Hund vor wie eine abgefeuerte Kanonenkugel. Scheiße!, hallt es durch meinen Verstand. Stehen bleiben ist nicht. Nur die Flucht nach vorne. Ich nehme die Beine in die Hand und renne, was das Zeug hält. Schon kurz darauf wird mir klar, was Kathrin gemeint hatte, als sie sagte, dass ich nicht in Form sei. Das Pochen und Kribbeln beginnt ganz unten. Dann steigert es sich, bis meine Füße in Flammen stehen. Dann der Unterleib. Dann der Oberkörper. Ich werde langsamer. Atme rasselnd. Bunte Sterne blühen vor meinen Augen auf. In meiner Kehle breitet sich ein metallischer Geschmack aus. Jetzt renne ich nicht mehr. Ich torkele. Mit zusammengekniffenen Augen hetze ich einfach weiter. Ich werde es nicht schaffen. Ich –
Etwas rammt meine Seite und bringt mich endgültig aus dem Gleichgewicht. Hart schlage ich auf dem Gehweg auf. Aus dem Augenwinkel bemerke ich einen übervollen Papierkorb. Das muss der Übeltäter gewesen sein. Der rechteckige Körper aus verzinktem Edelstahl vibriert noch immer.
Jetzt erlaube ich mir doch einen Blick zurück. Und wie erwartet, ist es keine schöne Aussicht. Mich trennen keine zehn Meter mehr. Der Köter hat mich gleich erreicht. Und was er dann mit mir anstellt, kann ich mir zwar vorstellen, will es aber nicht. Mein Kopf ruckt wieder nach vorne. Ich liege direkt vor der kleinen Unterführung, die unter der Hochstraße entlang führt. Gleich dahinter ist der kleine Park, dem sich das Eisstadion anschließt. So nah. Und doch so fern. Ich kneife die Augen zusammen. Halte den Atem an. Wappne mich vor den unmittelbar bevorstehenden Schmerzen.
Als etwas meine Hände ergreift, schreie ich auf. So fühlen sich keine Hundekrallen an, überkommt es mich. Und auch keine Hundezähne. Was aber ist es dann?
Ich schlage die Augen auf. Blicke nach oben. Es ist nicht der Köter. Es ist ein Mensch. Allerdings ist er in dem gleichen verlotterten Zustand wie der Vierbeiner. Knurrend zerrt er mich ins Halbdunkel der Unterführung. Lässt mich einfach dort liegen. Was zum …?
Dann geht es ganz schnell. Lautes Gebell. Hässliches Fletschen. Ein dumpfer Schlag. Und noch einer. Und noch einer. Jaulen. Ein Reißen. Schließlich – Schritte.
Mein Retter kehrt zurück. Den Köter lässt er zurück. Er rührt sich nicht mehr. Seine Seite ist aufgeschlitzt. Dunkelrotes Blut strömt daraus hervor und breitet sich unter dem Tier aus. Dampfschwaden steigen in die Höhe.
Meine Augen weiten sich, als ich das Teppichmesser in der blutbesudelten Hand des Verwahrlosten erblicke. Bevor ich etwas sagen kann – irgendwas, zum Beispiel Tun Sie mir nichts oder Ich gebe Ihnen mein ganzes Geld – packt mich der Mann mit seinem schraubstockartigen Griff und zerrt mich tiefer in die Unterführung hinein. Dann lässt er meine Hände los, doch bevor ich etwas machen kann, hat er mich schon an der Kehle gepackt und reißt mich nach hinten. Ein dumpfer Knall begleitet den Aufprall meines Rückens gegen die Wand. Das Messer in der Hand des Mannes sagt alles.
„Keinen Mucks!“, zischt er. „Keine Bewegung!“ Er hat keine Zähne mehr. Sein Zahnfleisch ist grau. Er tastet mich ab. Ungeduldig. Bis ihm klar wird, dass es bei mir nicht viel zu holen gibt.
