Melchior v.·. Wahnstein

Illumination

 

Die Sache mit der Magie ist die: Es geht um Konsequenzen.

Solang du gewillt bist, den Preis zu zahlen, ist alles Mögliche machbar. Das ist meine Erfahrung. Weil ich den Preis schon oft bezahlt habe.

Aber ich wusste immer, was von mir gefordert wurde, und konnte mich entscheiden, ob ich dafür bereit war. Heute … ist das etwas anders.

Die Kammer, in der ich mich befinde, ist winzig. Ich kann kaum einen Schritt gehen, und wenn ich mich aufrichte, stoße ich schon beinahe an die Decke. Sie ist, wie auch die Wände, vollkommen schwarz gestrichen. Selbst der Boden besteht aus einem schwarzen Material. Ich konnte es nicht genau erkennen, als ich hereingeführt wurde; es wirkte beinahe wie Obsidian. Ansonsten bemerkte ich nur, dass es kein einziges Möbelstück hier drin gibt – bis auf das Podest in der Ecke.

Auf ihm thront ein Totenkopf.

Bevor ich mich umdrehen konnte, hatte man die Tür hinter mir verschlossen. Kein Licht drang mehr herein. Seither befinde ich mich in völliger Finsternis. Das letzte, was ich gesehen hatte, das einzige, was hier drin eine andere Farbe hat als Schwarz, brannte sich in meine Netzhaut und meine Erinnerung ein: die weißen Knochen des Schädels vor mir. Ein wohlüberlegter theatralischer Effekt, das ist klar.

Es ist bei weitem nicht meine erste Initiation, und ich bin mit solchen Tricks vertraut: Sie sind schlicht, aber eindrucksvoll. Sie machen was mit der Psyche, ob man will oder nicht. Gerade weil sie so archaisch sind. Und umso mehr, wenn man seinen Körper durch vorausgehende Ekstasetechniken und mehrtägiges Fasten erschöpft hat. Man verliert zunehmend das Empfinden für das Verstreichen der Zeit.

Nicht wahr? Ich kann mittlerweile schon nicht mehr sagen, ob eine Stunde vergangen ist, seit ich hier drin bin oder schon die halbe Nacht. Es ist recht kühl, beinahe schon unangenehm: Man trägt Sorge, dass niemand in dieser Kammer schläft. Ich hülle mich fest in meine schwarze Robe – das einzige Kleidungsstück, das ich trage. Die Entbehrungen der letzten Tage, verbunden mit der sensorischen Deprivation, tun langsam ihre Wirkung. Es ist nur eine Nacht, sage ich mir … und muss grinsen. – Tatsächlich? Ich versichere mir selbst, dass ich hier wieder herauskomme? Schon jetzt?

Nur eine Nacht. Eine Nacht in der Kammer mit dem Totenkopf. Beinahe entblößt und

meiner magischen Paraphernalia beraubt. Reduziert auf mich selbst. Und vor allem: Ohne mir darüber im Klaren zu sein, was von mir gefordert wird. Welcher Preis zu zahlen ist. Denn das Nichtwissen gehört immanent zur Einweihung in diesen Grad. Und niemand, der sie hinter sich gebracht hat, hat je darüber gesprochen. Schweigen: eines der elementaren Gebote der Magie.

Nur eine Nacht. Allein. Das habe ich schon öfters erlebt, und zu Beginn habe ich mir das selbst auferlegt. Sozusagen als Test. Damals war es nicht viel mehr als eine Mutprobe. Um mir selbst zu beweisen, dass ich die Eier hatte, diesen Weg zu beschreiten.

Unweigerlich tauchen Bilder aus meiner Vergangenheit auf: Jene Begegnung mit dem entsetzlichen Clown. Die Gespräche mit der Bauchrednerpuppe Maxi. Das Trainieren meiner Fähigkeiten.

Die Preise, die ich bisher bezahlt habe.

Am Anfang waren das nur Kleinigkeiten. Die Erinnerung an meine erste Fahrt mit dem Riesenrad. Das Gefühl, als ich als erster meiner Klasse das Osternest gefunden hatte. Der Blick von Bello, bevor er starb. Der Geschmack von Stachelbeeren. Ich weiß, dass das geschehen ist, aber ich verbinde nichts mehr damit. Und Stachelbeeren konnte ich noch nie leiden. Nehme ich zumindest an. Dafür konnte ich Dinge mehr und mehr … beeinflussen. Oder in eine bestimmte Richtung drängen. Die Faszination dafür ließ mich nie wieder los! Ich wollte meine Macht steigern. Irgendwann verbrachte ich allein meine erste magische Nachtwache. (Natürlich auf einem Friedhof. Ich war noch jung.)

