Arthur Gordon Wolf
Das Engels-Fresko
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„Que chatice!“ [1] Die junge Frau saß an einem Tisch des Café Mabillon und starrte wie gebannt auf das Glas Campari vor sich. Als wollte sie winzige unsichtbare Fische aufspießen, stocherte sie unablässig mit einem Strohhalm darin herum und versetzte so dessen Inhalt in einen immer größer werdenden Strudel. Über ihr tauchte die Nachmittagssonne den Boulevard St. Germain in ein warmes goldenes Licht. Einige Strahlen drangen durch einen kleinen Spalt der Jalousie hindurch und verwandelten die kleinen Campari-Wogen in leuchtende tiefrote Rubine.
„Du hast ja so recht, Trin“, stimmte ihr die Blondine gegenüber zu. „Aber was soll’s! Shit happens!“ Mit einem hellen Klirren ließ sie ihr Glas gegen das ihrer Freundin stoßen und nahm einen großen Schluck. Wie auf ein geheimes Signal hin, kam nun auch Bewegung in die anderen beiden Frauen, die sich um den kleinen Tisch herum gruppiert hatten. Diejenige, die neben Trin saß, hatte schulterlanges kastanienfarbenes Haar und trug ein schlichtes lindgrünes Sommerkleid mit gekreuzten Spaghettiträgern. Der dünne Stoff umschmeichelte ihren schlanken Körper und brachte so ihre vollen Brüste aufreizend zur Geltung. Jeder, der einen flüchtigen Blick auf sie warf (und dabei blieb es selten), konnte erkennen, dass sie auf einen BH verzichtet hatte. „Merde!“, sagte sie lächelnd und stieß ihr Glas gegen den leuchtenden Campari. „Mais: Qui ne tente rien n‘a rien.“ [2]
Fast zeitgleich prostete nun auch die Vierte im Bunde allen anderen zu. „Ja visst!“, rief sie so laut, als wollte sie einem Gemüsehändler aus der Rue de Buci Konkurrenz machen. Angriffslustig blitzten ihre hellblauen Augen zwischen den Strähnen ihrer Haare hindurch. „Fan helvete! Det som inte dödar, härdar.“ [3]
„Ganz deiner Meinung, Brit“, grinste die Brünette. Ihr Name war Geraldine Corbière und sie sprach kein Wort Schwedisch. Es gehörte allerdings nicht viel Fantasie dazu, den Sinn der Worte zu erfassen. Nur beim Fluchen verfiel jede der Freundinnen immer noch in ihre Muttersprache, ansonsten verständigten sie sich mit einer kruden Mischung aus Englisch und Französisch. Vor acht Monaten hatten sie sich bei einem Casting für ein neues Parfum von Margaret Astor kennengelernt: Die zierliche dunkelhaarige Portugiesin Trin, die eigentlich Trinidade Almeida hieß, die extrovertierte Schwedin Britta, das stets gutgelaunte All-American-Girl Chevy und die sinnliche Französin Geraldine. Keine von ihnen hatte den Job bei Astor bekommen, doch dafür drei neue Freundinnen gewonnen. Nur wenige Wochen später waren sie bei der Suche nach einer gemeinsamen Wohnung im 11. Arrondissement fündig geworden. In einer verwinkelten Altbauwohnung mit Blick auf den Friedhof Père Lachaise gründeten sie schließlich die WG „Les Mousquetaires Fous“ – „Die verrückten Musketiere“; die vier wurden schnell eine verschworene Gemeinschaft, lediglich die Frage, wer von ihnen denn nun die Rolle des D’Artagnan inne hatte, führte zu einem Quell immerwährender Kabbeleien.
Die Mädchen verband ein großer Traum; der Traum, als Model Karriere zu machen. Jede von ihnen besaß eine prall gefüllte Sed-Karte und hatte bereits bei einigen Shootings oder kleineren Modenschauen teilgenommen; der große Durchbruch ließ allerdings noch auf sich warten. Keine konnte von den unregelmäßigen und recht dürftigen Gagen leben, von denen zudem ein Viertel als Provision an die Agenturen floss. Trinidade und Chevy kellnerten daher an vier Tagen die Woche in einem Restaurant, Britta arbeitete in einer Mode-Boutique und Geraldine verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Empfangsdame in einem kleinen Hotel an der Rue Charenton.
„Wir sind Musketiere, Glücksritter, Verrückte!“, hatte Chevy einmal an einem feuchtfröhlichen Abend verkündet. „Und wir haben alle unsere ganz besonderen Pilgerstätten. Bei uns in den Staaten ist es nicht anders. Schauspieler und solche, die es werden wollen, pilgern nach Hollywood. Und Models zieht es eben nach Paris zu den Tempeln von Escada, Galliano, Gaultier und Lacroix!“
Eine derartige „Wallfahrt“ hatten die vier auch an diesem Tag hinter sich gebracht. Stella McCartney war auf der Suche nach frischen, unverbrauchten Gesichtern für ihre neue Winter-Prêt-à-porter-Kollektion gewesen und über 200 hoffnungsvolle Bewerberinnen waren ihrem Ruf gefolgt. Trinidade hatte sich während der zermürbenden Warterei des Öfteren gewünscht, als verkappter Musketier wirklich einen Degen zu besitzen, um sich mehr Platz und Aufmerksamkeit inmitten des Gewusels aus schlanken elfenartigen Körpern zu verschaffen. Zusammen mit Chevy und Geraldine war sie bereits beim ersten Durchgang ausgeschieden. Britta hatte es eine Runde weiter geschafft, nur um dann ebenfalls kurz vor der Ziellinie zu scheitern.
Die Schwedin erhob sich nun von ihrem Platz und streckte den Arm mit ihrem Absinth demonstrativ gen Himmel. Eine nordische Göttin, die grüne Träume statt flammender Freiheit versprach. „Weggefährten, Mitstreiterinnen, Freunde!“, deklamierte Britta so überzogen, als habe sie das Café in Paris mit einer Off-Broadway-Bühne in New York verwechselt. Die anderen am Tisch mussten sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszulachen. Die hoch gewachsene Göttin warf ihrem Publikum einen tadelnden Blick zu und fuhr dann fort: “Und wieder ging ein Gefecht verloren, doch der Kampf gegen die Unbill des Schicksals ist noch längst nicht entschieden.“
„Hört! Hört!“, riefen ihre Freundinnen im Chor.
„Mme. McCartney hat es nicht vermocht, unsere Allianz zu durchbrechen. Jedes Scharmützel, das wir überstehen, macht uns nur noch stärker, schmiedet ein ehernes Band um unsere Gemeinschaft. Nichts kann sich unserem Bund widersetzen. Einer für alle!“
„Und alle für einen!“, antworteten die übrigen Mitglieder. Die Mädchen standen nun auch auf und hielten mangels Degen ihre Gläser hoch gestreckt gegeneinander.
„Und habt ihr überhaupt mal die Farben gesehen?“, unterbrach Geraldine plötzlich den feierlichen Moment. „Nur Braun- und Grautöne! Einfach grässlich! Also wirklich, wer zieht solche Klamotten nur freiwillig an? Ich hätte mich jedenfalls nur mit dreifacher Gage in diese widerlichen Fetzen gezwängt.“
Augenblicklich brach ein wildes Lachen, Kreischen und Diskutieren los, das für kurze Zeit selbst den Verkehrslärm auf dem Boulevard übertönte. Die jungen Frauen kümmerten sich dabei nicht um die Gäste im Café oder neugierige Passanten; die übersteigerte Heiterkeit war für sie die richtige Medizin, ein heilsames Ventil, um sich den Frust von der Seele zu schreien. Und so dauerte es auch eine geraume Zeit, bis sie den Mann im schwarzen Anzug bemerkten, der an ihren Tisch getreten war. Er war etwa Mitte 30 und von schlanker, athletischer Statur. Sein schwarz glänzendes Haar war streng nach hinten gekämmt und endete in einem kurzen Pferdeschwanz, der mit einer silbernen Brosche gehalten wurde. Ein amüsiertes Lächeln verzog sein glatt rasiertes Gesicht; da seine Augen jedoch hinter einer Cazal-Sonnenbrille verborgen waren, konnte man seine Miene nicht genau deuten.
