Rona Walter

Error.

 

Wenn ich mir die Welt ansehe, greift mir der Würgereiz aggressiv in den Magen und wühlt darin, als wolle er eine Tombola rühren. All die Hektik, die selbstgemachten Probleme. All die Arroganz und die sturen Hierarchien, die selbsternannten besseren Menschen und der vermeintliche Abschaum. Niemals Zeit und noch weniger Aufmerksamkeit. Von Ignoranz gar nicht zu reden. Und von Egoismus. Der gute alte Feind des vor der Statistik eigentlich als gesittet geltenden Menschen.

Würde ich euch am liebsten meinen Hass mit einem High Five ins Gesicht drücken.

 

Der Wimmerer sitzt hier vor mir, die Hände an die Stuhlbeine gebunden. Muss unbequem sein, zumindest sind sie schon blau angelaufen. Genau wie seine Fußknöchel. Die Haare an Armen, Beinen und dem Torso stehen ab in der Kälte und er ähnelt im Gegenlicht meiner Industrieleuchte einer überdimensionalen Pusteblume.

Schon seit beinahe einer Stunde stehe ich hier, trinke meinen Tee – ich glaube, es ist etwas mit Orange, ich mag den Duft jedenfalls gern – betrachte den dicken jammernden Klotz mit dem spärlichen Haarkranz und der Socke im Mund. Der Gummiknebel mit dem einfachen Verschluss in speichelfestem königsblau kommt erst nächste Woche, daher muss ich leider noch etwas erfinderisch sein. Natürlich habe ich die Socke mit einem Spannseil befestigt. Die Haken eigneten sich hervorragend, um sie in der dicken Haut im Nacken zu verankern, wobei ich zu Beginn tatsächlich bangte, er würde einknicken. Viel zu früh. Doch er hat es geschafft, der Wimmerer, und sich tapfer geschlagen bisher. Dennoch muss ich nach dieser Tasse Tee beginnen. Allzu sehr möchte ich mein Glück und sein Durchhaltevermögen nicht herausfordern.

Der Tee ist ohnehin beinahe erkaltet in diesem eisigen Loch und so mache ich einen Schritt nach vorn. Es hallt viel zu laut, der Beton unter meinen Gummisohlen ein Verräter, der jeden meiner Schritte und ihre Richtung verraten. Ich halte nicht inne und genieße, wie der Wimmerer bei jedem Knall meiner Schritte zusammenzuckt. Und dann beginnt das unvermeidliche Rütteln und Ziehen, wofür ich ihn bewundere. Könnte ich nicht, mit dicken Stahldrähten in meiner aufgescheuerten Haut. Teilweise gräbt sich der Draht bereits in sein Fleisch, doch er quält sich weiterhin selbst, indem er sich an dem völlig Aussichtslosen versucht. Ich seufze und nehme eine bequeme Stehposition ein.

„Das hatten wir doch schon hinter uns“, tadle ich ihn. „Aber wenn Sie so weitermachen wollen, bitte. Es wird wohl noch ein Stumpf übrigbleiben, an dem ich Sie wieder festbinden kann.“

Ich mache einen großen Schritt, lege mein Gewicht ganz in diesen einen, damit es knallt wie von einem Pistolenschuss. Den ich natürlich nie abgeben könnte, ganz nebenbei. Ich bin doch kein Cowboy. Oder Barbar. Nein, meine Opfer haben stets ihre eigene Art zu gehen. Das ist ja wohl das mindeste.

Der Wimmerer ist still und ich höre kaum sein Atmen, wage aber nicht nachzusehen, ob er noch bei mir ist. Ich betrachte seine Brust. Sie hebt und senkt sich zaghaft, so als wolle er ihre verräterischen Bewegungen unterbinden. Rasch stelle ich meine Teetasse auf den Boden und gehe dicht an ihm vorbei. Er zuckt kurz, bleibt aber Gott- oder wen auch immer -Lob still. Ich hole den alten Karton aus der Ecke und fühle den dünnen Boden. Anscheinend muss ich mir morgen doch die Plastikkiste von IKEA holen. Heute wird diese hier noch ihren Zweck erfüllen.