Später ging eine Beschwörung schief und ich machte eine Gruppe von Thelemiten auf mich aufmerksam. Sie wollten sich um meine weitere Ausbildung kümmern, damit mir nicht wieder solch ein Fehler unterlief. Es war eine rigorose Schulung und bald verbrachte ich wieder eine Nacht allein. Diesmal war es eine Höhle in einem abgelegenen Waldstück. Ich saß, verwundet von der Klinge eines Athame, im Bannkreis und hatte mich mit all den Entitäten auseinanderzusetzen, die meine Meister evoziert hatten. Es gelang mir nur mit äußerster Disziplin, sie in Schach zu halten – mein auf den Boden tropfendes Blut ließ sie gierig gegen den Schutz anrennen und ich hörte sie in der Dunkelheit schnappen und geifern. Ich musste etwas Größeres opfern, um ihrer Herr zu werden. Seither kann ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen, wie das Lachen von Wendy klang.

Doch damit hatte ich mir einen Namen gemacht, oh ja, Herr Totenschädel! Adepten aus unterschiedlichen Zirkeln respektierten mich. Einige Logen buhlten darum, mich aufnehmen zu können. Aber weißt du was? Ich entschied mich für die Chaosmagie und den I.O.T. – damals war der noch kaum bekannt und ich war begeistert davon, wie progressiv er war. Bei meiner Aufnahmezeremonie spürte ich, wie ein Bruder sorgfältig etwas von meinem Solarplexus weghob, aber ich weiß nicht mehr, was es war. Jedenfalls gab’s danach eine herrliche Gruppensexorgie.

Bald darauf eskalierten Streitigkeiten, die schon länger geschwelt hatten. Es kam zum Eismagiekrieg. Ja, da staunst du. Ich war dabei. Und ich habe es ohne größeren Schaden überstanden. Nur einmal alle zwei Wochen muss ich nachts um drei aufstehen und den Ritus von Saaamaaa vollziehen. Nur für ein paar Nachtstunden.

Da weiß ich genau, was ich zu tun habe. Doch heute hat mir niemand gesagt, worauf es ankommt. Es ist ja nur eine Nacht. Mehr war nicht aus ihnen herauszuholen. Wenn ich Großmeister werden wollte, hatte ich mich der schwarzen Kammer zu stellen … und allem, was sich darin befand. Ohne Vorwarnung. Ohne Vorkenntnisse. Ohne Hilfestellung. Und was findet sich hier drin? Ein gebleichter Schädel? Das ist alles? Wenn du Angst erzeugen sollst, dann finde ich den ganzen Aufwand höchstens lächerlich. Nichts für ungut.

Nein, da steckt mehr dahinter. Ich wette, sie beobachten mich mit einer Nachtbildkamera und leiten irgendein halluzinogenes Gas in die Kammer und es gibt eine geheime Tür und wenn ich fast eingedöst bin, lassen sie zum allgemeinen Gaudium einen wilden Ziegenbock herein: Hahaha, der große Magus erschrickt vor Baphomet! Aber das ist natürlich Unsinn. Obwohl … wahnsinnig genug für solche Späße wäre der Orden.

Nach dem Eismagiekrieg hatte ich mich vom I.O.T. zurück gezogen.

Ich praktizierte eine Zeitlang wieder allein – bis ich Gerüchte hörte über eine neugegründete Vereinigung, den Ordo Lux Serpentis. Man wusste nur, dass er 1994 ins Leben gerufen worden war, angeblich von einem französischen Magier; andere behaupteten auch, von einem Engländer. Es hieß, er hätte ein vollständiges Exemplar des offiziell als verschollen geltenden Goldenen Buchs der Weisheit von Franz Bardon in seinem Besitz. Jedenfalls gelang es mir, Kontakt aufzunehmen. Ich war beeindruckt. Mehr als beeindruckt. Und wurde Neophyt.