„Du hast ja gar nix!“, schreit er zornig. Dann lächelt er. Die Risse auf seinen Lippen verbreitern sich und sondern eine helle Flüssigkeit ab. Eklig. „Spielt aber keine Rolle. Und jetzt … rühr dich bloß nicht!“ Warnend hebt er das Teppichmesser in die Höhe. „Wir können es auf die harte oder die sanfte Tour machen. Ganz schnell oder quälend langsam. Also?“
Ich schlucke. Versuche, mich zusammenzureißen. „Was wollen Sie von mir?“, frage ich. Ganz langsam. So ruhig wie möglich. „Wollen Sie Geld? Ich gebe Ihnen alles, was ich dabei habe.“ Jetzt hab ich es also doch gesagt. Irgendwie halte ich plötzlich meine Brieftasche in Händen. Zitternd klappe ich sie auf. Werfe ihm die Scheine entgegen. Sie flattern zu Boden, einer nach dem anderen. „Bitte! Hier, hier und hier!“ Ich merke, wie meine Angst einer immer unbändiger werdenden Furcht weicht. Schließlich leere ich auch noch das Münzfach. Der Inhalt gesellt sich klimpernd zu den Geldscheinen. „Aber eines kann ich Ihnen garantieren, Herr Obdachloser! Glücklich wird Sie das Geld bestimmt nicht machen! Wozu wollen Sie es denn ausgeben, hm? Für billigen Fusel aus der Tanke? Für Drogen? Ich hab Recht, stimmt’s? Natürlich stimmt es. Hören Sie – warum suchen Sie nicht die Bahnhofsmission auf? Oder eine andere soziale Einrichtung? Dort gibt es warmes Essen. Dort kann Ihnen geholfen werden! Seien Sie doch kein Idiot!“
Der Verwahrloste glotzt mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. „Häh?“
„Lassen Sie mich einfach gehen“, erwidere ich. „Stürzen Sie sich nicht noch tiefer ins Unglück.“ Für einen Moment beäugen wir uns wie zwei Duellanten in einem Western. Bis mir der endgültig der Kragen platzt: „Scheiße, hast du Sie noch alle? Ich habe eine Familie, du Wichser! Frau und Kinder!“
„Noch besser! Die kommen danach an die Reihe!“
Er will sich auf mich springen. Reflexartig trete ich zu. Meine Schuhspitze erwischt den Penner genau dort, wo es richtig wehtut. Er reißt die Augen auf. Kippt zur Seite. Hält sich den Schritt. „Du … miese … Drecksau“, keucht er.Ich stemme mich von der Wand ab. Trete über den Obdachlosen. Er hält mich nicht auf. Ich muss husten. Spucke Blut aus. Ist bestimmt ein geplatztes Lungenbläschen oder so.
„ … Frischfleisch … ist mir entkommen … haltet euch bereit … er ist in Kürze bei euch!“
Wieder im Freien, drehe ich mich ein letztes Mal zu ihm um. „Kein Mitleid!“, schreie ich. „Ich werde die Polizei anrufen – und dann werden Sie sehen, was Sie davon haben! So!“
Ohne die Antwort abzuwarten, gehe ich weiter.
****
Gott, was für ein trauriger Anblick. Ich weiß ja, dass die Stadtväter kaum Geld haben. Aber muss man deshalb den Friedrichspark so verkommen lassen? Bestimmt nicht. Möchte gerne wissen, wann hier zum letzten Mal etwas gemacht wurde. Bewässerung. Rasenpflege. Solche Sachen. Die Bäume sehen aus wie abgestorben. Die Rinden sind grau. Kein Blatt auf den Ästen. So traurig. Die Rasenflächen sind dunkelbraun. Keine Spur von Grün. Und zu allem Übel türmt sich hier der Müll. Unrat, wohin man blickt. Hat die Stadt jetzt etwa auch kein Geld mehr für die Müllabfuhr? Ich denke, dass ich denen mal einen Brief schreiben sollte. Oder noch besser: einen erzürnten Leserbrief an die Zeitung schicken. So kann es doch nicht weitergehen!