„Wissen Sie“, beginne ich entspannt und lasse mich zu seinen Füßen nieder, den Karton zwischen uns. „dieses Spiel hier, das ihr alle von Tag zu Tag so pragmatisch spielt, ist unter uns gesagt doch schon ein wenig beschissen, nicht? Ich meine, geile Grafik, aber stupider Spielverlauf. Das müssen Sie doch wirklich zugeben.“

Ich wühle ein wenig im Bauch des Kartons und beobachte, wie dem Wimmerer der Schweiß aus allen Öffnungen rinnt.

Und er wimmert erneut.

„Passen Sie nun genau auf was ich Ihnen erzähle. Sie werden es verstehen, das weiß ich. Und wenn Sie könnten würden sich während meiner Geschichte erschrocken an die Brust fassen und danach wieder vergessen. Auch das ist klar. Aber verstehen werden Sie nichts. Gar nichts. Sie würden, wenn Sie könnten, sich wenige Sekunden hiernach wieder Ihrem gewohnt kleingeisteigenen Leben widmen, als wäre nie etwas geschehen. Aber hey, das tut es ja auch nicht.“

 

Ich entnehme dem Karton einige Kleinigkeiten, die ich mir kürzlich vom Ausverkauf beim Baumarkt mitgenommen habe. Nettes Zeug lag da herum, obwohl ich keine Ahnung hatte, was genau ich da eigentlich in meinen Wagen fallen ließ. Informiert habe ich mich natürlich trotzdem. Alles mit den Schlagworten „abkneifen“, „abdrehen“, „weiten“, „zerlegen“, „abfeilen“, „entzwei sägen“, „durchbohren“ klang äußerst spannend. Ich bezahlte alles und ließ mir zudem eine kurze Anleitung mitgeben, was später die Pflege angehen sollte.

Ich nehme eine kleine Sichel in die Hand, lege sie auf den Betonboden. Sie singt einen Augenblick lang und bevor der Wimmerer die besinnliche Stimmung zunichtemachen kann, erzähle ich ihm etwas, das mir gerade in den Sinn kommt.

„Ein … Freund – sofern man heute noch reale Freunde hat – schickte mir auf facebook neulich einen netten Spruch, den ich hier gern mit Ihnen teilen möchte. Nur damit Sie wissen, was auf Sie zukommt: Wäre Fantasy realistisch, wäre Realität fantastisch. Ganz nett, oder? Vielleicht erklärt es, warum der Mensch immer weiter und weiter macht mit seinem stoischen Leben. Wie eine Maschine. Weiter in allem, dem verhassten Job, der langweilig gewordenen Familie, den unechten Bekanntschaften – obwohl er genau weiß, dass es doch falsch ist! Und obwohl er immer und wirklich immer die Chance hat, aus diesem Hamsterrad der Moderne auszusteigen. Seinen Selbstzerstörungstrieb zu unterbrechen.

Dennoch tut er es nie. Warum? Nun, warum schon die Seele retten, wenn der Status darunter leidet – was er dann ja zwangsläufig täte. Eine um ihre Existenz kreischende ausgebrannte Seele wird ohnehin überschätzt. Schließlich hat die noch niemanden irgendwohin gebracht.“

Ich stehe auf, da mein Hintern bereits eiskalt ist und lockere meine Krawatte ein wenig. Der Wimmerer wird unruhig, als ich nicht mehr weiterspreche. Er lauscht, horcht angestrengt, schnüffelt sogar, doch er kann mich nicht ausmachen. Wie ein Geist in seinem Gehirn bin ich für den Augenblick verschwunden. Vorsichtig nehme ich eine kleine Zange aus dem Karton, so eine, mit der man kleine Stöckchen zerknipst, Sie wissen schon, welche ich meine. Ich nähere mich damit einem seiner Füße. Halte das kalte Metall an den kleinen Zeh und entferne ihn schnell und überraschenderweise ohne große Mühe.