Die Grade durchlief ich sehr schnell. Talent, Erfahrung und pure Dreistigkeit hatten mich rasch vorwärts gebracht. Zudem lag mir die grundsätzliche Widersprüchlichkeit meines neuen Ordens. Der OLS geht noch einige Schritte weiter als die Chaosmagie. Sein Emblem zeigt einen offenen Ouroboros, der ein Omega formt, in dessen Zentrum sich die acht Pfeile des Chaossterns treffen, die wie eine Parodie auf diesen nach innen weisen. Paradoxie ist ein wesentliches Merkmal. Daher wundert es mich auch nicht, dass es keine Anweisung für diese Nacht gibt. – Könnte es sein, dass es darum geht? Mir selbst eine Anweisung zu geben? Aber wer könnte beurteilen, dass ich die Prüfung dann bestanden habe? Ist es eine Form der Selbsteinweihung? Das hieße, ich selbst würde entscheiden, wann die Nacht vorüber ist. Und mich selbst entlassen. Doch genau darin könnte auch der Fehler liegen; Hybris! In diesem Fall ginge es um das Gegenteil: demutsvoll zu warten, bis sie mich holen kommen. Wie lange würde das noch dauern? Nur, bis die Nacht vorüber ist. Doch was, wenn das die Prüfung ist? Dass niemand kommt, der mich aus der Kammer entlässt? Meine Gedanken drehen sich im Kreis. „Nothing is true. Everything is permitted.“ Ich weiß nichts mehr. Instinktiv raffe ich meine Robe noch enger um mich.

Und da blitzt eine Erkenntnis auf: Das Motto des OLS lautet Venite Nudi – Abite Illuminati. Kommt nackt und geht erleuchtet! Den Anwärtern wird immer erklärt, dass mit Nacktheit eine geistige Nacktheit gemeint ist. Konventionen und angelernte Ansichten sollen abgelegt werden, jegliche Vorstellung über sich selbst und die Welt, blablabla. Nur solchermaßen entblößt wäre man bereit für die fünfte und großartigste Disziplin der Magie: die Illumination, die Erleuchtung. Schöne Worte, schöne Metaphern.

Was ist, wenn es im letzten Grad, in dem man zum Großmeister ernannt wird (und ich bin mir sicher, dass es beim OLS noch nicht viele davon gibt), schlicht darum geht? Vollständig nackt zu sein? Auch die Metaphern bis aufs Gebein zu entkleiden … und sie einfach wörtlich zu nehmen? Immerhin, die Wahrheit ist auf jeder Stufe eine andere – und ich bin noch nicht vollständig nackt.

Ich öffne meine Robe und lasse sie zu Boden gleiten. Ich schiebe sie mit einem Fuß weg, sodass ich sie nicht mehr berühre. Und mit ihr habe ich gleichzeitig all meine Zweifel abgelegt: Das Gedankenkarussell ist zum Stehen gekommen. Ich bin angekommen. Hier. Nackt. In der Finsternis.

Allein mit einem Schädel.

Meine Hände tasten an der Wand entlang, bis sie das Podest finden. Und an ihm entlang nach oben, und dort bist du ja! (Ich hab dich mir nicht eingebildet.) Es fühlt sich gar nicht so glatt an, wie ich es vermutet hätte. Aber das ist angenehm. Es gibt meinen Fingerkuppen etwas, mit dem sie spielen können. Sie wandern immer wieder über die Rundungen und Aushöhlungen, ganz automatisch. Sie beginnen, ganz von selbst, über die Wangenknochen zu streicheln, über die Zahnreihen … ja, da ist der Unterkiefer. Vorsichtig nehme ich die beiden Teile in die linke Hand. Ist doch erstaunlich klein, so ein Schädel, wenn er befreit ist von Fett und Muskeln und Haut und Haaren.

Und dann sehe ich die Szene wie von außen: Ein lebendiger Mensch und ein Totenkopf, verbunden durch ihre Nacktheit. Zwei Gegensätze, einander angenähert, aber noch nicht vereint. Noch nicht ineinander geflossen.

Ich drücke dich an meine Brust. Hier ist das Leben; hörst du‘s? Ich schnuppere an dir. Und lecke versuchsweise über dich. Auch hier ist das Leben. Fühlst du‘s?