Mein Gedankenfluss wird von einem ziemlich profanen Bedürfnis unterbrochen. Einem immer stärker werdenden Drang. Ich muss pinkeln. Hoffentlich erwischt mich keiner. Andererseits – was macht es schon? Auf Zehenspitzen stehle ich mich zum nächsten Baum. Ein finaler Rundumblick – keiner da. Sehr gut. Ungeduldig öffne ich den Reißverschluss. Lasse es einfach laufen. Aaahhh …!
Zu meinem Leidwesen besitzt mein Urin eine ungewöhnliche Farbe. Rotbraun. Wie Blut. Ich pinkle Blut? Kommt bestimmt von dem Sturz. Was sollte es denn sonst sein? Bis auf ein paar kleine Zipperlein bin ich doch kerngesund. Kein Grund zur Panik.
„Hey, was machst’n da? Verschwendest gute Flüssigkeit!“
Himmel, hat der Typ mich erschreckt. Wegen dem habe ich mir jetzt auf die Hand gepinkelt. Rasch packe ich alles wieder ein. Noch ein Obdachloser. Ist vielleicht ein Kumpel von dem Irren. Ganz bestimmt ist er dass.
„Hören Sie, lassen Sie mich in Frieden, okay?“ Ich weiche einen Schritt zurück. „Ich habe es bereits Ihrem Kompagnon gesagt: Mich auszurauben bringt nichts!“
„Häh? Wer hat’n was von ausrauben gesagt?“ Der Mann kratzt sich am Kopf. Zwischen seinen Fingern kleben fettige Haarsträhnen. Irgendwas krabbelt darin rum. Ja, so was passiert, wenn man sich nicht um seinen Körper kümmert.
„Auspressen! Das will ich mit dir machen!“
Ich mache den nächsten Schritt. „Entschuldigung?“
„Du weißt schon – dein Blut, deine Pisse … und danach kommt der Rest dran.“ Er grinst mich an. Wieder keine Zähne. Wieder der abstoßende Anblick von teigig-grauem Zahnfleisch.
„Hören Sie – es tut mir leid, dass ich mit Ihrem Jargon nicht vertraut bin. Trotzdem rate ich Ihnen nochmals, von mir abzulassen. Das führt zu nichts!“ Ich zeige mit dem Daumen über meiner Schulter. „Ihren Freund, den werde ich der Polizei melden. Aber wenn Sie von mir ablassen, garantiere ich Ihnen, Sie mit keinem Wort zu erwähnen?“
„Häh? Polizei? Welche Polizei denn? Halt endlich still, damit – „
Es geschieht ganz schnell. Steht der Obdachlose im ersten Moment noch vor mir, ist er im nächsten verschwunden. Besser gesagt: begraben. Unter einer Lawine von pelzigen Vierbeinern. Es müssen mindestens ein Dutzend Köter sein. Er kreischt und schlägt um sich, hat aber keine Chance gegen die Übermacht. Und ich kann nichts dagegen machen. Hab ja auch kein Handy dabei. Aber dieser unerwartete Angriff der streunenden Hunde kam nicht von ungefähr. Der ganze Müll hat sie hergelockt. Mit fatalen Konsequenzen.
So lange die Meute beschäftigt ist, ziehe ich es aber vor, von hier zu verschwinden. Im Laufschritt durchquere ich den Park. Niemand stellt sich mir in den Weg. Kein Mensch, kein Tier. Ich passiere das alte Eisstadion. Das Dach ist eingestürzt und hat die Eisfläche und einen Teil der Ränge unter sich begraben. Wusste gar nicht, dass das Stadion abgerissen werden soll. Schade. Damit verschwindet ein weiteres Wahrzeichen der Stadt.
Endlich habe ich die Hauptstraße erreicht. Nirgendwo steht ein Taxi. Und von einer Haltstelle fehlt jede Spur. Ganz zu schweigen von anderen Autos. Oder Menschen. Ist verdammt ruhig. Selbst für einen Samstag.