Chevy war die erste, die auf ihn aufmerksam wurde. Neben seinem Lächeln war es vor allem die lässige Art, wie der Fremde seinen Armani trug, die ihn aus der anonymen Menge der Flaneure hervorhob. Eine taubenblaue Krawatte von Marc Jacobs war das einzige Zugeständnis an Farbe. Chevy neigte sich ganz unverhohlen zur Seite, um auch die Schuhe des Mannes begutachten zu können. Gerade hier sparte auch der vermeintlich stilsicherste „Mann von Welt“. Nicht so in diesem Fall: Die schwarzen Kalbslederschuhe von Prada hatten mindestens 600 Euro gekostet. Entweder kam der Fremde aus einem begüterten Hause oder aber er war in seinem Job (wobei Chevy auch den eines Models nicht ausschloss) deutlich erfolgreicher als alle Mitglieder der „Verrückten Musketiere“ zusammen.
Als auch die übrigen Mädchen endlich ihren Gast bemerkten, verstummte plötzlich das kehlige Lachen und Schreien. Stühle wurden verschoben und schlanke Hälse gereckt. Das Lächeln des Fremden wurde eine Spur breiter; er genoss sichtlich seinen Auftritt.
„Excusez moi, Mademoiselles, wenn ich ihr fröhliches Beisammensein störe“, begann er mit einer leichten Verbeugung, „aber vorhin bei Mme. McCartney waren sie einfach so schnell verschwunden, dass ich keine Zeit fand, mit ihnen zu sprechen.“
Die Freundinnen wechselten verwirrte Blicke. Trinidade reagierte am schnellsten. Sie drehte sich vollends zu dem Mann herum und schenkte ihm ein süffisantes Grinsen. „Und? Hat Stella Sie etwa geschickt, um sich zu entschuldigen? Dann richten Sie bitte Mrs. McCartney aus, dass wir eine derartige Behandlung nicht gewohnt sind und kein sonderliches Interesse mehr an einer geschäftlichen Beziehung mit ihr haben.“
Der Fremde hob abwehrend die Hände. „Nein, nein“, sagte er, „hier liegt ein Missverständnis vor. Ich stehe in keinerlei Verbindung zu Mme. McCartney. Ich war so froh, sie endlich hier gefunden zu haben, dass ich ganz vergaß, mich vorzustellen. Ich bitte tausend Mal um Entschuldigung!“ Bei seinem anschließenden Diener berührte die Nase beinahe die Knie. Daraufhin nahm er seine Cazal vom Kopf und bedachte jedes der Mädchen mit einem freundlichen Lächeln. „Mein Name ist Alexandre Leduc. Ich bin Model-Headhunter und seit vielen Jahren ausschließlich für Petrus tätig. Ich..“
„Petrus?“, unterbrach
ihn Britta. DER Petrus? Petrus de Bruijn?“
Leduc nickte. „Genau
der. Und er sucht gerade Models für ein neues noch ganz geheimes
Projekt. Und….“
„Und Sie…Sie dachten, wir…?“, stotterte Britta mit aufgerissenen Augen.
Chevy versetzte ihr unter dem Tisch einen Tritt. „Shut up, my dear! Wenn du Alexandre jedesmal unterbrichst, werden wir nie erfahren, was er uns anzubieten hat.“
Schmunzelnd griff Leduc in die Innentasche seines Jacketts und entnahm ihr ein schmales silbernes Etui. „Damit Sie auch sehen, dass Sie es nicht mit einem durchgeknallten Stalker zu tun haben, der die ganze Geschichte nur zur Anmache erfunden hat.“ Mit diesen Worten überreichte er jedem der Mädchen eine Visitenkarte.
ALEXANDRE LEDUC
MODEL-AGENT
PARIS – LONDON – MAILAND – NEW YORK
Eine genaue Adresse, eine Telefonnummer, FAX oder E-Mail suchte man vergeblich. Gerade diese Schlichtheit in Verbindung mit der Aufzählung jener ganz bestimmten Städte, jener Metropolen von Mode und Glamour, verwandelte die drei Zeilen zu etwas Erhabenem. Zu einer Fahrkarte in die Welt der Schönen und Reichen. Die Mädchen starrten auf die kleinen Kärtchen, als verkündeten sie die Formel für den Weltfrieden.
Leduc tat so, als bemerkte er die Wirkung seines kleinen Taschenspielertricks nicht. Er nahm sich einen freien Stuhl von einem der Nachbartische und zwängte sich damit in die Lücke zwischen Geraldine und Trinidade.
„Petrus arbeitet wie gesagt an einem ganz neuen Projekt“, fuhr er im Plauderton fort. „Ein Projekt, das ihn schon seit vielen Jahren beschäftigt, und das er nun endlich realisieren will. Es hat sehr lange gedauert, bis er die richtige Crew für das Unternehmen zusammen hatte. Sieben Models werden die Ehre haben, mit ihm zusammen ein Stück Foto-Geschichte zu schreiben. Drei geeignete Kandidatinnen haben wir bereits gefunden.“ Er legte eine Kunstpause ein, um die Wirkung seiner nächsten Worte zu verstärken. Erst als sich die Augen seines Publikums von den Karten gelöst und wieder auf ihn gerichtet hatten, fuhr er fort:„Tja, und was soll ich sagen, als ich Sie vier heute beim Casting sah, da war mir sofort klar, dass meine Suche zu Ende war.“
„Ohhh, das ist ja …!!.“, begann Britta enthusiastisch. Ein erneuter Tritt von Chevy ließ sie jedoch augenblicklich wieder verstummen.
„Und warum gerade wir?“, fragte die Amerikanerin. Ihr Akzent war immer noch so stark, dass Geraldine unwillkürlich das Gesicht verzog. „Nicht, dass wir nicht um unsere Vorzüge wüssten, doch ich würde es gerne von einem Profi wie Ihnen hören.“
Leduc lehnte sich grinsend zurück. „Aber gerne doch.“ Er nickte in Brittas Richtung, wodurch deren Schmollen sofort wieder einem erwartungsvollen Lächeln Platz machte. „Diese junge Dame dort ist wie eine Gazelle, schlank, flink und voller Elan. Jene dort (hierbei richtete er seinen Blick auf Trinidade) ist wie eine Katze, elegant, verführerisch, aber mit Krallen bewehrt.“ Er drehte sich so, dass er nun direkt Geraldine ansah. „Die dritte im Bunde gleicht eher einer Taube, sanft, liebevoll und stets mit dem Kopf in den Wolken.“
„Und wie steht’s mit mir?“, fragte Chevy. „ Was für ein Exemplar bin ich in ihrer seltsam tierischen Menagerie?“
Leduc musterte sie eingehend, bevor er antwortete. „Gar kein Tier“, sagte er schließlich. „Sie erscheinen mir viel mehr wie eine grazile Nymphe, eine Gold schimmernde Nereide, die durch die Wogen des Meeres gleitet. Allerdings stets mit Poseidons Dreizack bewaffnet. Vielleicht also um ein paar Ecken mit einer kriegerischen Amazone verwandt.“
Seine letzte Bemerkung ließ die übrigen Mädchen in schallendes Gelächter ausbrechen, sehr zu Chevys Missfallen. Als sie sich bei den Freundinnen auf ihre ganz persönliche Art für die Unterstützung bedanken wollte, zogen diese blitzschnell die Beine hoch. „Passt auf!“, kicherte Geraldine. „Nehmt euch vor ihrem Dreizack in Acht!“ Ein weiterer Lachanfall war die Folge.
