Kristina Lohfeldt
Der letzte Märchenprinz
„Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende ... zumindest teilweise.“
Anonym. Unbekannter Quellentext
Der Wind war mein steter Begleiter, ein Gefährte, der mir die Stille meines Gemaches erträglich machte. Sein Brausen, sein Flüstern, selbst seine Tobsuchtsanfälle brachten Leben in die Abgelegenheit meiner Existenz.
Manchmal verirrte sich auch ein Vogel zu mir. Doch solche gefiederten Gäste waren selten, denn nichts und niemand flog so hoch. Ich war die Königin der Lüfte und hätte es Mutter nicht gegeben, dann wäre ich in dem Glauben aufgewachsen, die Einzige meiner Art zu sein.
In meinen Träumen flüchtete ich mich in Welten, in denen es feuchtes Gras, duftende Erde, rauhen Sand und Blumen, ein Meer aus Blumen gab. All das kannte ich aus den Büchern, die Mutter mir in all den Jahren gebracht hatte. Es war jedes Mal ein Fest für mich, wenn sie mir neben Speisen, neuen Kleidern, Büchern oder Spielzeug auch einen Repräsentanten einer bestimmten Landschaft oder eines Elementes mitbrachte. So zählte eine Muschel, die das Rauschen des mir unbekannten Meeres bannte und den Salzduft in meine muffige Heimstatt trug, ebenso zu meiner Sammlung bei wie ein getrockneter Frühlingsstrauß, das verlassene Haus einer Weinbergschnecke, ein Fläschchen voller Morgentau, der verwaiste Kokon einer Raupe, ein ausgeblasenes Wachtelei sowie der abgeworfene Schwanz einer Eidechse.
„Leanna!“
Das war Mutters Stimme!
Ich schrak aus meinen Gedanken hoch, halb im Schlaf, halb im Wachen, setzte mich in meinem Bett auf und blickte in Richtung des Fensters. Vor dem bleichen Mondlicht zeichnete sich ein Schatten ab, Mutters Schatten. Ich sah noch, wie sich ihre Haare von dem Fenstersims lösten und leichte Mörtelreste des Mauerwerks in ihrer gewaltigen Mähne zurückblieben. Mutter schüttelte sich kurz und strich sich mit einer Hand über die Stirn, und ihr Haar schlängelte sich folgsam um ihr imposantes Haupt.
„Mutter!“
Mit ein paar Sätzen war ich aus dem Bett und eilte ihr entgegen. Mutter breitete lachend ihre Arme aus, und ich warf mich hinein.
„Gut, gut, meine Kleine“, flüsterte sie. „Genug jetzt. Du erdrückst mich ja. Lass eine alte Frau zu Atem kommen.“ Widerwillig löste ich mich von ihr und setzte mich erwartungsvoll aufs Bett, den Blick auf den prall gefüllten Korb über ihrem Arm gerichtet, dessen Inhalt von einem karierten Handtuch verborgen wurde.
„Hast du mir etwas mitgebracht, Mutter?“
„Natürlich, mein Mädchen“, lächelte sie.
Wie hypnotisiert starrte ich auf das Tuch, das sich leicht zu heben und zu senken schien, als habe der Wind sich darunter verfangen und suche nun einen Ausweg. Und hörte ich da nicht ein zartes Wimmern? Begierig leckte ich mir über die Lippen.
„Was ist es? Zeig es mir!“, drängte ich.
„Geduld, meine Kleine.“
Ich hasste es, wenn Mutter das sagte. Nach all den Jahren behandelte sie mich noch immer wie ein kleines Kind. Mutter stellte den Korb auf den Esstisch und zog ihren Umhang von den Schultern. Sorgsam faltete sie ihn zusammen und legte ihn auf den Hocker vor meiner Frisierkommode.