Weiter vorne, beim Gericht, vielleicht. Ich will mich gerade auf den Weg machen, als neben mir ein ramponierter VW Golf quietschend zum Stehen kommt. Die Hintertür wird aufgerissen. Zwei Typen springen raus und zerren mich in den Wagen.
„Das ist aber nett von Ihnen“, bedanke ich mich, nachdem ich Platz genommen habe. Zwischen den beiden Kerlen ist es zwar ein wenig eng, aber ich möchte nicht kleinlich wirken. Es gibt also doch noch hilfsbereite Menschen.
„Halt’s Maul. Oder ich schlitze dich gleich hier auf.“ Der Linke presst mir einen Flaschenhals unters Kinn. Der Rechte irgendwas Spitzes in die Seite.
„Wehr dich nicht“, haucht der Fremde. Sein Mundgeruch ist furchtbar. Es mag ein wenig unfreundlich erscheinen, aber bei Menschen mit ausgeprägtem schlechtem Atem muss ich einfach etwas sagen. Es gibt nicht viel Schlimmeres als Mundgeruch. Und außerdem weiß die betreffende Person selten davon. Ich tue also nur ein gutes Werk.
„Sie sollten mal ein Rachengold nehmen“, entgegne ich. „Oder ein Kaugummi. Und Zähneputzen. Mit solch einem Mundgeruch“, ich erhebe den Zeigefinger, „machen Sie sich keine Freunde!“
„Was soll der Mist? Hast du Sie noch alle? Soll ich dich gleich hier und jetzt in Scheiben schneiden? Willst du das? Hm? Hm?“
„Bitte. Es besteht kein Anlass für Feindseligkeit. Meine Bemerkung mag Ihnen ein wenig ruppig vorgekommen sein, aber Sie werden es mir noch danken. Glauben Sie mir!“
„Der Typ ist völlig plemplem“, bemerkt der Rechte und wischt mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Dann lacht er. Der andere stimmt mit ein.
Dann beugt sich der Rechte vor. Er stinkt auch aus dem Mund. Noch schlimmer sogar. Ich sage aber diesmal nichts. Wer weiß, wie empfindlich der ist.
„Wenn du glaubst, dass du mit der Tour verschont bleibst, dann irrst du dich. Ich habe dich nämlich längst durchschaut.“
Ach das meint er! „Keine Sorge, mein Herr – ich werde Sie für den Aufwand entschädigen. Ist doch selbstverständlich. Sobald wir bei mir angekommen sind, werde ich – „
„Es reicht!“ Der Linke drückt fester zu. Das Glas bohrt sich in meine Haut. Blut fließt. Dabei fällt mir an dem Mann etwas auf. „Sie leiden ja auch unter dieser äußerst aggressiven Form der Schuppenflechte! Und ich dachte die ganze Zeit über, dass es nur mir so ginge! Dürfte ich fragen, womit Sie sie behandeln?“
Er blinzelt mich an. „Wie kommst’n jetzt auf Schuppenflechte! Biste bescheuert? Die Scheiß Eiterpickel sind von der Strahlung!“
„Strahlung? Welche Strahlung? Ich weiß wirklich nicht, wovon – „
Dann geht mein Satz in einem Lärminferno unter. Quietschende Reifen, ächzendes Metall. Gemeinsam mit den anderen Insassen werde ich nach vorne gerissen. Dann wieder zurück. Mein Kopf schlägt gegen das Wagendach.
****
Mir brummt der Schädel, als ich wieder zu mir komme. Ich sitze noch immer im Auto. Verzeihung – ich liege. Über mir ist das Wagendach. Von den freundlichen Männern fehlt jede Spur. Es riecht verbrannt. Ganz in der Nähe knistert ein Feuer. Ich sollte wohl besser aussteigen. Das ist leichter gesagt als getan. Denn sobald ich mich aufgerichtet habe, wird mir schwindlig. Alles dreht sich. Mir wird übel. Tief durchatmen, ermahne ich mich. Langsam ein, langsam aus. Schon besser. Ich krieche über den Hintersitz. Greife nach dem Türgriff. Prompt schwingt die Tür auf und befördert mich nach draußen. Mein Gesicht landet auf kratzigem Asphalt. Schließlich zerre ich mich vollständig nach draußen. Stemme mich am Wagen in die Höhe. Von den anderen fehlt jede Spur.
