Tim Svart
Musik der Finsternis
Die Gasse, die nur in meinen Erinnerungen zu existieren scheint, muss irgendwo am Rand der südlichen Docklands gelegen haben.
Heruntergekommene Lagerhäuser mit blinden oder eingeschlagenen Fensterscheiben, zwielichtige Kneipen und alles andere als heimelig wirkende Wohnblocks säumten die Ufer des Flusses, dessen aufsteigende Nebel sich auch heute noch immer wieder über den ohnehin schon verrufenen Stadtteil legen. Niemals vermochte das Tageslicht diese Nebel gänzlich zu durchdringen oder gar zu vertreiben. Folglich war die Umgebung stets in dämmriges Licht getaucht.
Ich kann nicht sagen, ob es allein der Nebel und der aufsteigende Rauch der umliegenden Fabriken waren, die das Sonnenlicht abhielten wie ein riesiger, undurchlässiger Schutzschirm. An manchen Tagen überkam mich ein Gefühl, als handele es sich bei diesem Phänomen um etwas Übernatürliches. Etwas, das sich partout nicht mit den üblichen Argumenten erklären lassen wollte. Und auch die Gerüche, die aus dem trüben Wasser des Flusses aufstiegen, gaben mir stets zu denken, habe ich doch noch nirgendwo auch nur annäherungsweise etwas Vergleichbares gerochen. Vielleicht versetzt mich dieser eigentümliche Gestank eines Tages in die glückliche Lage, die besagte Straße und das geheimnisvolle Haus doch noch wiederzufinden, wenn ich nur weiterhin danach Ausschau halte.
Meine Erinnerungen schweifen um die alte Brücke, die an jener Stelle den Fluss überspannte und auf deren Geländern steinerne Gestalten hockten. Sie alle waren von erschreckend fantasievoller Natur, standen Spalier und beobachteten jeden mit Argusaugen, der sich anschickte, die Brücke zu überqueren. Mehr als einmal überkam mich selbst beim Überqueren der Brücke ein Gefühl aufsteigender Panik, das mich ein ums andere Mal meine Schritte beschleunigen ließ, einzig mit dem Ziel, diesen grauenvollen Ort so schnell wie nur irgend möglich hinter mir zu lassen.
Jenseits der Brücke führten verwinkelte Kopfsteinpflastergassen immer tiefer in diesen finstersten aller mir jemals zu Augen gekommenen Stadtteile hinein. Mit jedem Schritt, der mich weiter in jene Gassen führte, wurde es dunkler und ein Gefühl zunehmender Beklemmung beschlich mich. Niemals zuvor habe ich eine derart enge Straße gesehen wie jene, in der ich während meiner Studentenzeit wohnte.
Der Anstieg war schier unglaublich. Jeder Fußmarsch kam dem Erklimmen steiler Klippen gleich und obwohl es keinerlei Absperrungen gab, war es unmöglich, die Straße mit einem Auto zu befahren. Es gab keinerlei Wendemöglichkeiten. Und niemand hätte diese Straße rückwärts wieder hinunter fahren mögen.
Auch das Pflaster selbst war bemerkenswert und fern dessen, was ich jemals zuvor in einer Großstadt zu Gesicht bekommen hatte. Es war äußerst uneben und setzte sich aus einer Vielzahl unterschiedlichster Beläge zusammen. Es schien geradezu so, als hätten die Verantwortlichen der Stadtverwaltung sämtliche Überreste aus ihren Lagern geholt, um damit diese Straße zu pflastern. Meine Schritte wandelten über Steinplatten, Kopfsteine, ja sogar über bloßen Lehmboden. Immer wieder schienen ganze Stücke aus der Straße herausgerissen worden zu sein und in den zurückgebliebenen Löchern sammelte sich schwarzes, brackiges Regenwasser. Selbst die dornigen Pflanzen, die zwischen den Fugen der einzelnen Platten hervorwucherten, machten auf mich einen ausgesprochen absonderlichen Eindruck. Nie zuvor hatte ich Derartiges gesehen.
Auch die Häuser der alten Gasse wirkten auf mich äußerst seltsam. Die spitzen Giebel neigten sich weit nach vorne, so dass zu befürchten war, sie würden früher oder später vornüber kippen. An einigen Stellen schien es beinahe so, als stießen die Giebel der gegenüberliegenden Häuser aneinander und bildeten auf diese Weise ein Dach, das auch dem letzten Sonnenstrahl den Weg in die Häuserschlucht verwehrte.
Besondere Erinnerungen habe ich an eine alte Brücke, die sich zwischen zwei der seltsamen Häuser über die Straße spannte. Sie war über und über mit blutroten Fresken, steinernen Masken und missgebildeten Geschöpfen bedeckt. Immer wieder fragte ich mich, wer ein derartig angsteinflößendes Bauwerk erschaffen haben mochte.
Und zu welchem Zweck.
Die Häuser, welche die Brücke verband, verfügten über keinerlei zur Straße gerichtete Fenster oder Türen, so dass die Brücke keine wirkliche Funktion zu erfüllen schien, denn niemand hätte sie jemals passieren können.
Niemand, der auf Fenster oder Türen angewiesen war.
Und jedes Mal, wenn ich unter ihr hindurchging, zog ich meine Kapuze tief ins Gesicht und lief geduckt durch ihren langen Schatten. Stets fürchtend, etwas oder jemand könnte sich plötzlich aus dem Gestaltengewirr herauslösen und auf mich herabstürzen.
Aber nichts dergleichen geschah.
Die steinernen Götzen waren einfach nur da und glotzen. Stumme Zeugen, denen wohl nur meine Phantasie Leben einzuhauchen vermochte.
Wenige Meter hinter der geheimnisvollen Brücke folgte eine enge Biegung, hinter der das Kopfsteinpflaster von einer steilen Treppe abgelöst wurde. An ihrem Ende erstreckte sich eine meterhohe Steinmauer in den ewig grauen Himmel.
