Daniela Herbst
Letzter Gedanke München
Mein Name ist Maximilian Freese. Ich bin vierunddreißig Jahre alt, von Berufs wegen Mediendesigner, Sohn von Ernst und Claudia Freese, bester Kumpel von Fabian Escher, Freund von Sabine Winter, Fan diverser Science-Fiction-Serien, Liebhaber guten Essens und musikalisch im Mainstream beheimatet.
Was gibt es sonst noch über mich zu wissen? Eigentlich nicht viel. Seit ich meinen letzten Pubertätspickel ausgequetscht habe, führe ich ein ganz normales Leben ohne besondere Vorkommnisse.
Am Morgen trudle ich etwas unmotiviert meiner Arbeit entgegen. Dort verbringe ich zehn bis zwölf Stunden vorm Computer und zähle die Tage bis zu meinem nächsten Urlaub. Mittags quäle ich meinen Magen, indem ich ihm Kantinenfutter nebst literweise Kaffee einflöße. Gegen Abend schließlich schiebe ich mich wie jeder brave Bürger in die S-Bahn, suche nach einem Sitzplatz und warte mit all den anderen Leuten auf meine Haltestelle. Wenn mir danach ist, blättere ich in meiner Süddeutschen, schreibe eine sinnfreie SMS oder bemitleide mich selbst wegen des banalen Lebensstils, an den mich das Schicksal gekettet hat.
So sieht mein Terminplan unter der Woche aus. Falls mein Job mir kein Bein stellt, würze ich die Sache samstags und sonntags durch Besuche bei meinen Eltern, Männerabende mit Kumpels und Sex, der länger dauert als fünf Minuten. Gelegentlich treibe ich sogar Sport oder lasse mich von Sabine zu irgendwelchen kulturellen Veranstaltungen schleppen.
Kurz zusammengefasst halte ich mich für einen vernünftigen, einigermaßen intelligenten und ausgeglichenen Menschen, der keine depressiven Züge, abartigen Neigungen, geschweige denn masochistischen oder gar selbstzerstörerischen Tendenzen besitzt.
Trotzdem stehe ich seit einer halben Stunde an dieser gottverdammten Tür und kann meine Hände kaum davon abhalten, die Klinke zu drücken. Dabei wartet hinter diesem beschissenen Stück Holz die Hölle. Ein nach Verwesung stinkendes Armageddon...
Nach wie vor hat mein Verstand seine Schwierigkeiten damit, diesen Albtraum zu begreifen. Pasing – ist das zu fassen? München geht unter und es nimmt seinen Ursprung im kleinen Pasing? Das wäre in etwa dasselbe, als wenn ein Elefant umkippt, weil ihm eine Mücke gegen das Schienbein tritt.
Verrückt!
Aber ich muss es schließlich auch nicht glauben. Ich weiß es. Ich sehe es. Die Berichte laufen rund um die Uhr auf sämtlichen Kanälen. Egal wo man hinzappt, sprechen sie von den zwei Drähten, die sich versehentlich berührt haben. Archivbilder flimmern über den Bildschirm. Analysen und Statistiken werden eingeblendet. Überall flitzen Reporter durch die Gegend und versuchen, professionell ihren Text abzuspulen. Das große Drama im kleinen Kasten! Und alle paar Minuten schieben sie einen verschreckten Passanten vor die Kamera, der das Unglück mit der Miene eines schwindsüchtigen Froschs aus seiner persönlichen Perspektive erzählen soll.
Zwei Drähte... Das hört sich so banal an...
Auf RTL zeigen sie gerade zum hundertsten Mal das Amateurvideo, das irgend so ein Kerl mit seiner Handykamera aufgenommen hat. Ich kenne es jetzt schon fast auswendig, aber die Aufnahmen schockieren mich immer wieder – vor allem die ersten Sekunden, in denen man ihn lachen hört.
Ich meine, der Freak steht da planlos in der Gegend rum und filmt ein dämliches Umspannwerk. Dass gleich die Katastrophe des Jahrhunderts passiert, ahnt er wahrscheinlich nicht mal. Er hat einfach Langeweile und macht mit seinem Smartphone einen auf Steven Spielberg. Und Scheiße, er hätte verdammt gute Chancen, einen Oscar zu gewinnen!
Allein die Szene, als über den Metallungetümen dieser Funkenregen aufsteigt, ist schon preisverdächtig. Ein Spektakel wie an Silvester. Erst sieht man diese Explosionen, die ähnlich einer gigantischen Wunderkerze in die Höhe zischen und wieder verpuffen. Dann ertönt ein gewaltiges Krachen. Stahl quietscht, das ganze Umspannwerk zittert, massive Konstruktionen fallen in sich zusammen, die Erde bebt und dann...
Keine Ahnung, ob das, was danach geschah, die sogenannte typische Reaktion darstellt oder ob Gott einen schlechten Tag hatte, jedenfalls sammelte sich stetig Energie über der Anlage. Die Geräusche wurden diffuser und das Gewirr aus einzelnen Blitzen begann allmählich, zu verschmelzen. Erst träge, später immer schneller ballten sie sich zu einer Einheit.