Komisch. Noch immer leicht benommen, stakse ich zur Motorhaube. Sieht übel aus. Ein Riesenloch prangt in der Kühlerhaube. Schlimm. Tja, selbst Schuld. Ich sage immer: Rasen bringt nichts. Die dunklen Rauchschwaden, die unablässig aus dem Loch quellen, rauben mir den Atem. Darum nichts wie weg. Teufel aber auch. Der Qualm ist so dicht, dass ich nicht mal meine Umgebung erkennen kann. Außerdem brennt er in den Augen.
Unbeholfen gehe ich weiter. Mein Fuß bleibt irgendwo hängen und bevor ich es verhindern kann, stürze ich ein zweites Mal. Gerade rechtzeitig kann ich mich abstützen. Ich will mich wieder aufrichten, als mein Blick auf etwas am Boden fällt. Es ist der Rechte. Der leicht reizbare mit dem schlechten Atem. Er scheint mich anzusehen, rührt sich aber nicht. Sein Gesicht wirkt irgendwie überrascht. Armer Mann, denke ich.
Da packt etwas meinen Arm. Ich werde zur Seite gewirbelt.
„Ein Überlebender! Wir haben einen Überlebenden!“
Dann schleift mich der Mann mit sich. Raus aus dem Rauch. Jetzt erkenne ich auch meine Umgebung wieder besser. Wir sind in der Nähe des Hauptbahnhofs. Merkwürdig – da wird scheinbar auch gerade umgebaut. Und abgerissen. Was für eine Geldverschwendung. Die haben doch erst vor ein paar Jahren den Bahnhof erneuert. Hat doch wirklich was hergemacht. Kein Wunder, dass das Stadtsäckel leer ist. Auf jeden Fall sollten die sich mit den Arbeiten beeilen. Diese Ruine ist wirklich nicht schön.
Gleich vor der Einfahrt in die Tiefgarage herrscht reger Betrieb. Zwei Unimogs parken mitten auf der Straße. Mindestens ein Dutzend Leute wuseln umher. Sind komisch gekleidet. Dunkelgrüne Overalls aus PVC. Schutzmasken. Helme. Schwere Stiefel. Pistolen und Maschinengewehre. Haben die was mit der Entsorgung zu tun? Ach ne, jetzt fällt’s mir wieder ein. Hab davon in der Zeitung gelesen. Das ist die neue Ausrüstung der Polizei. Bestimmt machen die Kontrollen oder so was. Und wie man gesehen hat, nicht ohne Grund.
Ich werde wieder gepackt. Drei Gesichtslose fummeln an mir herum. Sogar im Gesicht. Und auf meinem Kopf. Sehr unangenehm.