Aber es waren weiß Gott nicht nur die Gebäude der alten Gasse, die auf mich vom ersten Moment an einen düsteren und abweisenden Eindruck machten. Gleiches traf, beinahe ohne jede Einschränkung, auch auf die Bewohner dieser Gegend zu. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich einen von ihnen zu Gesicht bekam, machten sie auf mich einen eigenartigen Eindruck. Zunächst glaubte ich, sie seien einfach nur still und zurückhaltend, was ich wiederum ihrem ausnahmslos hohen Alter zuschrieb. Im Laufe der Zeit kam mir jedoch der Gedanke, dass sie irgendeine Art von Geheimnis hüteten.
Ein Geheimnis, das ich bis heute nicht vollends ergründen konnte.
Ebenso wenig übrigens, wie ich heute mit Bestimmtheit sagen könnte, wie es mich überhaupt in eine Wohnung in dieser Straße verschlug.
Zugegeben, als bettelarmer Literaturstudent hatte ich seit jeher an chronischer Geldnot gelitten und mehr als eine Wohnung wegen Mietrückständen quasi über Nacht räumen müssen. Und ich weiß nicht, in wieviele zwielichtige Gegenden mich mein ärmliches Dasein bereits geführt hatte, bevor ich auf das mysteriöse Haus in eben jener Straße stieß.
Das Haus gehörte einem stets volltrunkenen, alten Mann, der in der Gegend als Mr. Blanket bekannt zu sein schien. Sein Haus befand sich am oberen Ende der Straße und war mit Abstand das größte.
Und so begab es sich durch einen scheinbaren Zufall, dass er mir für ausgesprochen wenig Geld ein Zimmer in der fünften Etage dieses windschiefen Gebäudes anbot.
Das besagte Zimmer war der einzige bewohnte Raum auf der gesamten Etage. Vielleicht hätte mich diese Tatsache unter normalen Umständen von einem Einzug abgehalten, aber der zu dieser Zeit wieder einmal ausgesprochen stark ausgeprägte Geldmangel und die damit verbundene Tatsache, dass ich dringend eine neue Unterkunft benötigte, ließen mich meine Bedenken und Vorbehalte über Bord werfen.
Und bereits in der ersten Nacht fragte ich mich, ob mein Entschluss der richtige gewesen war.
Ich lag in meinem Bett und lauschte der Stille des beinahe menschenleeren Hauses, die immer wieder durch das für derart alte Gebäude typische Knarren und Knarzen durchbrochen wurde.
Plötzlich drang Musik aus der Mansarde über mir an mein Ohr. Sie war zu laut und zu sonderbar, als dass ich dabei hätte einschlafen können. Beinahe die ganze Nacht über lauschte ich den Klängen, wie ich sie in dieser Form nie zuvor gehört hatte. Hinzu kamen die seltsamen Laute, die sich nach geraumer Zeit unter die Musik mischten. Zunächst glaubte ich, mich zu täuschen, nahm ich es zu Beginn nur als leises Seufzen wahr, das sich kaum gegen die laute Musik durchzusetzen vermochte. Doch schließlich wurde das Seufzen lauter. Es steigerte sich zu einem regelrechten Stöhnen, das, hatte es einmal begonnen, nicht wieder abebben wollte. Es hielt so lange an, bis es nach geraumer Zeit in einem lauten Schrei gipfelte, nach dessen Verklingen die Musik schlagartig erstarb.
Danach war es für den Rest der Nacht still.
Als ich am nächsten Morgen völlig übermüdet die Treppe hinunterstieg, traf ich den alten Blanket und sprach ihn auf das nächtliche Musizieren in seinem Haus an.
„Die Musik?“, erwiderte der Alte und bereits zu dieser frühen Stunde schlug mir seine Alkoholfahne entgegen. „Das muss die junge Frau gewesen sein, die in dem Mansardenzimmer über Ihnen wohnt. Sie spielt des Nachts regelmäßig auf ihrer Violine. Ihr Name ist Viola.“
„Viola? Wie passend.“ Ich muss zugeben, die Aussage des Alten weckte meine Neugier und löste meinen Ärger über die nächtliche Störung schlagartig in Luft auf. Welche junge Frau wäre wohl in der Lage, eine derartig sonderbare Musik zu spielen?
„Sie studiert Musik an der hiesigen Universität und sie hat sich für ein Zimmer in diesem Haus interessiert, weil es weit abgelegen ist und sie nach den Vorlesungen in Ruhe üben kann, ohne jemanden zu stören.“
Eine Aussage, die ich so nicht unterschreiben konnte.
„Wissen Sie, junger Freund, das Zimmer stand lange leer. Da habe ich nicht weiter überlegen müssen, als sie sich dafür interessierte und die Miete gleich für mehrere Monate im Voraus bezahlte. Noch dazu ist das Mädchen wirklich hübsch anzuschauen. Ich glaube, sie fühlt sich dort oben recht wohl. Das Giebelfenster ist das einzige Fenster in der ganzen Straße, von dem aus man über die hohe Mauer am Ende der Gasse blicken kann. Und der Blick auf das Panorama dahinter ist wirklich betörend. Die Straße und das Haus liegen höher, als Sie vermuten. Von diesem Fenster aus kann man über die gesamte Stadt schauen.“ Er kicherte leise vor sich hin und entschwand schwankend über die steile Treppe.
So lag ich von nun an jeden Abend in meinem Bett und lauschte Violas Musikspiel. Und obwohl sie mich mit ihrer Musik um den Schlaf brachte und ich tagsüber Schwierigkeiten hatte, meinen eigenen Vorlesungen in der Universität zu folgen, war ich unendlich fasziniert von der Atmosphäre, die Viola mit ihrer Musik erzeugte.