„Nicht in das größere Büro, “ Der Wimmerer hat sich entschieden zu schreien, soweit es sein Knebel zulässt. Ich höre kaum mehr als ein gedämpftes Brummen. Ob der Gummiknebel mir ebenso gute Dienste erweisen wird, ist fraglich, zur Sicherheit werde ich meine eigenen Kreation behalten. Bisher hat sie ihren Job doch gut gemacht. Da ich schon einmal hier neben seinem kaum blutenden Fuß kauere, lege ich die Zange an seinem nächsten Zeh an. Noch passt die Weite des Kneifers ganz tadellos.

„Auch nicht in den Sessel des Vizechefs.“ Wieder brüllt er, als auch der nächste krumme Zeh seinem Vorgänger folgt. Vorgänger, fällt mir auf. Wir sind doch alle nur Nachfolger der Nachfolger. Ist das nicht ein bisschen wenig für einen Lebensinhalt?

„Wissen Sie eigentlich, dass Geld und Status das Fegefeuer des neuen Jahrhunderts sind? Sicher nicht, aber darum sage ich es Ihnen jetzt.“

Der Wimmerer atmet wieder ruhiger, wenn auch ein Rasseln in seiner Brust mir ein wenig Sorge bereitet. Er legt den Kopf in den Nacken. Ich sehe, wie dünne Blutfäden aus den Wunden am seinem Nacken treten, doch die Haken der Spannseile halten. Gut, dass ich die teureren genommen habe. Ich lege eine Hand auf seinen nass geschwitzten Arm.

„Bitte, bemühen Sie sich nicht unter Ihren Augenlidern hindurch zu blinzeln. Sie sind ohnehin fest zugeklebt. Nur eine Vorsichtsmaßnahme, dass Sie unseren Spielplatz hier nicht wiederfinden, für den Fall dass Sie Ihre Lektion lernen und ich Sie doch noch gehen lassen kann.“

Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. Im Übrigen ist es ohnehin sinnlos gewesen, ihm die Augen zuzukleben, denn selbst wenn er mich sehen würde, könnte er mich nicht zuordnen. Immerhin hatte ich gerade mal drei Jahre für ihn gearbeitet.

„In Ihrem Viertel gibt es übrigens einen recht guten Orthopäden. Nur für den Fall“, erkläre ich ihm und der dritte Zeh folgt seinen Brüdern. Er klingt wie ein verstopftes Rohr, dem alles wieder hochkommt. Die Zange passt nun wirklich nicht mehr um einen weiteren und ich hebe die Sichel vom Boden auf. Aus irgendeinem Grund schwitze ich. Ich öffne meine Weste und lege Sie beiseite.

„Vielleicht wären Sie aber auch froh, mit dieser … Welt … dort draußen nichts mehr zu tun haben zu müssen. Sehen Sie sich doch an, zu welcher Farce sie nach und nach geworden ist, je mehr Zeit man ihr gibt, um zu existieren und sich weiter zu entwickeln. Anzugaffen wie Sie, die sich mit ihren hübschen Abfindungs-Milliönchen einen schönen Lebensabend auf einer Südseeinsel und mit einer falschen Schönheit im illegalen Alter machen könnten und es sich dennoch nicht nehmen lassen, den Staat um ein paar Pfund zu bescheißen.“

Der Wimmerer atmet nun wieder ruhiger und ich hasse ihr dafür. Noch mehr beinahe, als ich ihn je im Büro hasste, den Big Boss, der alle anderen zu einer Farce von Untergebenen degradiert. Legale Sklavenhaltung würde ich es nennen. Aber das steht einem ja die allseits trendige und aufgesetzte political correctness im Wege. Wie ein Panter schleiche ich um ihn herum. Setze eine leise Sohle vor die andere ohne dass mich das Quietschen des Gummis verrät. Ich mag Gummi. Hielt es schon immer für eine feine Sache.

„Sie schlafen nachts sicher ganz wunderbar. Und Ihrem Spiegelbild können Sie sicher auch ganz ungeniert jeden Tag wieder in die Augen blicken. Glückwunsch.“

Ich klopfe ihm auf die Schulter. Sie ist nass und ich wische mir die Hand an meiner Anzughose ab.