Leduc zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Sorry, aber es war gewiss nicht meine Absicht, mich lustig über Sie zu machen. Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass Sie alle vier auf ihre Art etwas Besonderes sind. Mein Auftraggeber sucht keine normierten Models für den Laufsteg; sein Projekt verlangt individuelle Schönheit und Grazie.“ Er machte eine weit ausholende Armbewegung. „Und dies, meine Damen, verkörpern Sie in jeglicher Hinsicht.“
Trinidade, die sich wieder beruhigt hatte, tippte ihren Nachbarn an die Schulter. „Süßholz raspeln können Sie. M. Agent“, sagte sie, „doch was lässt Sie so sicher sein, dass wir Ihr Angebot auch annehmen? Glauben Sie wirklich es reicht, einen großen Namen hier und ein paar nette Komplimente dort fallen zu lassen und schon liegen Ihnen alle Mädchen von Paris schmachtend zu Füßen?“
„Keineswegs“, entgegnete Leduc. „Ich bin mir natürlich im Klaren darüber, dass meine Offerte neben ideellen auch materielle Anreize haben muss. Niemand lebt schließlich allein von Luft und Liebe.“
„Und darf man auch erfahren, wie dieser ‚materielle Anreiz‘ aussieht?“
„Petrus würde Ihnen für ein Wochenende 10.000 anbieten.“
„10.000 Euro?“ Britta sog hörbar die Luft ein. „Das…das wären ja 2500 für jede von uns.“
Leduc schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, nein. Sie missverstehen mich schon wieder. Mein Auftraggeber würde natürlich 10.000 für jede von Ihnen bezahlen.“
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„Also, ich kann’s immer noch nicht glauben. Irgendwo muss doch ein Haken bei der Sache sein, oder was meint ihr?“ Es waren keine 24 Stunden seit dem Treffen mit Alexandre Leduc vergangen. Britta packte eine kleine Tasche mit Dessous und Toilettenartikeln und starrte immer wieder auf den Vertrag, den der Model-Agent jeder von ihnen gestern überreicht hatte. „Aber hier steht es schwarz auf weiß: 10.000 Euro für ein zweitägiges Foto-Shooting. Vier Nullen. Ich täusche mich doch nicht, oder?“
Chevy ließ ihre eigene Tasche auf das Bett fallen und gab ihrer Freundin eine kurze Umarmung. „Cool down, Babe“, sagte sie. „Die Zahlen sind auf allen Verträgen die gleichen. Es wurde doch auch mal Zeit, dass wir etwas Glück hatten, meinst du nicht? Und lass dir das Geld nur nicht zu Kopf steigen. In der obersten Liga bist du deshalb noch lange nicht angekommen. Leute wie Kate Moss, Ambrosia oder Lima machen’s nicht unter 20.000 – pro Tag!“
„Genau“, pflichtete ihr Geraldine zu. „Und sollte M. Leduc oder Petrus uns dennoch für eine Privat-Orgie gebucht haben, dann werden wir den Herren aber gehörig in die Eier treten!“
Hinter ihr trat Trinidade ins Zimmer. „Denn wir sind schließlich vier gegen zwei“, sagte sie. „Wir sind die unbesiegbaren Mousquetaires Fous!“
„Einer für alle! Und alle für einen!“, ertönte der vielstimmige Schlachtruf über die Dächer von Paris.
—
Nur wenig später schellte es an der Tür. Die Mädchen staunten nicht schlecht, als sie die schwarze Stretchlimousine bemerkten, die direkt vor dem Haus parkte. Ein Chauffeur in kompletter Livree mit Mütze und weißen Handschuhen nahm ihnen das wenige Gepäck ab und wies die Damen dann höflich an, im Fond Platz zu nehmen. Ein geschwungenes Ledersofa, das mindestens zehn Passagieren Platz bot, bildete ein U, an dessen offener Seite sich eine Bar anschloss. Pinkfarbene und blaue Neonbänder sowie diverse Hallogenspots an der Decke erzeugten ein sanftes Licht, das sich in Glasvitrinen und Chromarmaturen brach.
„Cool!“, grinste Chevy. „Das ist ja wie bei uns in Vegas.“ Sie stieg ein und begann augenblicklich damit, die Fächer und Regale der Bar zu inspizieren. Aus einem Sektkühler zog sie schließlich eine vom Eiswasser tropfende Flasche Champagner. „Na, wer sagt’s denn.“ Sie hielt den anderen ihr Fundstück wie eine Trophäe entgegen. „Petrus lässt sich wirklich nicht lumpen. Eine Magnum Taittinger Brut Rosé Prestige. Wie sieht’s aus, jemand Lust auf ein Gläschen?“
Bevor er losfuhr, machte der Chauffeur seine Gäste per Mikrofon noch darauf aufmerksam, dass man gerne auch das bordeigene Kino, das Internet, das Satellitentelefon oder die Musikanlage verwenden dürfe. Die Mädchen waren allerdings derart aufgekratzt, dass sie lediglich von letzterem Gebrauch machten. Und von den exquisiten Angeboten der Bar.
Die Fahrt sollte nicht lange dauern. Leduc hatte erklärt, dass das geheime Shooting in einer Villa unweit von Paris stattfinden würde. Petrus besaß in der Gegend um Fourqueux, einer Ortschaft im Nordwesten der Hauptstadt, ein kleines Anwesen, das er nur hin und wieder für besondere Anlässe nutzte.
Niemand im Fond warf allerdings mehr als einen flüchtigen Blick nach draußen; viel lieber genoss man das warme weiche Leder der Sitze, ließ sich von einem seltsamen Song-Mix aus Céline Dion, Eminem, Shania Twain und Mozart berieseln und knabberte verzückt an winzigen Canapés mit Krabben, Kaviar oder schwarzem Trüffel. Erst als der Wagen in einen unbefestigten Waldweg einbog, meldete sich die Außenwelt durch gedämpftes Holpern und Schwanken wieder zurück.
„Unser freundlicher Gönner legt tatsächlich großen Wert auf Privatsphäre“, bemerkte Geraldine schmunzelnd. Für geraume Zeit gab es um sie herum nichts weiter als Fichten und Eichen. Die hohe Mauer der Bäume schirmte das Sonnenlicht vollständig ab, so dass die Schneise in tiefe Schatten getaucht war.
„Du meine Güte“, sagte Chevy, wobei sie sich ihre Nase an der Scheibe platt drückte. „Zuerst eine Limo wie in Vegas und nun Wälder wie im tiefsten Maine; ich glaube, Petrus steht auf Amerika.“ Auch wenn sie sich so unbeschwert wie immer gab, konnte man doch eine gewisse Nervosität nicht überhören. Das ungleichmäßige Schwanken des Wagens verursachte bei den Mädchen zudem einen leichten Anflug von Seekrankheit. Niemand kostete mehr von den Hors d’oeuvres. Das ausgelassene Kichern machte mehr und mehr einer bedrückenden Stille Platz. Die düstere Phalanx der Bäume wollte einfach kein Ende nehmen. Schatten gingen in Schatten über. Die Tatsache, dass Eminem im Hintergrund soeben
„Some days I just wanna up and call it
quits,
I feel like I’m
surrounded by a wall of bricks,
Every time I go to get
up I just fall in piss,
My life’s like one
great big ball of shit,…“
rappte, trug auch wenig dazu bei, die Atmosphäre aufzulockern.
Zwei Dinge führten schließlich dazu, jede Form von aufkommendem Zweifel oder Unbehagen im Keim zu ersticken.
Das erste war das Licht.
Nach der schier endlosen Fahrt durch den Wald wirkte das Sonnenlicht nun geradezu wie ein warmes sanftes Willkommen für die Augen. Die Limousine hatte plötzlich eine weite Lichtung erreicht, auf der kunstvoll geschnittene Hecken und Büsche die wundersamsten Figuren bildeten. Zahllose Blumenbeete, Skulpturen und Springbrunnen fügten sich zu verwirrenden Ornamenten, die sicher erst von einer erhöhten Warte aus betrachtet ihre wahre Pracht entfalteten.
Sie folgten einem mit weißem Kies bestreuten Weg, der sich in einem sanften Bogen dem eigentlichen Ziel näherte.
Das zweite war das Haus.
In einer Linkskurve erhaschten die Mädchen erstmals einen Ausblick auf das Domizil des weltbekannten Fotografen. Spontane „Ahhhs!“ und „Ohhhs!“ waren die Folge. Es handelte sich keineswegs um eine schlichte „Villa“; selbst die Bezeichnung „Anwesen“ wirkte angesichts der Dimensionen eher lächerlich. Eingerahmt von hohen Eichen erhob sich eine sandfarbene Marmorfassade, die auf drei Etagen durch schlanke Fenster durchbrochen wurde. Strenge Renaissance- und üppige Barock-Stuckreliefs wechselten sich ab. Wie Pyramiden geschnittene Buchsbäume flankierten eine Außentreppe, die über zwei Aufgänge zum Hauptportal im ersten Stock führte. Die Form der Pyramide fand sich auch in den Dächern der beiden Rundtürme wieder, die die Außenflügel bildeten. Etwas versetzt, versteckt hinter einem kleinen Erlenhain schlossen sich flache langgestreckte Gebäude an, die offenbar als Gesindeunterkünfte oder Orangerien fungierten.