Sie strahlte eine derartige Unheimlichkeit aus, dass ich mich einfach nicht davon losreißen konnte. Zwar hatte ich keinerlei tiefergehende Ahnung von Musik, aber es schien mir ohne jeden Zweifel, dass ihre nächtlichen Harmonien mit keiner Art von Musik verwandt waren, die ich jemals zuvor gehört hatte. Und je öfter ich ihren Klängen lauschte, umso überzeugter war ich, dass es sich bei Viola um eine junge Komponistin außerordentlicher Klasse handeln musste. Nur ein wahres Wunderkind konnte einem Instrument auf derartige Art und Weise Leben einhauchen.
Während ich also die Tage weitestgehend schlafend in den Hörsälen der Universität verbrachte, lag ich während der Nächte wach in meinem Bett und lauschte Violas Spielen. Und je öfter ich dies tat, desto größer wurde meine Faszination.
Und nach einer Woche beschloss ich, Viola kennen zu lernen.
Auch wenn unser erstes Aufeinandertreffen auf Viola wohl wie zufällig gewirkt haben mag, so muss ich ihr und schließlich auch mir selbst eingestehen, ihr aufgelauert zu haben. Als sie am späten Abend aus der Uni kam und die schmale Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgehen wollte, trat ich aus der Tür meines Zimmers, um sie anzusprechen.
Und auch, wenn ich nach den Beschreibungen des alten Blanket davon ausgegangen war, dass es sich bei Viola um eine attraktive Erscheinung handeln würde, raubte mir der Anblick der ganz in schwarz gekleideten, jungen Frau in diesem Moment den Atem.
Ihre hellblauen Augen funkelten mich an, während dunkelrotes Haar wie feurige Fluten über ihre Schultern wallte. Sie trug schwarzglänzende Pumps mit spitzen, hohen Absätzen und einen kurzen Rock, unter dessen Saum ich einen kurzen Blick auf die Spitze ihrer halterlosen Strümpfe erhaschen konnte. Unter dem engen Blazer zeichneten sich Kurven ab, deren Üppigkeit meine Phantasie auf eine ungewollte Reise schickte. Es war mir unvorstellbar, wie eine derart engelsgleiche Erscheinung einem Musikinstrument geradezu dämonisch anmutende Töne entlocken konnte.
„Du musst Viola sein, oder?“, fragte ich, während ich mich am Türrahmen festhielt. „Die Urheberin dieser wundervollen Nachtmusik.“
Sie lächelte und ihre Lippen formten lautlose Worte, die ich als „Komm mit“ interpretierte.
Ich folgte ihr die Treppe zu ihrem Mansardenzimmer hinauf, wobei ich meinen Blick nicht von ihren Beinen und ihrem knackigen Apfelpo losreißen konnte. Ich kannte diese Frau überhaupt nicht und dennoch drohte mich ihr bloßer Anblick um den Verstand zu bringen. Oben angekommen, drückte sie die quietschende Türklinke nach unten, öffnete die verwitterte Holztür und wir betraten das an der Westseite des Hauses liegende Zimmer.
Das Zimmer überraschte mich nicht nur durch seine Größe, sondern insbesondere durch die Tatsache, dass es so völlig anders aussah, als ich mir das Zimmer einer jungen Studentin vorgestellt hatte. Während wir die Treppe hinaufgegangen waren, hatte ich mir vorzustellen versucht, welche Einrichtung ich in Violas Zimmer wohl vorfinden würde. Ich dachte an fröhliche Farben, liebevolle Dekorationsartikel, Blumen, vielleicht ein paar Stofftiere als Relikte ihrer noch nicht allzu lange zurückliegenden Kindheit.
Aber als ich das Zimmer betrat, fand ich nichts dergleichen vor. Vielmehr war das Zimmer das genaue Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte. Der große Raum war beinahe leer. Außer einer auf dem Fußboden liegenden Matratze, drei Stühlen und einem Notenständer fanden sich dort keinerlei Möbel. Ein Wäscheständer stand in einer Ecke des Raumes und die Beschaffenheit der darauf hängenden Wäschestücke trieb mir die Schamesröte ins Gesicht. Überall auf dem Boden lagen stapelweise Notenblätter.
Die Wände bestanden aus unverputzten Brettern und dank einer Reihe von Spinnenweben und Staubmäusen erweckte der Raum eher den Anschein einer verlassenen Abstellkammer als den des Zimmers einer jungen Studentin. Es war offensichtlich, dass sich Viola nicht mit den Äußerlichkeiten ihrer Umgebung aufhielt. Stattdessen, so vermutete ich, verbrachte sie den Großteil ihrer Zeit in einer fernen Welt voller Phantasie und Musik.
In welch krassem Gegensatz stand dieser Raum zu dem bezaubernden Anblick, den Viola in dem Moment bot, als sie sich ihres Blazers entledigte und ihn effektvoll über die auf dem Wäscheständer hängenden Kleidungsstücke warf. Nun stand sie vor mir und ihr schwarzes Spitzentop offenbarte tiefe Einblicke in ihr Dekolleté.
„Setz dich doch.“ Sie deutete auf einen der Stühle und verschloss die Zimmertür. Erst jetzt fielen mir die zahlreichen Kerzen auf, die überall auf dem Fußboden herumstanden. Viola entzündete einige von ihnen, so dass sie einen flammenden Kreis um einen weiteren freien Stuhl bildeten, auf dem Viola schließlich selbst Platz nahm. Sie öffnete einen uralt anmutenden Violinenkoffer und entnahm das Musikinstrument, dem sie so geheimnisvolle Töne zu entlocken imstande war.
„Hör einfach zu“, flüsterte Viola mir zu. Sie verwendete weder den Notenständer noch verschwendete sie einen einzigen Blick auf eines der herumliegenden Notenblätter. Sie fragte mich auch nicht nach meinen Wünschen, sondern spielte einfach los.