„Dennoch – fühlen Sie sich wirklich wohl in Ihrer Haut? Ich meine, sind Sie glücklich mit Ihrem … nennen wir es einmal Leben?“

So gut es die Haken zulassen, schüttelt er den Kopf. Wir sind also bei der Kooperation und dem Verständnis angelangt. Ging sichtlich schneller diesmal. Entweder ich werde besser, oder die feinere Luft in den höheren Etagen macht auch dünnhäutiger. Jedenfalls fühle ich mich gerade etwas hintergangen und kann auch nicht vermeiden, dass ich etwas gelangweilt bin.

„Was sind schon die paar Scheinchen, die Sie regelmäßig durch Ihre sinnfreien Entscheidungen in den Sand setzen? Von den Brücken springen dann sowieso diejenigen, die dann mit dem Verlust ihres Jobs ihre vermeintliche Würde und auch noch ihre gesellschaftliche Position verlieren. Ja, ich kenne mich in der Branche aus, glauben Sie mir. Leidtragend sind Sie persönlich aber ja ohnehin nicht – das übernehmen niedere Menschen. Genau wie die Verantwortung in dem Fall, dass Sie es wieder mal verkackt haben. Stimmt‘s?“

Wieder schüttelt er den Kopf, noch nicht panisch genug für meinen Geschmack. Langsam werde ich wütend, denn er ist sich des Ernstes der Lage wohl doch nicht so bewusst, wie ich dachte. Ich lege die Sichel an seinem nach hinten gedrehten Unterarm an und drücke sie ein wenig in seine Haut. Dann drücke ich das scharfe Metall nach unten. Er windet sich, als eine schmale Bahn haariger fahler Stubenhockerhaut ringelnd zu Boden fällt. Also ist doch noch genug Kraft in ihm, um seine Lektion zu lernen. Seine Aufmerksamkeit habe ich zumindest wieder. Ungeteilt.

„Ich bewundere Ihre Kälte und Unantastbarkeit wirklich sehr. Sie zum Beispiel ist etwas, das uns verbindet. Auf unterschiedliche Weise, nur, was stimmt an Ihnen nicht?

Ich lege den Kopf fragend schief, doch er kann mich ja nicht sehen durch all den Kleber auf seinen Augen. Im Kopf gehe ich das Viertelverzeichnis nach einem Hautspezialisten durch.

„Ich frage mich, was übrig bleibt, wenn man – in diesem Fall ich – Geld und Status von jemandem wie Ihnen subtrahiert. Was denken Sie?“

Der Wimmerer beginnt, wieder heftiger zu atmen, so dass sich seine Brust hebt und senkt wie ein selbstaufblasbares Schlauchboot. Ich nehme den Zipfel meiner Krawatte und wische damit die Haarreste von der Sichelschneide.

„Na, wir haben noch ein wenig Zeit, um das herauszufinden. Und passen Sie auf Ihr Herz auf, so wie Sie atmen … obwohl der Infarkt ja ohnehin eher früher als später auf Sie zukommt. Wissen Sie, woran ich gerade denke? Wie zum Henker schafft es das System, immer weiter zu funktionieren? Tag für Tag für Tag? Weiter, weiter und weiter. Ist es nicht Beweis genug, dass unser Körper vorher irgendwann kapituliert? Dass er aufgibt, sich sozusagen zu Tode arbeitet? Nun, in Ihrem Fall eher nicht, das ist klar. Aber das System überlebt uns alle. Und das wissen Sie auch. Maschinen wie Sie und Ihre Untergebenen fallen in sich zusammen wie instabile Kartenhäuser sobald man ihnen ihre Lieblingsbeschäftigung nimmt. Nämlich die Stagnation. Eigentlich erstaunlich, dass es überhaupt funktionieren kann!“

Als sich sein Atmen beruhigt, lege ich die kalte Schneide direkt neben dem rötlichen Fleisch auf seinem Unterarm an.