„Bitte, Mutter“, flehte ich. „Zeig es mir!“
Mutter ließ sich keine Gefühlsregung anmerken, setzte sich neben mich und strich mir über mein hochgetürmtes Haar, das die Farbe gesponnener Sonnenstrahlen hatte und das seit Anbeginn meiner Existenz gewachsen und immer mehr gewachsen war. Ich – oder vielmehr mein Haar – zuckte unter ihrer Berührung zusammen. Nur mit äußerster Selbstbeherrschung unterdrückte ich ein Fauchen. Prüfend tasteten Mutters beunruhigende Hände über die kunstvollen Flechten und Zöpfe. Sie spürte meinen Widerwillen, und ließ mit einem kaum merklichen Nicken von mir ab.
„Sie wachsen“, murmelte sie. „Ausgezeichnet.“
Endlich ließ sie die Hände von mir, verschränkte sie im Schoß, fast so sittsam wie ich es auf Gemälden von alten Meistern gesehen hatte, die langweilige Jungfrauen auf Leinwand gebannt hatten. Doch bei Mutter wirkte es lauernd, wie die Wartestellung eines Raubtieres vor dem Sprung.
„Lass dich anschauen“, wies sie mich an.
Seufzend erhob ich mich, ließ mein Gewand zu Boden gleiten und stellte mich in einiger Entfernung von ihr auf. Mutter begutachtete mich.
„Feste Brüste, flacher Bauch, lange Beine... Dreh dich, meine Kleine!“ Sie wedelte ungeduldig mit der Hand. „Prall, fest und rund wie ein Apfel. Gut. Sieh mich wieder an.“
Ich drehte mich zu ihr, bückte mich und hob mein Gewand auf.
„Rasiere dir die Scham“, ordnete Mutter an. „Und deine Augen ... Blau passt besser zu deinem hellen Teint und deinen blonden Haaren als dieses ordinäre Braun.“
Ich nickte gehorsam und konzentrierte mich auf meine Iris. Da unterbrach uns ein leises Wimmern. Neugierig blickte ich zum Korb. Auf einmal hob sich ein Zipfel des karierten Tuches, das offenbar nur leicht darüber gelegt worden war, und leuchtende Augen lugten darunter hervor.
„Ein Kätzchen!“, rief ich sofort.
„Erraten“, nickte Mutter. „Ich dachte, es wird Zeit.“
Ich wusste, was sie meinte, sprang auf und zog schwungvoll das Tuch von dem Korb herunter. Ein Kitten schaute mich mit Bernsteinaugen an, fauchte versuchsweise und duckte sich vor meinen liebevollen Händen. Vorsichtig nahm ich das Fellbündel hoch und drückte es an meine Brust.
„Du bist wunderschön“, flüsterte ich.
„Studiere es!“, befahl Mutter. „Ein Ferkel war nicht aufzutreiben. Sein Quieken hätte zu viel Aufsehen erregt. Dabei sind sie ihnen so ähnlich. Dies wird jedoch genügen. Bald ist es soweit. Im Korb findest du alles, was du brauchst.“
Sie küsste mich auf die Stirn, was ein leichtes Brennen auf meiner Haut hinterließ, bevor sie mich verließ. Ich beachtete sie kaum, hielt das zitternde Wesen in meinen Händen, spürte, wie die Lebenssäfte durch den schmalen Leib pumpten. Wie berauscht schnupperte ich den Duft der Essenz, die aus allen Körperöffnungen strömte.
„Sie sind wie Blumen“, hatte Mutter einst gesagt. „Sie duften. Du wirst es erleben.“
Und ich hatte es erlebt. Im Gegensatz zu Blumen waren sie jedoch sogar dann noch aromatisch, wenn sie verblüht waren.