Über eine Stunde lang spielte sie aus dem Gedächtnis ein Stück nach dem anderen.
Und kein einziges der Werke hatte ich jemals zuvor gehört.
Gebannt lauschte ich der Musik, Violas Körper keinen Augenblick aus den Augen verlierend. Ihre Brüste hoben und senkten sich im Takt der Musik, jeder Muskel ihres zierlichen Körpers schien zum Zerreißen gespannt. Immer wieder schloss sie die Augen und spielte die mir unbekannten Stücke ohne Pause herunter. Ich war davon überzeugt, dass sie sich jede einzelne der Melodien selbst ausgedacht haben musste.
Violas Melodien genauer zu beschreiben, ist mir unmöglich. Ich wüsste nicht, wie ich die wiederkehrenden Themen und die ergreifenden Passagen ihres Spiels wiedergeben könnte. Und obwohl ich vermute, dass Violas Spielen von der ersten bis zur letzten Note improvisiert war, so fügten sich die einzelnen Passagen scheinbar mühelos aneinander und ergänzten sich aufs Vortrefflichste.
Und dennoch fehlte etwas.
Violas Musik ließ an diesem Abend das Unheimliche vermissen. Es fehlten die quälenden Melodien, die ich an den Abenden in meinem Zimmer vernommen hatte und die mir seither im Gedächtnis geblieben waren. Und, ich schäme mich beinahe, es so offen zu sagen, ich vermisste das lustvolle Seufzen und Stöhnen, das die Musik stets so anregend untermalt hatte.
Nachdem sie mit ihrem Spiel schließlich geendet hatte und die Geige zurück in den Geigenkasten legte, sprach ich sie darauf an.
Mehr noch.
Da ich einzelne Fragmente der Melodien in den letzten Tagen immer wieder vor mich hingesummt hatte, scheute ich mich auch an diesem Abend nicht davor, eine der Melodien anzusummen.
„Würdest du das für mich spielen?“, fragte ich sie, nachdem ich mit meiner kurzen Darbietung geendet hatte.
Violas Gesicht, das während ihres Spiels wie versteinert gewirkt hatte, entkrampfte sich. Doch zu meiner großen Verwunderung erkannte ich in ihren Zügen nicht die offene, sympathische Art, die ich bei unserem Zusammentreffen auf der Treppe erlebt hatte. Es war vielmehr blanke Wut, die mir entgegen schlug. Da ich mir eines Fehlers nicht wirklich bewusst war, begann ich erneut, einige der Melodien der letzten Nacht zu pfeifen und hoffte, Viola auf diese Weise doch noch umstimmen zu können. Doch stattdessen verzog sich Violas Gesicht zu einer zornigen Fratze.
„Hör auf! Du hast nicht die geringste Ahnung, was du da tust. Hör sofort auf damit!“ Ihre Hand fuhr wild durch die Luft und machte eine abschneidende Bewegung. Dann wanderte ihr Blick hinüber zu dem Mansardenfenster. Erst jetzt fiel mir auf, dass es mit einer pechschwarzen Stoffbahn verhangen war. In Violas Blick erkannte ich plötzlich so etwas wie Angst. Angst davor, so vermutete ich, dass sich jemand heimlich durch das Fenster hindurch in das Zimmer schleichen könnte.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich schließlich. „Wir sind im sechsten Stock. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ein ungebetener Gast durch das Fenster hereinstürmt.“
„Was weißt du schon.“ Noch immer starrte sie auf das verhangene Fenster.
In diesem Augenblick kam mir Blankets Bemerkung in den Sinn und wie aus heiterem Himmel überkam mich plötzlich der Gedanke, selbst einmal einen Blick durch dieses geheimnisvolle Fenster zu werfen.
Das Giebelfenster ist das einzige Fenster in der ganzen Straße, von dem aus man über die hohe Mauer am Ende der Gasse blicken kann. Und der Blick auf das Panorama dahinter ist wirklich betörend.
Die fixe Idee wuchs binnen Sekunden zu einem sehnlichen Wunsch heran. Wie gerne wollte ich das zauberhafte Panorama vollmondbeschienener Dächer bewundern. Wie gerne wollte ich dort in der Ferne die Lichter der City sehen. Es musste ein phantastisches Bild sein. Ein Bild, das in der gesamten Straße einzig diese geheimnisvolle Musikstudentin namens Viola genießen konnte. Und diese wusste es ganz offensichtlich nicht zu schätzen. Oder warum sonst verhängte sie es mit einem Tuch?
Da mein Wunsch von Sekunde zu Sekunde sehnlicher wurde, trat ich auf das Fenster zu und war fest entschlossen, den Vorhang beiseite zu ziehen. In diesem Moment löste sich Viola von ihrem Stuhl und sprang wie eine Raubkatze auf mich zu. Ihre rechte Hand schnellte hervor und ihre schlanken Finger legten sich mit einer Kraft um mein Handgelenk, die ich ihren zarten Musikerhänden niemals zugetraut hätte.
„Du solltest besser gehen“, zischte sie und das Funkeln in ihren Augen wirkte nicht mehr freundlich und anziehend, sondern brandgefährlich.
Ich riss mich los und wollte das Zimmer verlassen, als Viola erneut nach meinem Arm griff. Dieses Mal war ihr Griff deutlich fester, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht wirkte um einiges versöhnlicher. Ohne ihren Griff zu lockern, geleitete sie mich zur Tür.
„Sei mir nicht böse, aber es ist wirklich besser, du gehst. Ich kann nicht erwarten, dass du für mein Verhalten Verständnis hast, aber ich bin im Moment etwas angespannt.“
„Hat es mit dieser Musik zu tun?“
Sie nickte. „Aber auch mit anderen Dingen in meinem Leben. Es ist kompliziert und ich möchte nicht darüber reden. Du sollst aber wissen, dass ich deinen Besuch sehr genossen habe. Es war schön, dir vorzuspielen.“
„Aber alles magst du mir nicht vorspielen?“
„Du meinst die Musik, die du in den letzten Nächten gehört hast.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Also schwieg ich und wartete ab, ob sie weitersprechen würde.