„Leichte Nekrose.“ – „Offene Ulcera in der Schädelregion.“ – „Vier bis sechs Sievert, würde ich sagen.“
„Hören Sie, ich … ich habe nichts gemacht“, versuche ich mich zu wehren. „Diese Männer waren so freundlich, mich mitzunehmen. Das sie Verkehrsrowdys waren, konnte ich ja nicht ahnen.“
„Er halluziniert.“
„Was fällt Ihnen ein? Ich bin noch immer im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte!“
Einer der Männer tritt vor. Auf seinem Anzug steht ein Name: Stahl. „Beruhigen Sie sich“, sagt er. Falsch. Sagt sie. Wie man sich irren kann. „Ich werde Ihnen erst mal ein Mittel gegen – „
„Ein Beruhigungsmittel?“, empöre ich mich. „Das wäre ja noch schöner! Wollen Sie mich damit mundtot machen oder wie? Hören Sie – ich verlange, dass man mich zurück nach Hause bringt. Auf der Stelle!“
Stahl atmet durch. Damit hat sie wohl nicht gerechnet. Das sich ihr Opfer zur Wehr setzt. Schlimm, wie verkommen der Polizeiapparat ist. Traurig. „Ihr Zuhause“, sagt sie schließlich, „das … gibt es nicht mehr.“
Jetzt schlägt es aber 13! „Was soll das heißen, „das gibt es nicht mehr?“ Natürlich gibt es das noch! Meine Adresse lautet Dänischer Tisch Nummer 17 – und ich verlange, dass Sie mich auf der Stelle dort hinfahren! Sie wollen den Menschen helfen? Dann helfen Sie mir und bringen mich heim! Schließlich leben Sie auch von meinen Steuern, nicht wahr?“
„Also gut“, sagt Stahl einen Augenblick später. „Dann folgen Sie mir.“
Na also. Warum nicht gleich so?
****
Komische Stimmung hier drin. In dem Unimog. Kommt mir vor, als wären wir zu einer Beerdigung unterwegs. Keiner redet laut. Es wird nur geflüstert. Falls überhaupt. Die Polizisten oder Müllmänner oder was auch immer sie darstellen, tragen noch immer ihre sonderbaren Anzüge. Immer wieder wandert mein Blick zu dem Rechteck auf der anderen Seite. Ein kleines Fenster über den Köpfen der Männer. Vergittert. Nichts zu erkennen. Verdammt, wie lange dauert das denn noch? Wir müssten doch schon längst da sein. Ich will mich erheben und einen Blick nach draußen werfen. Doch gleich zwei behandschuhte Hände legen sich auf meine Schultern und zwängen mich zurück auf die Pritsche. Handschuhe. Lächerlich. Man könnte meinen, ich wäre krank. „Es gibt wirklich keinen Grund für diese übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen“, sage ich deshalb.
Und bekomme keine Antwort.
Wie erwartet. Kopfschüttelnd beuge ich mich vor. Lege den Kopf in meine Hände. Starre zu Boden. Etwas kitzelt in meinem Hals. Bringt mich zum Husten. Als ich ausspucke, landet dunkles Blut zwischen meinen Füßen.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigt sich Stahl, die mir gegenübersitzt. Sie hat eine schöne Stimme. Würde gerne mal ihr Gesicht sehen. Ihre Augen. Nicht nur diesen dunklen Visor.
„Ja, ja“, antworte ich und winke ab. „Das habe ich immer wieder mal. Kommt von den Polypen. Können Sie mir nicht sagen, wann wir endlich mein Haus erreicht haben? Meine Frau und meine Tochter sind bestimmt schon krank vor Sorge!“
Stahl bewegt sich – nur eine Winzigkeit –, dann verharrt sie. Sie wirkt unschlüssig. Ihr Anzug knistert, als sie rüber zur Fahrerkabine blickt.
„Ihr Zuhause … das gibt es nicht mehr“, bemerkt der Mann links von mir. Er hört auf den Namen Bernhardt. Zumindest steht das auf seinem Anzug. „Und was Ihre Familie betrifft – die sind längst tot. Keiner hält ungeschützt so lange aus.“
„Markus!“, empört sich Stahl.
„Was denn? Irgendwann muss er doch die Wahrheit erfahren! Hören Sie? Der Traum ist vorbei, willkommen in der echten Welt – oder was davon noch übrig ist. Sie glauben noch immer an ein Happy End? Dann will ich Ihnen mal was sagen: Es gibt keins. Nicht mehr.“
„Erreichen Sammelcamp Drei in circa fünf Minuten“, ertönt es aus der Fahrerkabine.