Plötzlich verstummte die Musik. „Wir sind da“, hörten die Mädchen die lakonische Stimme des Chauffeurs. „Willkommen im Château Séraphins.“
„Château?“, sagte Chevy. „Das da ist weder ein ‚Château‘ noch eine ‚Villa‘. Seht nur mal die vielen Giebel und Türme. Mein Gott, es sieht aus wie ein verdammtes Walt Disney-Schloss!“
Der Wagen hielt am Fuß der Treppe neben der Marmor-Statue eines Engels. Das pausbäckige androgyne Gesicht der Figur zeigte ein verträumtes Lächeln. Während sich der Engel mit einem Arm auf einen langen Stab stützte, wies er mit dem anderen einladend hinauf zum Eingang. Auf seinem Sockel, der mit dem Geländer verschmolz, war eine Inschrift eingraviert worden:
„HIC DOMUS ANGELORUM EST
ET PORTA COELIS“ [4]
„Kann jemand von euch zufällig Latein?“, fragte Geraldine.
Trinidade stöhnte leicht. „Ist schon ‘ne ganze Weile her. Hat auf jeden Fall irgendwas mit Engeln zu tun.“
„Wahnsinn, Frau Professor!“, kicherte Chevy. „DARAUF wären wir im Leben nicht gekommen.“
Die Mädchen warteten ab, bis der Chauffeur das Gepäck ausgeladen hatte und stiegen dann – der freundlichen Aufforderung ihres himmlischen Concierges folgend – die Treppe hinauf.
Sie hatten noch nicht die Hälfte der Stufen erklommen, als sich über ihnen das Portal öffnete. Ein kleiner untersetzter Mann mit Halbglatze trat auf die Empore hinaus und blickte breit lächelnd auf die Neuankömmlinge hinab. Dabei hielt er seine Arme erhoben, als wollte er wie ein Priester seinen Segen spenden. Gekleidet war er in einen schwarzen Seidenkimono mit Drachenstickereien.
„Welche Freude!“, jubelte er mit einer hohen Fistelstimme. „Welch Sonnenschein in meinem bescheidenen Heim! Willkommen! Treten Sie nur näher, meine Lieben! Oh, seien sie mir aufs Allerherzlichste willkommen im ‚Château Seraphins‘!“
Britta drehte sich halb zu Trinidade um. „Na, wenn das nicht der Hausherr persönlich ist“, flüsterte sie, nur mühsam ein Lachen unterdrückend. Abgesehen von einigen kleinen Porträtaufnahmen hatte keines der Mädchen den Starfotografen bislang in natura gesehen; Petrus de Bruijn mochte ein in aller Welt gefeierter Künstler sein, als Mann machte er allerdings eine höchst lächerliche Figur.
Wie ein nervöser Buddha wippte er ungeduldig auf seinen Fußballen auf und ab. Goldene Ringe und Ketten fingen dabei abwechselnd die Sonnenstrahlen und warfen den Mädchen blendende Lichtspeere entgegen.
„Alexandre hat wirklich nicht zu viel versprochen“, sagte Petrus, als er nacheinander jeden seiner Gäste mit einem formvollendeten Handkuss begrüßte, „jede von Ihnen, meine Damen, ist ein Fest für die Augen. Wie geschaffen für mein – nein, sagen wir besser – für unser großes, ja großartiges Projekt!“ Er fuchtelte mit seinen kurzen Wurstfingern in Richtung Eingang. „Aber kommen Sie! Kommen Sie! Lassen Sie mich Ihnen zuerst das Haus und natürlich Ihre Zimmer zeigen. Nur keine Schüchternheit. Mi casa es su casa.“[5]
Sie folgten dem quirligen Hausherrn durch ein pompöses mit Säulen und Stuckornamenten verziertes Vestibül. Alles im Raum schien nur aus Marmor, Glas oder Blattgold zu bestehen. An den Wänden hingen riesige Ölgemälde. Die mehrere Meter hohen und zuweilen fünf oder sechs Meter breiten Leinwände zeigten allerdings keine Schlachten oder Panorama-Landschaften; alle Bilder hatten nur ein einziges Sujet: Engel. Die diversen Künstler hatten sie als gigantische Über-Wesen in fallenden Roben, als Verkünder, Heilsbringer, Beschützer, Rächer oder eine Schar musizierender pausbäckiger Putten dargestellt.
„Château Seraphins“, murmelte Trinidade ehrfürchtig. „Das Haus der Engel.“
De Bruijn trippelte wieder einige Schritte zurück. „Oh, wie ich sehe, ist ihnen meine kleine Leidenschaft bereits aufgefallen. Wundervolle Wesen, n’est-ce-pas? Seit vielen, vielen Jahren bin ich nun schon ein eifriger Sammler.“ Er kicherte. „Manche meiner Freunde behaupten sogar ein ‚besessener‘. Schuld daran sind wohl meine Eltern. Wie sie an meinem Vornamen unschwer erkennen können, hatten sie ein Faible für alles Religiöse. Und irgendwie haben sie mich damit angesteckt.“
„Nun ja“, lächelte Geraldine, „aber immerhin haben sie Sie ja nicht Gabriel getauft.“
Der kleine Mann fuhr blitzschnell zu ihr herum. Für den plump scheinenden Künstler war es eine derart unerwartete und katzenartige Bewegung, dass Geraldine unwillkürlich zwei Schritte zurück wich. Für einen winzigen Moment glaubte sie so etwas wie Zorn oder unermesslichen Hass in de Bruijns Augen auflodern zu sehen, dann aber verschwand alles wieder hinter seinem breiten freundlichen Lächeln.
„Sie werden es nicht glauben, meine Liebe“, sagte er schließlich, „doch Gabriel lautet mein Zweitname.“
Bildete sie es sich nur ein, oder hörte sie doch einen gewissen Unmut in seiner Stimme? War sie etwa zufällig auf ein Geheimnis gestoßen, das ihr Gastgeber nur höchst ungern enthüllt sah?
„Aber dies hier ist nur ein unbedeutender Teil meiner Sammlung“, unterbrach de Bruijn ihre Gedanken. „Kommen Sie! Kommen Sie! Ich muss Ihnen noch viel mehr zeigen.“ Wie eine diensteifrige Geisha tänzelte er auf einen Durchgang mit hohem Tonnengewölbe zu. Prächtige Trompe-l’œil[6]-Malereien mit Kumulus-Wolken erzeugten die Illusion eines weiten Himmels.
„Kommen Sie, meine Damen!“, lächelte er. „Wenn Ihnen diese Engel gefallen, dann werden Sie von den nächsten geradezu begeistert sein.“
Ihr Führer hatte nicht zu viel versprochen.
Der Durchgang mündete in ein weites Rund, das von einer etwa 20 Meter hohen Kuppel überdacht wurde. Schlanke goldene Pilaster strebten von allen Seiten in die Höhe, wo sie sich strahlenförmig unter einer als Sonne stilisierten Laterne trafen. Das Eindrucksvollste war allerdings das monumentale Fresko, das sich über den größten Teil der Kuppel erstreckte. Der oder die Maler hatten dabei die strenge Segmentierung der Fläche durch die Säulen ganz bewusst durchbrochen. Das Fresko spielte regelrecht mit den Pilastern. So erkannte man Wolken, die hinter aber auch vor den Streben entlang zogen und sie damit verhüllten. Ganz ähnlich waren sie mit der Komposition der Figuren verfahren. Und alles waren Engel.
Die Kuppel schien förmlich von den Schwingen der unzähligen Himmelsboten zu vibrieren.
„Das ist ja…..Wahnsinn!“, keuchte Britta. „Es sieht aus, als ob….als ob…“
„Als ob sie jeden Moment zu uns hinunter geflogen kämen, nicht wahr?“, half ihr de Bruijn. „Ja, ich bin auch mächtig stolz darauf. Ich muss gestehen, dass es sich hier um einen fast exakten Nachbau der Kuppel des Petersdoms handelt, im kleineren Maßstab selbstverständlich. Das Fresko allerdings wurde nach meinen eigenen Vorstellungen konzipiert. Es ist das Meisterstück zweier junger, höchst begabter russischer Maler.“
Die staunenden Mädchen drehten sich im Kreis, bis ihnen schwindlig wurde. Man konnte so lange hinaufschauen wie man wollte, immer wieder entdeckte man neue Details, neue Wunder. Glaubte man gerade noch, eine friedliche, ja fröhliche Szenerie zu betrachten, konnte eine Veränderung des Blickwinkels um nur wenige Grad zu einer vollkommen anderen Einschätzung führen. Plötzlich waren dort verzerrte Gesichter voller Trauer, Agonie oder Wut. Geballte Fäuste hielten blitzende Speere und Schwerter. Verrenkte Leiber, die sich im Todeskampf wanden. Konnten Engel überhaupt sterben? Eine weitere Drehung und schon erwarteten den irdischen Beobachter wieder sanftes Lächeln und offene Arme, Güte und Vergebung. Die Kuppel war wie eine umgedrehte Schale, die ein komplexes Panorama der unterschiedlichsten Emotionen auf seine Betrachter hinab goss. Ein sakrales Kaleidoskop himmlischer Sphären.