Nun begann das Warten. Mein ganzes bisheriges Leben war nichts weiter als die Vorbereitung auf diesen einen, diesen einzigartigen Moment. Im Korb hatte ich etwas Verführerisches aus Seide und Spitze gefunden. Es schmiegte sich fast so eng an mich wie das Kätzchen, das sich an mich gewöhnt hatte, und betonte die Vorzüge meines Körpers perfekt. Lächelnd befestigte ich die hauchfeinen Strümpfe an den Strapsen. In einem Hochglanzmagazin hatte ich gelesen, wie man solcherart Mode zu tragen hatte.
„Vergiss das Make-up nicht“, ermahnte mich Mutters Stimme in meinem Kopf. „Rote Lippen sind wichtig.“
Ich hörte auf sie. Schließlich war ich bereit. Zufrieden legte ich mich auf meine Schlafstatt und schloss erwartungsfroh die Augen. So kannten sie es. Und auf diese Weise war es am leichtesten, an die ersehnte Zärtlichkeit zu kommen.
„Er wird dich besuchen. Heute Nacht“, tönte Mutters Stimme in meinem Kopf.
Lange hörte ich nichts außer der Aufregung meines Körpers. Dann versuchte jemand, an den Ranken und Flechten des Turmes hochzuklettern.
„Hilf ihm!“, drängte Mutter, und so blieb mir nichts weiter übrig, als meine Deckung aufzugeben, mich ans Fenster zu stellen und die unzähligen Flechten und Zöpfe meines Haares zu lösen, um es aus dem Fenster zu halten. Doch mein Retter war stark. Noch bevor ich meine Arbeit beenden konnte, hörte ich sein Keuchen und Stöhnen. Wenig später umklammerten Hände den Fenstersims, fanden Halt – und schon zog sich eine muskulöse Gestalt zu mir hoch.
Ich wich ein wenig zurück, vergaß für einen Moment, worum es hier ging. Der Mann, jung und von angenehmem Äußeren, kam langsam wieder zu Atem, erhob sich aus seiner hockenden Pose, in der er nach seinem beschwerlichen Aufstieg verharrt hatte.
„Hab keine Angst“, sprach er mich an. „Ich tue dir nichts. Ich ... ich bin selbst überrascht, dass es wahr ist, was man sich erzählt.“
„Was erzählt man sich denn?“, flüsterte ich, ließ ihn nicht aus den Augen.
„Man sagt, dass ein wunderschönes Mädchen in einer Kammer lebe, hoch oben auf dem verlassenen Turm. Es heißt, dass sie hier auf ihre Erlösung wartet. Auf einen, der sie in die Freiheit führen wird. Und das will ich tun.“
Die Reinheit seines Herzens schlug mir entgegen. Und ich stand nur da in meinen schwarzen Dessous: Korsage, String, Strümpfe und Strapse, ein durchsichtiges Negligé darüber, ganz so, wie es die Erotik der neuen Zeit diktierte. Was also konnte ich ihm angesichts eines solchen Idealismus, wie er ihn ausstrahlte, schon bieten?
Doch seine Augen verrieten Bewunderung.
„Sein Schwanz“, flüsterte Mutters Stimme in meinem Kopf. „Achte auf sein Gemächt.“
Ich wusste, was sie meinte. Meine Augen wanderten unverhohlen an seinem Körper herab. Ja, ich gefiel ihm.
„Ich habe dich erwartet“, ließ ich meine Stimme wie Honig in seine Ohren träufeln. „Komm. Komm zu mir und erlöse mich.“
Ich konnte seine Geilheit förmlich riechen. Herbe Lust strömte aus allen seinen Poren. Wir gingen aufeinander zu, reichten uns die Hände. Es war fast so wie in den Märchen, die wir ihnen schickten. Verheißungsvoll näherten meine roten Lippen sich seinem Mund. Ich konnte es kaum noch erwarten, ihn zu küssen. Schon spürte ich seinen Atem auf meiner Haut, als plötzlich ein lautes Maunzen, gefolgt von einem Fauchen uns zusammenfahren ließ. Offenbar war mein Verehrer dem Kätzchen auf den Schwanz getreten, das arglos zwischen uns auf dem Boden gespielt hatte.