„Alle sind so in ihrer Routine, dass Sie wahrscheinlich längst auch vergessen haben, nach dem Warum zu fragen. Viel, noch mehr, weiter, höher, das alles noch vor dem Abendessen und schneller bis zum Kollaps. Aber Sie kennen die Welt ja, sind ja alt genug.

Wie alt sind Sie denn? Na egal … wenn Sie es nur wissen, reicht mir das. Sie sind sicher schon sechzig. Mindestens. Egal. Schauen Sie, ich finde die Welt unnatürlich. Und die Menschen, die sie lange schon zu dem gemacht haben, was sie nun geworden ist, noch mehr. Sie ist wie einer dieser Androide oder der Terminator. Der Böse, nicht Arnie. Oder: ein Vampir auf Energiebasis. Passt sowieso viel besser. Wenn auch ein besonders fetter.“

Ich betrachte seinen Bauch, der den Draht bereits verinnerlicht hat. Zumindest kann ich ihn von hier aus nicht sehen. Ich drücke die Sichel an die Haut und genieße sein erregtes Atmen, bevor ich mit einem Ruck die nächste Hautbahn von seinem Arm schäle.

„Der alltägliche Verlauf der Welt. Eine besonders schöne Art von Nonsens, nicht?“ flüstere ich schwärmerisch in sein Ohr. „Fühlen Sie jetzt wieder, dass Sie noch leben?“

Sein Nicken ist mir zu schwach und ich assoziiere, dass er wieder seinen eigenen Gedanken nachhängt, statt mir zu folgen. Dabei ist es so wichtig, was ich ihm versuche, mitzuteilen. Ich rücke ihn auf seinem Stuhl so herum, dass der Industriestrahler mir im Rücken steht. So könnte er zumindest meine Silhouette erkennen.

„Sie fragen sich sicher, was Sie hier sollen und wie lange Sie das noch sollen?

Was dieser Psycho hier wohl von Ihnen will. Nun, was Sie über mich denken, verletzt mich nicht. Ich kenne schließlich die Wahrheit, Sie glauben, sie nur zu kennen und wir alle sind zufrieden. Und was ich von Ihnen will … ich will Sie nicht foltern, das ist natürlich nur ein Bonus für mich.“

Er hebt den Kopf, legt ihn in den Nacken, es scheint fast so, als betrachte er mich tatsächlich. Und ich weiß, dass er mich hier, als Umriss durch zugeklebte Augenlider besser sieht, als er es je dort draußen tat. Fast bin ich ein wenig gerührt.

„Auch ob Sie verstehen ist mir gleich – nein! Sie sollen ein Beispiel sein, ein Exempel für die dort draußen, die immer noch in ihrem Trott sind. Die den Abspann wieder nicht sehen, weil sie nach der letzten Szene des Films gehetzt den Saal verlassen müssen um sich mittels ihrer elenden Smartphones als Nabelschur zur Welt zu vernetzen, dem sie nun für zwei unendlich lange Stunden entrissen waren und in dem sie ihr ganzes kümmerliches Leben gespeichert haben.“ Ich muss mich beherrschen, denn der Hass auf die Menschen, den ich für die vergangenen Momente ausblenden konnte, im Leid meines Chefs, kehrt zurück. Ich sehe in sein Gesicht und durch meine Tränen sehe ich einen verwischten Mund, blinde Augen und einen feisten, unwirklichen Torso.

„Wie war das noch,…? Modernisierung sagten Sie im letzten Meeting. Ich würde es eher als menschlich-technischen Fauxpas sehen.“

Ich zerre den Stuhl wieder herum, ich will nicht, dass er mich weiterhin sehen kann und sei es nur mein Schatten.

„Mehr Technik und noch mehr Menschenersatz, elektronische Kassen statt reiferen Müttern in 400€-Jobs, die ihren existenzbedrohten Randgruppenfamilien so mit einem kleinen zusätzlichen Taschengeld unter die Arme greifen. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich es eher als absoluten gesellschaftlichen Error bezeichne. Ganz leicht zu übersehen übrigens …“

Ich bin etwas zu forsch und der Stuhl mitsamt seinem fleischigen Aufsatz kippt um. Wieder wimmert er, als der Beton über seinen wunden Arm schabt, während ich versuche, ihn wieder aufzustellen. Leider bin ich zu schwach und so bleibt mir nichts anderes, als das jammernde, schwer atmende Paket zu betrachten. Ich gehe hinüber zu meinem Karton, nun muss ich doch schneller als geplant das Werkzeug wechseln. Planänderung. Etwas, das der moderne Mensch gar nicht mehr auf die Reihe kriegen würde. Wo war ich noch? Ahja.