„Ich kann diese Musik vor niemand anderem spielen. Und ich kann es außerdem nicht ertragen, sie von jemand anderem zu hören. Deshalb habe ich eben so unwirsch reagiert. Es tut mir leid.“
„Kein Problem.“
„Bis vorhin wusste ich nicht, dass du mein nächtliches Spielen hören kannst. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne mit Mr. Blanket sprechen. Vielleicht kann er dir ein anderes Zimmer geben. Eines weiter unten. Falls es teurer ist, werde ich dir die Mehrkosten natürlich erstatten.“
Ich dachte an die nächtlichen Geräusche, die ich außer der Musik noch gehört hatte. Klar, ich konnte mir schon denken, warum es ihr peinlich war. Aber woher hatte sie als Studentin das Geld, einen Teil meiner Miete übernehmen zu wollen?
Es stand außer Frage, dass ich irgendetwas verkehrt machte.
Geradezu so, als habe sie meine Gedanken erraten, fügte sie schnell hinzu:
„Es würde mir wirklich viel bedeuten, wenn ich wüsste, dass ich dich nachts nicht mehr störe.“
Du störst nicht. Es ist nur irgendwie… Es machte mich ganz heiß.
Plötzlich hatte ihre Stimme einen weichen Klang, und als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um mir etwas ins Ohr zu flüstern, drang der betörende Duft ihres Parfüms in meine Nase. Ihre Brüste drückten sanft gegen meinen Oberkörper und sofort spürte ich das Kribbeln, das bei der Berührung meinen Körper durchströmte.
„Es würde mich freuen, wenn du mich wieder besuchen kommst. Ehrlich.“ Während sie sprach, kitzelten ihre Lippen sanft mein Ohrläppchen.
Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen. Wie gerne hätte ich Viola in diesem Augenblick noch enger an mich herangezogen und sie geküsst. Ihren Körper gestreichelt und liebkost. Ihre Lippen geküsst und ihre samtweiche Haut gespürt. Noch während ich diesen inneren Kampf mit mir ausfocht, ertönte ein lautes Scheppern, das von dem zugehangenen Mansardenfenster herzurühren schien.
Viola erschrak ebenso wie ich. Ihr Körper zuckte zusammen und ihre Fingernägel krallten sich schmerzhaft in das Fleisch meiner Oberarme.
Wortlos sahen wir uns an. Dann blickte jeder von uns zum Fenster, bevor unsere Blicke sich erneut trafen.
Jetzt oder nie. Küss sie. Mach schon.
„Schlaf gut“, sagte ich stattdessen. „Ich würde gerne wiederkommen.“
Sie lächelte und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, bevor sie die Tür öffnete und mich sanft hinausschob.
Gleich am nächsten Tag wies Blanket mir ein neues Zimmer zu. Es lag in der dritten Etage. Im Zimmer nebenan wohnte ein Vertreter, der die ganze Woche über unterwegs war und den ich nur äußerst selten zu Gesicht bekam. In der vierten, wie nach meinem Umzug auch in der fünften Etage, wohnte niemand.
Zu meiner großen Enttäuschung stellte ich während der nächsten Tage fest, dass Viola nicht so viel Wert auf meine Gesellschaft zu legen schien, wie ich es mir nach unserem ersten Zusammentreffen erhofft hatte. Zwar besuchte ich sie einige Male in ihrem Zimmer, doch die Stimmung zwischen uns war stets angespannt und ihre musikalischen Darbietungen, sofern ich sie überhaupt zu solchen überreden konnte, wirkten auf mich lieblos heruntergespielt.
Da sie die Tage in der Universität verbrachte, fanden unsere Treffen überwiegend nachts statt. Sie empfing mich in einem ausschließlich mit Kerzen ausgeleuchteten Zimmer und ihre stets spärliche Bekleidung weckte mein Begehren trotz ihrer reservierten Haltung immer wieder aufs Neue. Hinzu kam, dass dieses geheimnisvolle Dachzimmer und die sonderbare Musik eine unbeschreibliche Faszination auf mich ausübten.
Ferner war es das Fenster, das mir seit meinem ersten Besuch nicht mehr aus dem Sinn ging. Auf eine nicht zu beschreibende Art und Weise schien es nach mir zu rufen und weckte mein Verlangen, das viel gepriesene Panorama jenseits der verbarrikadierten Läden selber in Augenschein zu nehmen.
Eines Tages nutzte ich gar die Gunst der Stunde und während ich Viola in der Universität wähnte, schlich ich mich heimlich die Treppen zu ihrem Mansardenzimmer hinauf, um heimlich einen Blick durch das Fenster zu werfen. Ich lauschte, ob sich hinter ihrer Tür nicht doch etwas tat, denn um jeden Preis wollte ich vermeiden, als Einbrecher oder Spitzel von ihr in flagranti ertappt zu werden. Behutsam legte ich die Finger auf die Türklinge und drückte sie langsam nach unten. Das Quietschen, das ich schon bei meinen offiziellen Besuchen als äußerst unangenehm empfunden hatte, trieb mir einen Schauer über den Rücken und meine Spannung und Vorfreude fanden ein jähes Ende.
Die Tür war verschlossen.
Auch der Versuch, einen Blick durch das Schlüsselloch zu erhaschen, misslang. Viola musste es von innen zugeklebt haben.
Die Enttäuschung über meinen missglückten Ausflug verflog erst, als ich zum ersten Mal nach meinem Zimmerwechsel das nächtliche Spiel der geheimnisvollen Schönheit belauschte, ohne dass diese davon etwas bemerkte.