„Schon gut, Kitty, Kitty“, sagte mein Gast. Seine Stimme klang leicht verärgert, und ich verfluchte auch dieses dumme Katzenvieh! „Na? Spielst du hübsch mit diesem Bällchen?“
Er bückte sich, um das vermeintliche Spielzeug vom Boden aufzuheben. Doch da zuckte er zurück. Entsetzen malte sich auf seinem Gesicht.
„Das ... das ist ... ein Augapfel!“, japste er.
„Ja. Na und? Sie ist eine Katze. Sie mag Fischaugen.“
„Das ist kein Fischauge“, murmelte er.
„Woher willst du das wissen?“ Meine Stimme kühlte ab. „Hast du es genau angesehen?“
Er schüttelte den Kopf, stand unschlüssig da. Langsam näherte ich mich ihm wieder, versuchte, gut Wetter zu machen.
„Solltest du deine Augen nicht woanders haben?“, schmeichelte ich. „Oder zumindest doch wohl deine Lippen. Wo waren wir stehengeblieben?“
Er lächelte und trat auf mich zu. Endlich fanden sich unsere Lippen. Begierig sog ich mich an ihm fest. Zunächst geilte es ihn auf, wie ich an der zunehmenden Härte in Höhe meines Bauchnabels bemerkte.
Doch dann, als mein Speichel langsam seine Wirkung tat und seine Mundwinkel und Lippen verätzte, sich beständig tropfend durch seine Kehle fraß, da riss er die Augen auf, versteifte und starrte mich panisch an. Ich genoss den Duft, den er verströmte: nackte Angst. Mit einem demonstrativen letzten Schmatzen stieß ich ihn von mir und wischte mir die Mundwinkel ab.
Er torkelte zurück, blieb aber wie gelähmt stehen. Es wirkte so, als hielten ihn unsichtbare Fäden aufrecht, dabei war es nur mein Gift, das dies bewirkte. Ein ungläubiges Gurgeln entfuhr seiner Kehle. Er griff sich an den Adamsapfel, wo der Zersetzungsprozess bereits eingesetzt hatte. Schleim bildete sich vor seinem Mund, zerfraß die empfindliche Haut. Es sah aus, als würde Wachs schmelzen.
„Keine Panik“, redete ich ihm gut zu. „Es geht alles sehr schnell, weißt du. Bald hat das Gift dein Herz erreicht. Dann spürst du nicht mehr, wie sich dein Inneres zersetzt.“
Er stand noch immer zuckend wie eine Marionette da, die man achtlos aufgehängt hatte.
Lächelnd zog ich einen Vorhang beiseite, der einen Teil meines Gemaches verbarg. Man hätte meinen können, dass sich dort der Abort befände. Auch die Gerüche, die von dort ausströmten, gaukelten dies vor. Doch dem war nicht so. Hier war der Platz, an dem ich wiedergeboren werden würde. Und den zeigte ich meinem Retter nun. Ihm verdankte ich alles, was ich sein würde. Ihm und den anderen sechs, die dort bereits ihre Verwendung gefunden hatten, ihre Häute, ihr formbares, angenehm verwesendes Fleisch. Dafür hatte Mutter bisher gesorgt. Um das letzte Menschenmaterial musste ich mich kümmern. Das verlangte die Tradition.
„Siehst du?“, sprach ich ihn an. „Dort wird deine Hülle Ruhe finden. Sie wird mich beherbergen, bis die Zeit gekommen ist.“
Langsam ging ich wieder auf ihn zu, strich ihm sachte über die Wange.
„Nun bekomme ich meine Flügel. Und du hast mir dazu verholfen“, wisperte ich ihm ins Ohr.
Vielleicht hörte er noch meinen aufrichtig gemeinten Dank, bevor seine Augen brachen.