„Hat das Bild auch einen Namen?“, fragte Trinidade.
„Den hat es, meine Liebe. Den hat es in der Tat“, entgegnete de Bruijn, ohne seinen Blick von der Decke zu lösen. „Nennen Sie es Aberglaube, aber ich kann den Titel leider nicht verraten. Das Werk ist nämlich noch unvollendet; eine Kleinigkeit fehlt noch. Eine entscheidende Kleinigkeit.“ Petrus beließ es bei dieser geheimnisvollen Andeutung und führte seine Gäste munter plaudernd durch weitere Hallen und Pavillons, die alle einen Stilmix aus Renaissance, Barock und Empire repräsentierten. Die Gruppe gelangte schließlich zu einer breiten Marmortreppe, die in die oberen Etagen führte.
„Ich habe Ihnen Zimmer im Westflügel reserviert“, erläuterte Petrus. „Alle mit Blick auf die Gärten. Ich hoffe, sie werden ihren Ansprüchen genügen.“ Die Mädchen hegten daran keinerlei Zweifel. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den „Zimmern“ um zwei miteinander verbundene Suiten, die jede für sich mit Leichtigkeit ihre gesamte Wohnung aufgenommen hätte. Die Bäder waren Säle aus Spiegeln und schimmernd weißen Kacheln, in denen sich selbst die riesigen Jakuzzis wie unscheinbare Taufbecken ausnahmen.
Petrus demonstrierte ihnen kurz die Bedienung der meist gut versteckten Steuermodule und verabschiedete sich dann. „Sie können sich jetzt in aller Ruhe frisch machen“, sagte er. „In etwa zwei Stunden würde ich sie gerne im Speisesaal zum Mittagessen empfangen. Dann werden sie auch die übrigen Models und meine Crew kennenlernen.“ Er wandte sich zur Tür, hielt aber nochmals inne. „Ach ja“, schmunzelte er. „Es ist kein formeller Empfang. Machen Sie sich also keine Sorgen wegen der Kleiderordnung. Falls Sie aber dennoch etwas anderes überziehen wollen, dann werfen Sie doch mal einen Blick in die Schränke. Ich habe da eine kleine Auswahl aus der Kollektion befreundeter Couturiers zusammen gestellt.“
Petrus hatte die Tür noch nicht geschlossen, als die Mädchen bereits wie hysterische Teenager auf die Schränke zustürmten.
Britta war die schnellste. Sie zog ein langes rotes Seidenkleid hervor und hielt es prüfend gegen das Licht. „Ein Dolce & Gabbana!“, rief sie entzückt.
„Ein Gucci!“, ertönte die Antwort aus dem Nachbarraum.
„Ein Valentino!“
„Ein Armani!“
Als die Freundinnen schließlich zum Mittagessen gingen, trug keine von ihnen mehr ein eigenes Kleid. Petrus war zudem so umsichtig gewesen, auch eine große Kollektion an passenden Schuhen bereit zu stellen. Inmitten des luxuriösen Ambientes fühlte sich jede wie eine glückliche Cinderella. Niemand störte sich daran, dass die Fee in Gestalt eines dicklichen Zwerges mit Fistelstimme aufgetreten war. Und niemand verschwendete auch nur einen Gedanken daran, was wohl im wahren Leben mit all den schönen Dingen geschehen würde, wenn die Mitternacht herein brach.
Der Speisesaal wurde von einer breiten Tafel dominiert, an dem etwa zwei Dutzend Gäste Platz fanden. Auf schwerem Brokat reihten sich kostbare Porzellanteller, Kristallgläser und Karaffen aneinander. Etwa die Hälfte der hochlehnigen aus dunklem Holz gefertigten Stühle war besetzt. Die Sitzordnung sah offenbar eine strikte Geschlechtertrennung vor; während auf einer Seite acht Herren Platz genommen hatten, saßen ihnen drei junge Damen gegenüber. Die Männer waren alle im Alter zwischen 40 und 60 Jahren und trugen maßgeschneiderte Dinner-Jacketts mit Fliege. Die drei Frauen, bei denen es sich offenbar um die übrigen Models handelte, hatten sich in Stoffe von Prada und Versace gehüllt. Britta stieß die neben ihr stehende Trinidade heimlich an. „Das zum Thema ‚kein formeller Empfang‘“, flüsterte sie ihr ins Ohr.
Vier Plätze am oberen Ende des Tisches waren frei gelassen worden. Dort, am Kopf der Tafel, thronte der kleine Hausherr, der nun freudig erregt aufsprang, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
„Ahhh, da sind sie ja!“, rief er. Seine fuchtelnden Arme schienen dabei ein unsichtbares Orchester zu dirigieren. „Kommen Sie an meine Seite! Treten Sie näher! Nun, da unsere kleine Runde endlich vollzählig ist, können wir mit dem Déjeuner beginnen.“ So, als nähere sich eine delikate Vorspeise, taxierte er jede ihrer Bewegungen. „Wunderbar! Wunderbar! Und es wird ein Fest für den Gaumen und die Augen werden.“
Die Mädchen hatten kaum Platz genommen, als sich am anderen Ende des Saales die Türen öffneten und eine Schar von nicht weniger als sieben Dienstboten erschien. Auf silbernen Platten und Schalen wurden dem staunenden Publikum nach und nach die exquisitesten Speisen präsentiert. Es gab von Wachteln eingerahmte Fasane und Rebhühner, zwei Spanferkel mit Orangen im Maul, Lachs, Forellen und Langusten, die auf Bergen von Garnelen ruhten. Eindeutiger Höhepunkt war ein über zwei Meter langer Schwertfisch, der mit Seebrassen und Steinbutt gefüllt war. Vier Kellner rollten das imposante Tier auf einem separaten Wagen zum Tisch. Die Köche hatten alle Speisen so angerichtet, dass das jeweilige Tier nahezu unangetastet wirkte. Die Fasane schienen jeden Moment auffliegen zu wollen und die Lachse ruhten nur kurz, um dann über Hindernisse von Mangos und Süßkartoffeln hinweg flussaufwärts zu springen. Neben aller Dekadenz, neben allem Prunk und Überfluss, konnte sich selbst der kritischste Beobachter einem gewissen Faszinosum nicht entziehen. Petrus de Bruijn hatte auch diesmal nicht zu viel versprochen: Das Mittagessen war nicht allein wegen der äußerst attraktiven Gäste ein Augenschmaus; die sorgfältig arrangierten Delikatessen bildeten ein üppiges barockes Stillleben, ein Gemälde – nicht Öl auf Leinwand, sondern Federn, Fleisch und Schuppen auf Silber und Brokat.
Während des Essens machte Petrus seine Gäste auf nonchalante Art miteinander bekannt. Es waren jedoch so viele Namen, dass man die meisten kurz nach ihrer Nennung schon wieder vergessen hatte. Nur eines wurde deutlich: Links saßen die Models und rechts die Mitarbeiter des Fotografen. Worin aber genau die jeweiligen Aufgaben der distinguiert wirkenden Herren bestanden, wurde nicht erläutert. Kabelträger und Lichtdouble sahen jedenfalls anders aus.
Nachdem das lukullische Fest mit einer Créme Brûlée und türkischem Mokka seinen Abschluss fand, bat Petrus seine Gäste in einen Nebenraum. Eine Leinwand in Cinemascope-Dimensionen wurde durch einen an der Decke montierten Beamer erhellt. Vier im Halbrund angeordnete Sitzreihen, die mit dunkelrotem Samt bezogen waren, vervollständigten das Bild eines Privatkinos.
Petrus geleitete die Damen zur ersten Reihe, während seine Crew dahinter Platz nahm.