Ich erklomm die knarrende Treppe zu meinem alten Zimmer im fünften Stock. Es war nicht verschlossen und so legte ich mich eine Woche lang jede Nacht auf mein altes Bett, um den Melodien des Violinenspiels zu lauschen. Als ich sichergehen konnte, dass Viola keinerlei Verdacht bezüglich meiner nächtlichen Lauschaktionen zu schöpfen schien, wurde ich kühner und erklomm die alte Treppe bis hinauf zu Violas Mansardenzimmer. Ich kauerte mich in den engen Flur, ein Ohr an die verschlossene Tür mit dem zugeklebten Schlüsselloch gepresst und lauschte jenen Melodien und Lauten, die mich mit einem nicht mit Worten zu beschreibenden Grauen erfüllten.
Es schien mir eine unheimliche Kombination unerklärlicher Wunder und düsterer Geheimnisse, welche Viola so zahlreich umgaben. Es ist mitnichten so, dass die Töne, die sie auf ihrem Instrument erzeugte, scheußlich oder gar angsteinflößend gewesen wären. Das waren sie ganz gewiss nicht. Aber die Schwingungen schienen aus einer anderen Welt zu stammen.
Und manchmal erreichte Violas Musik einen Umfang, der einem ganzen Sinfonieorchester gleichkam und der seinen Ursprung nie und nimmer in einer einzigen Musikerin haben konnte. Noch dazu in einer Musikerin, die sich während ihres Spiels solch lustvollen Eskapaden hingab, wie es bei Viola der Fall sein musste, denn in gleichem Maße, wie ihr Spielen an Umfang und Dynamik zulegte, schwoll auch das Stöhnen und Seufzen beständig an und gipfelte, zum Ende der nächtlichen Sonaten, stets in einem markerschütternden Schrei.
Kein noch so großes Genie der Welt, davon war ich überzeugt, konnte jemals Werke von solch ungezähmter Kraft hervorbringen, wie ich sie in jenen Nächten zu hören bekam.
Im Laufe der nächsten Wochen wurde Violas Spiel immer wilder. Die Klänge ihrer Violine entwickelten sich zunehmend zu einem regelrechten Kreischen, das mit fortschreitender Stunde mehr und mehr zu einem chaotischen Pandämonium anschwoll. Wäre dort nicht die verschlossene Tür gewesen, die mich wieder und wieder davon überzeugte, mich nicht in einem wirren Traum zu befinden, hätte ich früher oder später an meinem eigenen Verstand gezweifelt. So aber fand ich mich stets in vollem Bewusstsein auf dem engen, finsteren Flur wieder, was mir als Beweis meiner geistigen Gesundheit genügte.
Auch trafen wir uns einige Male tagsüber und mir fiel auf, dass Viola immer abweisender und gleichzeitig abwesender wirkte. Immer öfter versuchte sie, meine ohnehin schon selten gewordenen offiziellen Besuche im letzten Moment abzusagen. Unter Zuhilfenahme fadenscheiniger Ausreden zog sie sich in ihre Dachkammer zurück, wobei sie mir beharrlich den Zutritt verweigerte.
Eines Nachts, wieder einmal saß ich zitternd vor Kälte in dem einsamen Flur und Viola hatte gerade wieder einen dieser unbeschreiblichen Schreie ausgestoßen, fasste ich mir ein Herz und klopfte so heftig gegen die Tür, dass ich selbst vor dem lauten Geräusch zurückschreckte.
Ich hielt den Atem an und lauschte, als die Musik im Inneren des Mansardenzimmers verstummte.
Ich hörte Schritte.
Ich hörte, wie Viola das Fenster verschloss und den Vorhang zuzog. Dann näherten sich ihre Schritte der Tür.
Langsam, aber stetig.
Um mich herum herrschte Stille. Nach der ohrenbetäubenden Musik der Violine fühlte ich mich in dem totenstillen, engen Flur plötzlich wie in einer Grabkammer. Einzig das Rauschen des Blutes hinter meinen Schläfen vernahm ich.
Also bist du nicht tot.
Und das gleichmäßige Klackern von Violas Absätzen auf den unebenen Holzdielen.
Dann hörte ich, wie Viola den schweren Holzriegel beiseite wuchtete, mit dem sie auch bei meinen nächtlichen Besuchen stets ihre Zimmertür verriegelt hatte. Langsam und quietschend bewegte sich die gusseiserne Türklinke nach unten.
Viola stand vor mir und starrte mich an. Dunkle Ränder unter ihren Augen zeugten von den Anstrengungen der letzten Wochen. Sie hatte sich körperlich völlig verausgabt. Trotzdem war ihre körperliche Anziehungskraft auf mich ungebrochen. Sie trug einen Kimono aus schwarzer Seide, bestickt mit geheimnisvollen Symbolen, die in der spärlichen Beleuchtung einen rötlichen Schimmer ausstrahlten.
Wortlos trat sie beiseite und bat mich mit einer unscheinbaren Handbewegung herein. Ich sah mich um, aber das Zimmer schien mir wie immer, außer, dass Violas Instrument samt Bogen dieses Mal achtlos neben einem der Stühle auf dem Fußboden lag. Den alten Geigenkasten, in dem sie die Violine bei meinen früheren Besuchen aufbewahrt hatte, konnte ich nirgends entdecken.
Viola wies mir einen Stuhl zu, zog einen anderen zu sich heran und nahm mir gegenüber Platz. Eine gefühlte Ewigkeit saß sie vollkommen regungslos auf ihrem Stuhl und starrte mich an, wobei sich kein Muskel in ihrem Körper regte. Ihre Augenlieder zuckten nicht ein einziges Mal. Es schien so, als lausche sie angestrengt und angsterfüllt auf etwas, dass nur sie alleine zu hören in der Lage war. Schließlich nickte sie, erhob sich von ihrem Stuhl und trat auf mich zu.