„… pardon, zu ignorieren. Nach längerer Laufzeit allerdings, sind sie nicht mehr zu beheben.“

Ich krame etwas herum und finde dann ein ganz hübsches Instrument, das schon beim Einkauf frohe Erwartungen in mir weckte.

„Die Fehler summieren sich ins Unendliche und wie jedes allzu komplexe Mega-System kackt es sozusagen ab. Es geht ja auch gar nicht anders!“

Ich wende mich zu ihm um und halte triumphierend das Instrument nach oben. Obwohl er mich nicht sehen kann, scheint er meine muntere Art zu bemerken. Zu meiner Enttäuschung beginnt er nun erneut mit dem ganzen sinnfreien Blödsinn, den wir schon zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit durchmachten. Er windet sich, jammert, versucht aus den Fesseln zu kommen, die sich nur noch tiefer in sein Fleisch schneiden. Viel Spielraum hat er bald nicht mehr und ich habe keine Lust, mir die Wahl der Körperteile abnehmen zu lassen. Wo und was bestimme noch immer ich.

„Aber keine Sorge. Man programmiert heutzutage doch einfach neu, lässt die erworbenen Erkenntnisse einfach durch den Schredder laufen und vertraut darauf, dass es beim neuen Versuch besser funktioniert. Wissen Sie, dass die Menschen in Peru eine ganz besondere Geschichte über die ständige Geburt und Wiedergeburt haben?“ Kurz denke ich, er würde mir nicht mehr folgen, doch dann schüttelt er wie wahnsinnig den Kopf. Ich trete enttäuscht zurück.

„Ich sehe schon, Sie haben nicht wirklich so das Gespür für alte Weisheiten und Spiritualität. Macht nichts, ich konnte damit auch nicht so wirklich viel anfangen, als mein einziger Lebenssinn noch darin bestand, nonstop dieselbe Scheiße zum Wohle für Sie und Ihre Spießgesellen zu rebooten und zu breaken. Entschuldigung, zum Wohl des Kunden natürlich.“

Und dann erzähle ich ihm die Geschichte von dem Schmetterling, der in Peru ein Symbol für die entglittene Seele ist. Währenddessen benutze ich das geniale und vielfältige Instrument an jeder nackten Stelle seines Körpers. In Peru sagt man, wenn einem die Seele im Augenblick des Todes entgleitet, wird sie als kleiner pechschwarzer Falter in der Nähe seiner Lieben umherflattern, um ihnen nahe zu sein und um nicht vergessen zu werden. Warum es hier keine solch schönen Legenden gibt, ist ja wohl offensichtlich. Sie wären längst dem nächstbesten Ignoranten zum Opfer gefallen.

 

Heute Morgen sitze ich auf meinem Balkon und sehe mir die aktuellen Nachrichten an. Obwohl die Herbstsonne noch nicht durch die Wolken gedrungen ist, friere ich nicht und freue mich sogar auf meinen Tag im Büro. Ich freue mich immer wenn ich neuen Menschen bei der Arbeit zusehen, sie einschätzen und zuordnen kann. Und ein neuer Mensch wird heute dort eintreffen müssen, denn wie die Medien schon sagen, wird die Firma, in der ich arbeite, ab heute ohne ihren Sklaventreiber sein. Doch es kommen immer neue. Seufzend lege ich mein Frühstücksei beiseite. Ich muss zugeben, ein wenig stolz bin ich schon bei den aktuellen Bildern des Tages, obwohl sie doch keinerlei Grund dafür hätten, sie schon am frühen Morgen in all ihrer Schönheit zu zeigen.