„Machen Sie es sich bequem“, sagte er. „Und keine Angst: Sie müssen hier nicht die restaurierte und ungekürzte Fassung von ‚Ben Hur‘ über sich ergehen lassen. Ich werde auch keinen ermüdenden Power-Point-Vortrag halten.“ Er drückte eine Taste seines Laptops, worauf ein Symbol auf der Leinwand erschien. Es zeigte zwei gekreuzte Schlüssel, um die kreisförmig die Worte „VERA UNICA“ angeordnet waren. „Mein Firmenlogo, falls es jemand von Ihnen noch nicht kennen sollte“, erläuterte de Bruijn selbstironisch. „Die Schlüssel stehen natürlich für meinen Namensgeber den Heiligen Petrus und das Motto ‚VERA UNICA‘, was so viel wie ‚Das einzig wahre (Heilmittel)‘ bedeutet, repräsentiert die Heilige Veronika, die ganz nebenbei ja auch die Schutzheilige der Fotografen ist.“
Der kleine Mann wandte sich seinem Publikum zu und starrte einige Zeit versonnen ins Leere. „Nun wäre es wohl an der Zeit, Sie über die genauen Hintergründe unseres Beisammenseins zu informieren“, begann er schließlich. „Sie müssen wissen, dass ich neben meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Mode- und Werbefotograf einer heimlichen Passion fröne. Wie ich im Laufe der Jahre feststellte, war ich allerdings nicht der einzige, der diese – nun sagen wir einmal – abwegigen oder besonderen Neigungen verspürte. Einige meiner renommiertesten Kollegen waren auf ganz ähnlichem Gebiet tätig – äußerst diskret selbstverständlich. Wir haben daher einen höchst elitären Club gegründet, der nur aus sechs Mitgliedern besteht. Neuaufnahmen schließen unsere Statuten grundsätzlich aus.“
Petrus machte eine Kunstpause. Ein Tastendruck ließ ein neues Logo erscheinen. Es zeigte einen Totenschädel, durch dessen Augenhöhlen sich eine Rose wand. Auch hier wurde das Bild von einem Spruchband umrahmt: IN HORROREM AMOENITAS.[7]
„Unser Club hat noch nicht einmal einen Namen“, fuhr Petrus fort, „nur dieses Signet. „Alle unsere Projekte sind höchst geheim und nur für die Augen der Clubmitglieder bestimmt.“ Er zwinkerte der ersten Reihe verschwörerisch zu. „Und natürlich für diejenigen, die an diesen Arbeiten beteiligt sind.“ Er unterbrach erneut und drückte sich ein Taschentuch gegen die Nase. Auf dem weißen Stoff bildete sich schnell ein großer Blutfleck. „Entschuldigen Sie die kleine Störung“, erklang seine näselnde Stimme. „Kein Grund zur Besorgnis.“ Er verharrte etwa eine Minute lang in dieser Position, bevor er es wagte, das Taschentuch wieder zu entfernen. Als er bemerkte, dass die Blutung gestoppt worden war, kehrte sein strahlendes Lächeln zurück, so, als sei nichts geschehen.
„Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich wollte Ihnen von den Projekten unseres Clubs berichten. Nun, das, was alle Mitglieder miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass wir es in unserem Beruf tagein tagaus mit außerordentlich schönen Menschen zu tun haben. Doch was ist Schönheit überhaupt? Liegt sie nur auf der Oberfläche? Auf seidigen Haaren und glatter Haut? Ist sie nur die banale Realität, die Linse oder Auge wahrnehmen? Oder existiert eine weitaus fundamentalere Schönheit darunter verborgen? Irgendwo versteckt in den Tiefen der menschlichen Seele? Unser Club hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese verborgene Schönheit durch den Prozess der künstlerischen Gestaltung ans Tageslicht zu bringen.“
Ein neues Bild erschien auf der Leinwand. Diesmal war es eine Farbfotografie, die ein Netzwerk abstrakter rechteckiger und quadratischer Formen mit abgerundeten Kanten zeigte.
„Dies hier ist allerdings keine Arbeit von mir“, sagte Petrus. „Es ist vielmehr ein Bild, das andere von mir gemacht haben. Eine extreme Nahaufnahme sozusagen.“ Er kicherte leise. „Der Titel lautet ‚AML‘. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie harmlos und unscheinbar Abkürzungen wirken? ‚HIV‘, ‚GAU‘, DEFCON 1‘, alles nette, handliche Begriff, nicht wahr? Nun, ‚AML‘ heißt in voller Länge ‚Akute myeloische Leukämie‘ und ist alles andere als ‚nett‘. Diese hübschen violetten Formen dort, die wie Kieselsteine angeordnet sind, machen sich soeben überall in meinen Knochen und Blut breit. Unreife Granulozyten heißen die Mistdinger, und sie verdrängen meine roten Blutkörperchen und Blutplättchen, all das, was eigentlich im Blut sein sollte. Daher kommt es auch, dass ich an den unmöglichsten Stellen blute, meine Lymphknoten die Größe von Grapefruits haben und meine Stimme aufgrund permanent entzündeter Mandeln zwischen drei Oktaven hin und her hüpft.“ Bei diesen Worten schob er den Ärmel seines weiten Kimonos noch oben und entblößte einen Arm, der aussah, als gehörte er einem Unfallopfer. Binden und Wundpflaster versorgten nur notdürftig die zahllosen offenen Stellen. Dort, wo die Haut unbeschadet war, zeigten sich grüne und blaue Flecken.
„Kein schöner Anblick, nicht wahr?“, kicherte der kleine Fotograf. Er ließ den Ärmel schnell wieder fallen. „Aber denken Sie jetzt nicht, ich zeige Ihnen dies alles nur, um Mitleid zu erwecken. Au contraire, Mesdames! Das vergrößerte Abbild meines Blutes ist lediglich ein weiterer Beweis für das Motto unseres Clubs: ‚Auch im Schrecklichen liegt Schönheit verborgen‘. Sind sie nicht wunderschön, meine kleinen, purpurnen Meuchelmörder?“
Niemand im Publikum reagierte auf die offenbar ohnehin rhetorisch gestellte Frage.
„Doch kommen wir nun zu den tatsächlichen Arbeiten der Clubmitglieder“, sagte Petrus. „Obwohl wir nur eine so kleine Gruppe sind, existieren drei verschiedene Ideologien.“
Es erschien das Porträtfoto einer jungen attraktiven Frau. Das Ungewöhnliche war jedoch, dass der Frau mitten auf der Stirn ein etwa zehn Zentimeter langes Horn wuchs.
„Dies ist das Werk eines ‚Extensionisten‘“, erläuterte Petrus. „Diese Künstlergruppe verfolgt das Ziel, die Schönheit des menschlichen Wesens durch besondere Erweiterungen und Ergänzungen zu betonen. Wie sie leicht erkennen können, gehen sie dabei aber deutlich weiter, als die neumodischen Spielereien der Piercing- und Implanting-Szene.“
In schneller Folge wurden Bilder gezeigt, die Frauen mit Dornen, Stier-, Widder- und Antilopenhörnern darstellten. Die tierischen und zuweilen auch mechanisch-geometrischen Auswüchse durchbrachen dabei Stirn, Schläfen, Hals, Schultern, Arme und Brüste. Einigen Modellen wuchsen sogar Haiflossen aus dem Rückgrat. Alles war so retouchiert worden, dass keinerlei Übergänge zwischen Haut und „Erweiterung“ erkennbar waren. Die Illusion von seltsam schönen aber gleichsam auch erschreckenden Hybriden war perfekt.
„Die nächsten Bilder zeigen Arbeiten der ‚Detrahenten‘“, sagte Petrus. „Das künstlerische Konzept ist hier reiner, aber in seiner Konsequenz auch durchaus gewöhnungsbedürftiger. Also, bitte nicht erschrecken, meine Damen. Meine Kollegen versuchen hier, eher in einer Art Umkehrschluss zu den ‚Extensionisten‘, Schönheit durch Reduktion zu gewinnen.“
Als das erste Foto gezeigt wurde, zuckten mehrere der Models hörbar zusammen. Das Bild zeigte den nackten Oberkörper einer Frau; ihre Schultern gingen nahtlos in den Oberkörper über, ohne auch nur den Ansatz von Armen zu zeigen. Es handelte sich eindeutig um keine Missbildung, wie es etwa das Medikament Contergan hervorgerufen hatte. Das Beunruhigende und Erschreckende des Bildes wurde durch die vollkommene Abwesenheit der Extremitäten hervorgerufen.
Die folgenden Aufnahmen waren noch weitaus verstörender.