Sie beugte sich über mich. Wieder zog der Duft ihres Parfüms in meine Nase und sofort erwachte die Begierde in mir, die ich schon bei meiner ersten Begegnung mit dieser unbeschreiblichen Frau erlebt hatte.
„Warte hier.“ Mehr sagte sie nicht, bevor sie sich vor einem Stapel weißer Blätter auf dem Fußboden niederließ, einen Stift vom Boden aufhob und zu schreiben begann.
Denke ich heute an jene Nacht zurück, so bin ich sicher, dass Viola in der folgenden Stunde einen ausführlichen Bericht verfasste, in dem sie über die Wunder und die Schrecken schrieb, die sie des Nachts auf geheimnisvolle Weise heimzusuchen pflegten. Über eine Stunde lang flog der Stift über leere Seiten und ich wartete geduldig, bis ihre mir endlos erscheinenden Ausführungen schließlich doch noch zu einem Ende kamen.
Endlich legte Viola den Stift beiseite, erhob sich und ging schweigend zum Fenster hinüber.
Und ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung, drang ein Geräusch in meine Ohren. Es handelte sich um eine Melodie, die aus einem der Nachbarhäuser zu kommen schien und die sich ihren Weg die Straße hinauf bahnte.
Ein heftiges Zucken durchfuhr Violas Körper und ich bildete mir ein, sie am ganzen Leib zittern zu sehen. Mit leerem Blick wandte sie sich von dem noch immer verschlossenen Fenster ab, ergriff ihre auf dem Boden liegende Violine und ließ sich auf einem der freien Stühle nieder.
Jeder Versuch, Violas schreckliches Spiel in jener Nacht zu beschreiben, wäre von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Es war weitaus entsetzlicher und grauenvoller als alles, was ich bis dato gehört hatte. Ihr Gesicht glich einer vor purer Angst entstellten Fratze.
Waren Violas Stücke bis dahin stets von einer gewissen Melodie geprägt gewesen, so hatte es nun den Anschein, als versuchte sie, möglichst laute Töne zu erzeugen, die einzig dazu dienten, ein anderes Geräusch zu übertönen. Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung, um was es sich dabei handelte, aber ganz gewiss musste es sich dabei um etwas besonders Grauenvolles handeln.
Violas Spiel wurde immer schneller, rasender und gipfelte im weiteren Verlauf des mir völlig unbekannten Stückes in einer regelrechten Hysterie.
Violas Kopf schnellte nach oben. Ihre Augen waren starr und glühten von rotem Feuer. Sie ließ Violine und Bogen los und in diesem Augenblick geschah etwas Unglaubliches. Bis heute vermag ich kaum zu glauben, dass es sich wirklich auf diese Weise zutrug.
Obwohl Violas Hände keinen direkten Kontakt mehr zu ihrem Musikinstrument hatten, spielte die alte Violine einfach weiter. Sie schwebte in der Luft, schwankte im Rhythmus der schrägen Musik hin und her und ihr Kreischen und Wimmern wurde von Sekunde zu Sekunde lauter und eindringlicher. Es steigerte sich zu einem regelrechten Orkan, der mir schmerzhaft in den Ohren rauschte und tobte.
Viola erhob sich von ihrem Stuhl, während die verfluchte Geige, heute bin ich davon überzeugt, dass sie verflucht gewesen sein muss, weiterhin durch die Luft schwebte und die teuflische Sonate in einer nicht enden wollenden Schleife ein ums andere Mal wiederholte.
Viola kam auf mich zu, ihre Augen noch immer starr auf mich gerichtet. Ich sah das Feuer der Hölle in ihnen lodern, als Viola mit einer geschmeidigen Handbewegung den Gürtel ihres Kimonos öffnete. Sanft fielen die seidenen Hälften des glänzenden Stoffes auseinander und glitten zu Boden.
Mein Blick wanderte über ihren nackten Körper. Die vollen Brüste mit den aufgerichteten und vor Kälte zusammengezogenen Knospen wippten leicht auf und ab, während sie langsam auf mich zu schritt. Schwer atmend sog ich ihren Duft in mich auf. Ihre Hand glitt über meinen Schritt und ließ meine Lust zu voller Größe anschwellen. Ihre Finger spielten am Reißverschluss meiner Hose, zogen ihn nach unten, und als Viola mich auf die am Fußboden liegende Matratze drückte, zog sie meine Hose mit einem kräftigen Ruck herunter.
Ihre Hände krallten sich in mein Hemd, Knöpfe flogen von dannen und ihre schwarz lackierten Fingernägel kratzen schmerzhaft über meinen Brustkorb. Dann senkte sie ihr Gesicht zu mir herab und ihre Lippen näherten sich den meinen. Ich spürte den sanften Biss in meiner Unterlippe, stöhnte lustvoll auf und schlang meine Arme um Violas Hüfte, um sie näher an mich heranzuziehen.
Ich spürte den Schweiß auf ihrem Körper, während ich langsam in sie eindrang. Viola stieß nun ebenfalls lustvolle Laute aus und ein Zucken durchfuhr ihren Unterleib. Und während sie ihren Körper auf mir sitzend langsam auf und ab bewegte, wanderte ihr Blick immer wieder angstvoll zu dem verhangenen Fenster hinüber.
Noch immer tobte die Violine durch das Zimmer, schwebte mal über uns, mal um uns herum und spielte wie der Teufel selbst. Immer schriller, lauter und unkontrollierter wurde die Musik, die sich mit unserer Leidenschaft auf den Höhepunkt zuspitzte. In wilder Gier aufeinander tanzten und wirbelten wir umher, ineinander verschmolzen, umgeben von tiefschwarzen Wolken, Rauch, zuckenden Blitzen und den unendlichen Abgründen einer sich mehr und mehr offenbarenden Hölle.