„Sammelcamp? Was für ein Sammelcamp?“ Diesmal springe ich auf. Keiner hält mich zurück. Weder Stahl noch Bernhardt noch eine der anderen vier Gestalten. „Was ist mit mir?“, rufe ich dem Fahrer zu. „Falls Sie meine Adresse vergessen haben sollten, sie lautet Dänischer Tisch Nummer 17, Ortsteil Rheinau – gleich neben dem Industriegebiet.“
Der Fahrer antwortet nicht. Mein Blick schweift zum Fenster. Draußen ziehen graue Felder vorbei. Seit wann dürfen die Felder wieder abgeflammt werden; so nahe an den Wohngebieten? Ist ja auch egal. Was zählt ist die Tatsache, dass ich die Gegend kenne. Wir befinden uns jetzt gut zwei Kilometer von meinem Haus entfernt.
„Ich weiß ja, dass Sie Ihre Befehle haben – aber diese Form der Willkür mache ich nicht mit! Ich steige aus!“
Entschlossen eile ich zur Tür hinüber. Prompt wird nach mir gegriffen. Arme legen sich um meine Brust. Hände zerren an meiner Kleidung. Da habt ihr mich aber noch nicht kämpfen gesehen! Ich erwehre mich meinen Angreifern und schaffe es, mit einem Tritt die Doppeltür aufzukriegen. Kalter Wind schlägt mir entgegen. Grauer Asphalt zieht vorbei. Diese Paragraphenreiter werden nicht anhalten. So viel steht fest. Und so bleibt mir nur eine Wahl.
Mit der Seite schlage ich auf der Straße auf. Der Aufprall treibt mir die Luft aus den Lungen – und Schmerz in meinen Körper. Nur sehr mühsam gelingt es mir, wieder aufzustehen. Ein Blick an mir hinab bestätigt meine schlimmsten Vermutungen. Meine Hose – zerrissen. Mein Hemd – zerrissen. Meine Jacke – zerrissen. Obendrein fühlt sich mein linker Arm komisch an. Ich hebe ihn ein wenig an. Da guckt irgendwas hervor. Weiß und spitz. Irgendwie kommt mir der Anblick bekannt vor.
Gut fünfzig Meter weiter hat der Unimog gestoppt. In der offenen Tür steht eine Gestalt.
„Kommen Sie!“ Es ist Stahl. „Es ist noch nicht zu spät!“
„Ich denke nicht daran!“, kontere ich. „So können Sie vielleicht mit anderen umspringen – aber nicht mit mir! Mit mir nicht!“
„Bitte!“
„Nein danke! Ich habe genug von Ihnen und Ihrer Bande!“
Stahl zögert einen Moment. Dann wird sie von einem Kollegen zurückgezogen. Die Hintertüren werden geschlossen. Der Unimog fährt weiter. Ich blicke ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen ist.
Es ist kalt. Es ist still.
Ich bin allein.
Allein? So ein Quatsch!
Zu Hause wartet meine Familie auf mich. Okay, wir hatten in letzter Zeit ein paar Schwierigkeiten, aber gibt es die nicht in jeder Familie? Ich liebe meine Frau und meine Tochter. Und sie lieben mich. Das ist das einzige, was zählt.
Hör schon auf, hör schon auf! Wem willst du hier was vormachen, hm? Hm?
Sei still! Sei still!
Sie sind alle tot! Alle! Deine Frau, deine Kinder, deine Freunde, deine Arbeitskollegen! Die Welt, wie du sie kanntest ist nur noch eine Erinnerung! Was geblieben ist, sind Irrsinn, Strahlung und der Tod.
„Ich will das nicht hören! ICH WILL DASS NICHT HÖREN!“, kreische ich und presse die Hände vor die Ohren. Ein neuer Hustenanfall überkommt mich. Noch schlimmer als der erste. Noch mehr Blut. Es raubt mir den Atem. Alles dreht sich. Ich fühle mich so schwach, so … benommen. Am besten, ich lege mich mal hin. Ja. Das ist schon besser.
Über mir ziehen dreckig-graue Wolken vorüber. Kein Zeichen von der Sonne.
Es gibt kein Happy End.
Meine Augen füllen sich mit Tränen.
Ich warte auf die Nacht.