Verdammt. Das macht mich an. Mein Glied hat sich aufgerichtet. Und ich weiß mit plötzlicher Sicherheit, das gehört zum Ritual. Meine Rechte beginnt ganz ohne mein Zutun. Als ob es die Hand eines anderen wäre. Sie umschließt meinen Schaft, und spürt, wie er sie begrüßt: Er pulsiert, er drückt gegen sie. Sanft streichelt sie ihn, nur um dann wieder fest zuzudrücken. Ein Seufzen kommt unwillkürlich über meine Lippen. Und wie Lippen liebkosen meine Finger auch meine Eichel, umkreisen sie, wandern wieder nach unten, spielen mit meinen Eiern, packen meinen harten Schwanz, bewegen sich auf und ab, auf und ab. Die Erregung wird immer größer. Oooh ja, das ist es! Hier ist das Leben erst recht. Merkst du das? Ja? Ich wichse für dich. Ich lasse meiner Geilheit freien Lauf für dich. Mein ganzer Körper windet sich in Wollust. Ich ficke Dich. Ich lege all meine Energie hinein. Ich entblöße keuchend meine Seele. Ich atme gleichzeitig mit den ekstatischen Stößen meiner Hand, und spüre die beginnende Feuchtigkeit in ihr, während sich meine andere Hand um deine trockenen Knochen krampft. Eingeschlossen im Schwarz der Unterwelt, der fruchtbaren Erde, der Höhle des Mithraskults, des engen Mutterschoßes.

Ja. Das ist es.

 

Meine Bewegungen werden immer schneller, immer wilder. Alles rings um mich ist Finsternis und Tod. Ich bin derjenige, der Leben bringen kann. Und Licht. Mein Körper zuckt. Mein Schwanz tut weh. Ich stöhne, ich verliere mich, ich will mich nur noch verströmen. In einer letzten Anstrengung reiße ich mich selbst zum Höhepunkt.

Ich schreie. Ich zahle meinen Preis. Ich werde bar des Lebens.

Ich spritze es Dir über dein nicht mehr vorhandenes Gesicht. Ich spüre, wie es an ihm entlang nach unten rinnt. Einige Tropfen fallen auf meine Zehen. Ich glaube, ich schreie immer noch. Ich habe ein massives Déjà‐vu. Ich war schon öfter hier.

Mein Körper zittert. Etwas sagt mir, dass es noch nicht vorbei ist. Ich bin noch immer nicht vollständig nackt. Meine Kleidung ist abgelegt. Ebenso mein Denken. Und meine Gefühle. Ich bin dem Geschehen vollkommen ausgeliefert. Doch was kleidet mich dennoch?… Und da sehe ich es: Es gibt nach wie vor jemanden, der sich mit all dem hier identifiziert. Es gibt noch „mich“. Da ist noch etwas, dessen ich mich entledigen muss. Mein Name.

Ich bin nicht mehr Herr meiner selbst. Da ist nur noch ein Körper, erschöpft und in Trance, der den Schädel vor sein Gesicht hebt. Und beginnt, ihn leidenschaftlich zu küssen. Wie ein Ertrinkender nach Luft schnappt, saugen sich Lippen an die entblößten, vor Sperma tropfenden Zähne und es fühlt sich fast lebendig an. Die Zunge schiebt sich aus lauter Gewohnheit durch die Kiefer, um die des Gegenübers zu schmecken, doch da ist keine andere Zunge, nur Leere, nur Schatten.

Und in diesen Schatten flüstere ich meinen Namen.

Ich gebe meinen Namen her.

Du mußt für alles bezahlen.

Danach sitzt da nur noch jemand auf dem Boden, einen verschmierten Totenkopf in seinem Schoß und blickt – ins Leere.

Irgendwann noch später wird die Tür geöffnet. Die Gestalten in den schwarzen Roben erblicken einen, der transformiert ist. Sie nicken ihm zu und helfen ihm auf: dem neuen Großmeister. Sie ziehen ihm seine Robe wieder an und fragen ihn, wie er heißt. „Herr Zunge“, antwortet er tonlos.

Vorsichtig stellt er den Schädel wieder auf das Podest, bevor er den anderen aus der Kammer hinaus folgt. Und plötzlich weiß er in diesem Moment – obwohl er es nicht erklären kann, obwohl es vollkommen unmöglich ist, obwohl er es niemandem erzählen wird – weiß es einfach mit absoluter, felsenfester Sicherheit: Der Schädel in dieser Kammer ist sein eigener.