Ein lauter Knall mischte sich unter das hysterische Kreischen der Violine und das lustvolle Stöhnen Violas. Es war der Fensterladen, der sich nun lautstark unter das irrsinnige Treiben in diesem Zimmer mischte. Starke Windböen ließen ihn klappern und der Rhythmus schien sich Violas leidenschaftlichen Bewegungen anzupassen.
Eine heftige Böe riss den Fensterladen vollends los, der im zu einem Sturm anschwellenden Nachtwind immer wieder gegen das Fenster schlug, während sich das Heulen der Violine zu einem ohrenbetäubenden Getöse steigerte. Niemals hätte ich bis zu diesem Erlebnis geglaubt, dass ein solches Instrument derartige Geräusche überhaupt hätte verursachen können.
Als der Fensterladen erneut gegen das Fenster schlug, zerbarst die Scheibe in Millionen winzig kleine Scherben, die wie ein Kometensturm durch das Zimmer jagten. Der Sturm pfiff durch das zerbrochene Fenster und Violas Haare flatterten wild hin und her. Eisiger Regen peitsche in den Raum und kühlte unsere glühenden Körper. Dampf stieg von Violas bleicher Haut auf, während das Höllenfeuer noch immer in ihren Augen loderte. Eine schwarze, spitze Zunge schoss aus ihrem Mund hervor und fuhr gierig über meinen Körper. Im Verlauf des Aktes wandelte Viola sich mehr und mehr zu einem medusenähnlichen Geschöpf, aus dessen Kopf Schlagen hervorwuchsen, deren Zähne gierig nach mir schnappten.
Der nächste Windstoß riss den Vorhang beiseite und ließ die Kerzen erlöschen. Die losen Blätter, auf denen Viola wohl ihr grauenvolles Geheimnis für mich niedergeschrieben hatte, wirbelten wild durch den Raum und flogen schließlich, weißen Sturmvögeln gleich, zum Fenster hinaus.
Und während Viola und ich uns unter lautem Gebrüll und aufs Heftigste ineinander reibend unserem endgültigen Höhepunkt näherten, erhaschte ich schließlich den so lange ersehnten Blick aus dem Giebelfenster. Wie sehr hatte ich mich in den letzten Wochen danach gesehnt, einen Blick auf die geheimnisvolle Mauer und die dahinter liegende Stadt werfen zu können. Während ich also auf dem Rücken lag, das satanische Geschöpf namens Viola noch immer wild und ungezügelt auf mir reitend, erwartete ich, inmitten des nächtlichen Unwetters das Lichtermeer der sich bis zum Horizont ausbreitenden City zu sehen.
Doch ich sah nichts dergleichen.
Keine Lichter.
Keine Straßen.
Nicht die Spur menschlichen Lebens, geschweige denn, einen noch so kleinen Hinweis auf die Existenz einer ganzen Stadt.
Stattdessen breitete sich dort draußen eine von mir noch nie zuvor erlebte Schwärze aus. Ein grenzenloser Raum, der einzig von der kreischenden Musik der Violine, ja von der Musik eines ganzen Orchesters, erfüllt wurde. Ich blickte hinaus in die unendliche Weite, die sich vor meinen Augen ausbreitete.
Violas Klauen, der Begriff Hände war diesen messerscharfen Krallen längst nicht mehr angemessen gewesen, gruben sich schmerzhaft in meine Haut. Sie hinterließen tiefe, wie Feuer brennende Narben, die sich schwarz und Blasen werfend über meinen Körper zogen.
Und aus diesem unsäglichen Chaos heraus, die teuflische Geige um mich herum und die ohne jeden Zweifel von einer dämonischen Kraft besessene Viola gleichzeitig auf und über mir, wurde ich hineingezogen in die Schwärze des Raumes.
An dieser Stelle
verblasst meine Erinnerung im Strudel endloser Dunkelheit und kehrt
erst zurück, als ich mich auf den endlosen Treppenfluchten jenes
Hauses wiederfand, das ich seither nicht wiederzufinden imstande
war. Ich stolperte, sprang und stürzte die schmalen Treppen
hinunter und hetzte schließlich über das Kopfsteinpflaster die
schmale Gasse entlang.
Als ich unter der alten Brücke hindurchlief,
sprangen mir die leuchtend roten Fratzen jener Figuren entgegen,
die ich seit jeher so furchtvoll betrachtet hatte. Ihr grässliches
Lachen vermischte sich mit dem mich noch immer verfolgenden
Kreischen der Geige. Wieder und wieder blickte ich mich um, aber
nichts und niemand, außer den Geistern meiner Phantasie, schien mir
zu folgen.
Am Ende meiner Flucht fand mich am Ufer des Flusses wieder. Und als ich meine Füße in den stinkenden, schlammigen Untergrund der Uferzone setzte, wurde es plötzlich still. All die grauenvollen Geräusche der letzten Stunden waren verschwunden. Selbst das Unwetter hatte sich verzogen und kein noch so kleines Lüftchen ging.
Ganz allein stand ich dort und betrachtete den Vollmond am mitternachtsblauen Himmel. Weit entfernt, irgendwo am Horizont, funkelten die Lichter der Stadt.
Obwohl ich seit jener Nacht alles Menschenerdenkliche unternahm, die geheimnisvolle Straße, das Haus des kauzigen Mr. Blanket oder auch die dämonenhafte Viola aufzuspüren, gelang es mir nicht. Keine einzige Spur fand ich, die auf die Existenz des einen oder anderen hinwies. Vielleicht wurde alles von jener endlosen Schwärze verschluckt, der ich mich in jener Nacht selbst gegenübersah. Und vielleicht bin ich ihr selbst nur um eines Haares Breite entkommen.
Ebenso verschollen sind die geheimnisvollen Botschaften, die Viola vor meinen Augen niederschrieb. Sie allein hätten wohl das düstere Geheimnis ihrer Musik und ihrer selbst erklären können.