Fehlten anfänglich bei den dargestellten Models nur ein oder zwei Gliedmaßen, steigerte sich dies bis zum absoluten Exzess. Immer wieder sah man nun weibliche Torsi, die als Elemente von perversen Stillleben fungierten oder als Landschaftsdekoration eingesetzt wurden. Meist waren es Aktaufnahmen; zuweilen trugen die derart missgestalteten Frauen aber auch Kleidung, die man offenbar exklusiv für die jeweiligen Anforderungen entworfen hatte. Es gab Jacketts, Hemden und Blusen, deren Schnitt sich der bloßen Existenz von Ärmeln verweigerte. Eine Modenschau des Grauens.
Einige der Mädchen schlossen angewidert die Augen oder stöhnten wie unter Schmerzen auf.
„Bei allem nötigen Respekt, Monsieur de Bruijn“, begann plötzlich Geraldine. Angesichts der morbiden Szenerie hatte ihre Stimme einen überraschend festen Klang. „Ihre sonderbaren Freunde und ihr Club in allen Ehren, aber diese Bilder sind einfach krank. Abstoßend! Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sich die hier abgebildeten Frauen mit diesen ‚künstlerischen Verfremdungen‘ einverstanden erklärt haben. Wenn ich jedenfalls wüsste, dass man meine Bilder mit Photoshop oder anderen Mitteln in derart widerliche Missgeburten verwandelt hätte, würden Sie Post von meinem Anwalt bekommen.“
Petrus nahm die Kritik mit einem amüsierten Lächeln entgegen. „Contenance, meine Liebe! Contenance! Wie Ihnen sicher geläufig sein dürfte, trifft jegliche Neuerung im Bereich der Kunst stets zuerst auf Ablehnung. Der größte Teil der Gesellschaft ist viel zu sehr im Hier und Jetzt gefangen. Daher bedarf es einer Avantgarde, einer Minderheit von Visionären, um Barrieren zu sprengen, physische wie ideologische. Es sind nicht die Wissenschaftler, die die Entwicklung der Menschheit vorantreiben. Oh nein, es sind die Künstler! Wir sind die wahren Savants. [8] Nur durch unsere Arbeiten eröffnen sich vollkommen neue Perspektiven, neue Horizonte. Neue Ziele, zu denen der Mensch als Individuum oder als Gemeinschaft im Hinblick auf seine Vervollkommnung streben kann.“
„Vervollkommnung?“, rief Geraldine empört. „Sie bezeichnen DAS HIER als Vervollkommnung? Ich sehe hier nur ekelhafte Entartung und Perversion!“
Der kleine Fotograf tupfte sich wieder die Nase. Offenbar hatte die Diskussion die Blutung erneut angeregt. Seinem Lächeln tat dies jedoch keinen Abbruch. Wie bei einer Maske schienen die Lippen in einem breiten U erstarrt zu sein.
„Entartung?“, grinste er. Diesmal lachten seine Augen allerdings nicht mit. „Seien Sie vorsichtig mit derartigen Begriffen, meine Liebe! Schon einmal glaubten verblendete Wahnsinnige, Kunstwerke in dieser Form diffamieren zu müssen. Wir alle wissen, was sich daraus entwickelte.“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
“Aber was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“[9], seufzte er. „Das ist das Kreuz, das wir Künstler alle tragen müssen. Die Menschen um sie herum begegnen ihnen mit Unverständnis und Abscheu, weil ein Schleier über ihren Augen liegt. Ein teuflischer Schleier, gewebt aus Normen und Gesetzen, aus Ethik und Moral.“
Durch die Erregung wich sein Fisteln kurzfristig einem tiefen Krächzen.
„Die Aufgabe von Kunst, von wahrer Kunst, ist es, diesen Schleier vom Kopf der Menschheit zu reißen! Und dabei ist jedes Mittel recht. Zuweilen muss man die Sklaven auch mit Gewalt vom Joch ihrer Unterdrückung befreien.“ Er wies demonstrativ zur Leinwand. „Unsere Modelle sind solche Sklaven, die wir befreit haben. Sie haben alle die Schönheit und den Sinn unserer Arbeit begriffen; am Ende zumindest.“
„Sie waren tatsächlich mit diesen…diesen Fotos einverstanden?“, fragte Geraldine ungläubig.
„Oh ja!“, entgegnete Petrus. „Sie wurden zu glücklichen Jüngern unserer neuen Lehre. Die Fotos dort sind keineswegs manipuliert worden, müssen Sie wissen. Den von uns Auserwählten wurde die seltene Gnade zuteil, die künstlerische Vervollkommnung am eigenen Leibe zu erfahren.“
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Sinn seiner Worte das Bewusstsein der Zuhörer erreichte. Der normale Verstand sträubte sich mit aller Macht gegen die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Instinktiv suchte man nach harmlosen Erklärungen, nach Möglichkeiten der Neu-Interpretation, nach einer Flucht aus dem Unvorstellbaren. Alles vergeblich; ohne jede Vorwarnung waren Petrus‘ Gäste aus einem skurrilen Panoptikum in eine Vorhölle katapultiert worden.
Und selbst dann, als die Mädchen anfingen, die Wahrheit zu begreifen, zeigte keines von ihnen eine sichtbare Reaktion. Wie leblose Marionetten verharrten sie in ihren Sitzen.
Petrus plauderte derweil ungerührt weiter.
„Was nun meine Person betrifft, so gehöre ich keiner dieser beiden Kunstrichtungen unseres Clubs an. Ich selbst bezeichne mich als einen ‚Concinnisten‘.“ [10]
Ein neues Foto erschien auf der Leinwand. Es zeigte eine nackte Frau, die auf allen Vieren über eine Wiese kroch. Sie besaß jedoch weder Hände noch Füße. Ihre Unterarme und Unterschenkel endeten in etwas, das Schafsfüßen ähnelte.
„Ich bin eher der Vermittler zwischen den Extremen“, erklärte der Fotograf. „Meine Kunst lebt vom Element der Fusion Von der Ästhetik der Verschmelzung.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Sehen Sie, da ist es doch passiert. Jetzt bin ich alter Tölpel doch wieder ins Schwafeln geraten und habe mein armes Publikum zu Tode gelangweilt. Entschuldigen Sie vielmals! Sie werden ja schon recht bald selbst beurteilen können, in wieweit es mir gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen.“ Er gab seinen Assistenten ein Zeichen, woraufhin diese sich von ihren Plätzen erhoben.
„Es ist mein bislang ehrgeizigstes Projekt“, fuhr er fort. „Aber sollte es das nicht auch sein?! Immerhin handelt es sich auch um mein letztes.“ Ein trockener Husten unterbrach ihn. Petrus verharrte in gekrümmter Haltung bis die Spasmen wieder abebbten. Seine Hand zitterte deutlich, als er sich mit dem Taschentuch über den Mund wischte. Da der Stoff bereits mit Blut besudelt war, konnte man nicht genau erkennen, ob das Rot nun an Intensität gewonnen hatte. „Viele Jahre hat es gedauert, bis ich die geeigneten Mitarbeiter für meine Aktion gewinnen konnte.“
Einige der Mädchen erwachten endlich aus ihrer Starre und versuchten sich zu erheben, doch starke Arme drückten sie wieder in die Polster zurück. Auf ein Nicken von Petrus hin injizierte man jedem der Models ein starkes Sedativum in die Halsschlagader. Augenblicklich erstarb jeglicher Widerstand. Den Fotografen schien der Umstand, dass sich seine Zuhörer nun in einem Dämmerzustand befanden, nicht sonderlich zu stören. Mit unvermindertem Enthusiasmus sprach er weiter. „Und ich benötigte ganz besondere Spezialisten, die alle selbst Künstler auf ihrem Gebiet waren. Künstler, die zudem die Ziele unseres kleinen Clubs verstanden und unterstützen wollten. Und diese Genies habe ich nun endlich gefunden, und sie, meine Damen, haben das unermessliche Glück, der Werkstoff für diese begnadeten Hände zu sein. Meine Vision und die Kunstfertigkeit meiner Mitarbeiter werden ihre Körper zu neuen Sphären erheben. Sie alle werden teilhaben an einer neuen Offenbarung! Jubilieren Sie mit mir! Das Warten hat ein Ende. Die Zeit ist nah! Hosianna!
Die Zeit ist nah!“
Trinidade glaubte, zu schweben. Selbst als sie blinzelnd begann, ihre Augen zu öffnen, war sie sich sicher, noch immer in einem bizarren Traum verfangen zu sein. In einem beunruhigenden Traum. Seltsame Schreie drangen an ihr Ohr, hohe Töne, von denen sie nicht sagen konnte, ob sie von Tieren oder Menschen stammten.
Sie blinzelte stärker und langsam klärte sich ihre Sicht. Trinidade war nun fest davon überzeugt, noch immer zu träumen. Überall um sie herum schwebten Engel, gemalte aber auch solche aus Fleisch und Blut. Und einige von diesen himmlischen Wesen besaßen Gesichter, die ihr vertraut erschienen. In ihrem Traum hatten sich Brit, Geraldine und Chevy in wunderschöne Engel verwandelt und sie schwebte zusammen mit ihnen am Himmel.
Ihr Geist hatte ihren schlafenden Körper in eine zauberhafte Welt entführt und doch empfand sie aus irgendeinem Grunde Angst. Verwirrt suchte Trinidade nach der Ursache. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es die Engel waren, die jene hohen Töne ausstießen. Und diese Erkenntnis wandelte zugleich auch die Klangfarbe des Gehörten. Plötzlich begriff sie, dass es sich bei den Tönen nicht um fröhliches Summen oder ausgelassenes Rufen oder Singen handelte, es waren abgehackte wahnsinnige Schreie, die weit jenseits einer Schwelle von Schmerz und Verzweiflung ausgestoßen wurden. Da es ihr aber nicht gelingen wollte, diese Beobachtung mit irgendeinem Aspekt der ihr vertrauten Welt zu verknüpfen, trieb sie auch weiterhin in einem diffusen Zwischenreich aus Wachen und Schlafen.
Sie hatte das verwirrende Gefühl, sich selbst und die anderen als Außenstehende betrachten zu können. Das surreale Szenario verlor dadurch seinen Schrecken; nichts, von dem, was sie sah, betraf schließlich sie selbst. Nun erkannte sie auch die Engel an den Wänden. Sie waren ihr nur daher so fremd erschienen, weil sie das Gemälde bislang nur aus größerer Entfernung hatte sehen können. Sie befand sich in greifbarer Nähe des Engelsfreskos, direkt unterhalb der großen Kuppel des ‚Château Seraphins‘.
Weitere Details fielen ihr nun ins Auge. Senkrechte Linien durchschnitten den Himmel der Engel. Doch es waren keine Linien. Wie überdimensionierte Mobiles hingen die fleischlichen Engel an dünnen Stahldrähten, die an ihren Flügeln und an einem Korsett um ihren Rumpf befestigt waren. Jeden Engel ließen sechs bis acht dieser Drähte sanft unter der Kuppel fliegen. Über in der Decke und den Pilastern versteckte Seilzüge konnte die Position eines jeden Körpers zudem genau bestimmt werden. Ähnlich wie die Engel des Freskos nahmen auch ihre dreidimensionalen Schwestern die unterschiedlichsten Positionen im Raum ein. Der Engel mit Brittas Antlitz stand geradezu aufrecht in der Luft, Chevy segelte waagerecht durch die Halle, während Geraldine zusammen mit drei anderen Engeln steil nach unten zu stürzen schien. Die Bewegungen waren allerdings nur Illusion; die Drähte hielten jede Figur genau auf ihrer Position.
„Bewegung ist Illusion“, dachte Trinidade. „Alles ist nur Illusion.“ Der Gedanke hatte etwas Tröstliches.
Sie drehte den Kopf und bemerkte nun zum ersten Mal, dass sie ihre Arme weit ausgestreckt hielt. Auch dies war nichts, was sie in irgendeiner Form beunruhigte. Musste man nicht seine Flügel weit ausgebreitet halten, wenn man fliegen wollte?
Nicht ohne einen gewissen Stolz betrachtete sie ihre weißen Flügel, die wie die Schwingen eines riesigen Schwans die Luft durchschnitten. Eine Verwandlung hatte sich mit ihr vollzogen, denn die Flügel waren nun ein Teil ihres Körpers. Dort, wo früher einmal ihre Unterarme gewesen waren, erstreckten sich nun die Hauptschwingen ihrer Flügel. Vorsichtig übte sie etwas Druck darauf aus und versetzte damit ihren gesamten Körper in kleine Schwingungen. Während sie sich langsam im Kreis drehte, fiel ihr Blick erstmals nach unten.
Umringt von seinen Gehilfen stand dort Petrus de Bruijn und blickte lächelnd zu ihr hinauf.
„Wie wundervoll! Oh, wie erhabend“, rief er aus. „Wartet auf mich, meine lieblichen Engel! Harret aus! Denn bald ist das große Werk vollbracht.“
Sechs Stahlseile hingen neben dem Fotografen bis hinunter auf den Boden. Fast nackt, nur mit einem dünnen Lendenschurz bekleidet, trat der Fotograf unter die Kabel, wo man sie an seinem Rücken, den Schultern und Oberarmen befestigte. Er trug keinerlei Flügel aber auch kein Korsett. Die Haken der Seile wurden in fingerdicke Stahlringe geführt, die man de Bruijn tief in die Haut eingepflanzt hatte. Obwohl die Operation sicher schon mehrere Tage zurück lag, rann unablässig Blut aus den Ein- und Austrittsstellen der Ringe. Betrachtete man allerdings den mit Läsionen und Hämatomen übersäten Körper, dann fielen die Wunden kaum ins Gewicht. Wäre de Bruijn größer und ausgemergelter gewesen, hätte man seinen Leib als übersteigerte Ecce-homo[11]-Metapher betrachten können. Aber auch ohne Dornenkrone und klassische Wundmale erweckte er ein grausiges Bild der Leiden und der Vergänglichkeit des Menschen. Und dennoch umspielte ein verklärtes Lächeln seine Lippen.
Behutsam ließ man die Kabel nach oben gleiten. Die Haut unter den Ringen dehnte sich zwar, hielt aber das Gewicht des Fotografen. Ganz langsam hoben sich Petrus‘ Füße vom Boden. Der Künstler schien keine Schmerzen zu spüren. Als er in aufrechter Position langsam hinauf zur Kuppeldecke stieg, wurde aus dem Lächeln ein dröhnendes Lachen. Blitzlichter zahlloser Kameras flackerten wie Glühwürmchen unter ihm. Wie er es geplant hatte, wurde jeder Moment seiner letzten Aktion von seiner Crew genauestens festgehalten.
„Ich komme, meine geliebten Engel!“, jubilierte er. „Bitte nehmt mich armen Sünder in eurem Reich auf!“
Meter um Meter stieg er zum Engelsfresko empor.
„Nun ist es endlich an der Zeit, dass ich Euch den Titel des Bildes offenbaren kann“, rief er seinen schreienden Engeln entgegen. „Mein letztes Werk trägt den Namen „Die Apotheose [12] des Heiligen Petrus“!“
Als der blutende kleine Mann den Zenith seiner Reise erreicht hatte, erwachte Trinidade für einen kurzen Moment aus ihren Träumen. Sie wollte den Wahnsinn, das unermessliche Grauen, das sie umfing, in die ganze Welt hinaus schreien. Und sie wollte nie mehr damit aufhören. Doch es misslang. Nicht nur ihre Arme hatten sich verwandelt, irgendetwas war auch mit ihrem Gaumen und ihrer Zunge geschehen. So sehr sie sich auch anstrengte, mehr als ein hohes, abgehacktes Kreischen brachte sie nicht hervor.
Und so stimmte sie ein in den Chor der Engel, während zu ihren Füßen ein Meer aus Blitzen wogte.
[1] portug.: „Was für
ein Mist!“
[2] „Wer nicht wagt, der nicht
gewinnt.“
[3] schwed.: „Verdammte Sch****! Was dich
nicht tötet, macht dich härter.“
[4] lat.:“Dies ist das Haus der Engel und
das Tor zum Himmel.“
[5] span.: Mein Haus ist Ihr
Haus.
[6] franz.: täusche das
Auge
[7] lat.: Im Schrecken/Schrecklichen liegt
(auch) Schönheit
[8] franz.: Wissender,
Gelehrter
[9] Bibel: Matthäus 7.3
[10] von lat.: concinno: kunstgerecht
zusammenfügen
[11] lat.: „Siehe, der Mensch!“ – Ausspruch
des Pilatus, der der Menge den ihm unschuldig erscheinenden Jesus
von Nazareth vorstellt.
[12] griech.: Erhebung eines Menschen zu
einem Gott oder Halbgott