Ich schätze, es zog sich letztendlich doch über knapp zehn Minuten hin, bis das Gebilde eine stabile Form bekam – aber beim ersten Mal, als ich es sah, erschien mir das Ganze kaum einen Wimpernschlag zu dauern. Im einen Moment ist da nichts außer blauem Licht und plötzlich hängt eine zischende, wabernde Kugel in der Luft. Eine riesige, schillernde Qualle, die sich aufpumpt und zusammenzieht.
Ich kann das Bild nicht anders beschreiben... Dort über dem Umspannwerk schwebte eine Qualle aus Energie.
Der Anblick hatte direkt etwas Friedliches; als würde man sich eine Sendung von Jacques Cousteau anschauen. Das blasige Vieh schwamm einfach auf dem Fleck, pulsierte und atmete. Wartete. Lauerte. Genoss mit stoischer Geduld seinen Auftritt vor der Kamera und fraß sich träge voll. Bis es im Bruchteil von Sekunden den Himmel zerriss, in einem gleißenden Lichtkegel von innen nach außen explodierte und ohne seine Konturen zu sprengen, lospreschte.
Lebwohl Cousteau, willkommen, Weißer Hai!
Mit bloßem Auge konnte man wenig ausmachen; dafür bewegte sich das Gebilde einfach zu schnell. Es kreuzte das Blickfeld, verschwand und hinterließ lediglich ein Flirren ähnlich Asphalt im Hochsommer.
In der Zeitlupe dagegen bot sich dem interessierten Beobachter ein wesentlich beeindruckenderes Schauspiel. Dort kroch es dahin, fräste eine unsichtbare Schneise durch die Stadt, wand sich mit seinem substanzlosen Körper behäbig über den Boden und tauchte immer wieder darin ein. Ein fast sexueller Akt – wenn auch einer von der ekelhaften Sorte.
Und falls jemand denken sollte, der Vergleich hinke, so muss ich widersprechen, denn das Ding hinterließ nicht nur einen bleibenden Eindruck, sondern auch einen sehr speziellen Samen...
Scheiße, das ist echt krank.
Erst haben sie von einem unbedeutenden Zwischenfall gesprochen. Es eine harmlose Entladung genannt und ständig versichert, dass die Energiewelle keine Auswirkungen auf die Gesundheit hätte. Witzig!
Später meinten sie, das Schlimmste wäre überstanden und im Umspannwerk sei wieder alles unter Kontrolle – trotzdem solle man vorsichtig sein, weil es gelegentlich wohl leichte Panikreaktionen in der Bevölkerung gäbe. Älteren Mitbürgern und Trägern von Herzschrittmachern riet man zudem, zeitnah einen Arzt aufzusuchen. „Sonst können wir Entwarnung geben.“
Die großen Sender zeigten sich geradezu enthusiastisch. An jeder Ecke wurden Pressekonferenzen abgehalten, die bereits bekannten Experten vor die Mattscheibe gezerrt und handgemalte Protestschilder in die Pampa gestreckt, die in kreativen Slogans einen verantwortungsvolleren Umgang mit dem Thema Stromerzeugung forderten.
Es lebe die Demokratie! Dann kapierten sie endlich, dass die elektrische Qualle ihr kleinstes Problem war...
„Wandelnde Leichen“, so hat sie der Reporter bezeichnet. Hat in die Kamera gestarrt mit seinem aschfahlen Gesicht und versucht, das Mikrofon einigermaßen stillzuhalten. „Dies ist kein Scherz, meine Damen und Herren. Die Toten von München erheben sich aus ihren Gräbern.“
Klingt fetzig, nicht? Ich frage mich, ob der Typ sich den Text spontan ausgedacht oder ihn heimlich von einem Spickzettel abgelesen hat.
An der Stelle wurde jedenfalls die obligatorische Dramatikpause eingebaut und die Linse schwenkte in Nahaufnahme zu einer halb verrotteten Hand, die sich gerade durch den Dreck wühlte.
„Wir befinden uns hier mitten auf dem Ostfriedhof und werden Zeuge der unfassbaren Ereignisse, die seit heute Nachmittag über unsere schöne Stadt hereinbrechen.“
Langsam zoomte die Kamera zurück auf den Reporter.
„Ich wiederhole: Dies ist kein Scherz. Die zuständigen Behörden haben oberste Alarmstufe ausgerufen. Die Bevölkerung wird angewiesen, in ihren Häusern zu bleiben. Verschließen Sie Türen und Fenster, gehen Sie nicht nach draußen und lassen Sie Ihren Fernseher eingeschaltet. Wir werden Sie kontinuierlich über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden halten.“
Der Kerl war richtig mit Feuereifer bei der Sache.
Allerdings glaubte zu dem Zeitpunkt sowieso keiner mehr an einen Scherz. Zumindest keiner, der sich im Freien aufhielt, während der Marsch der Zombies sich in Gang setzte. Aber auch die wenigen Unverbesserlichen, die hartnäckig an einen Mediengag glauben wollten, wurden früher oder später mit der verwesenden Wahrheit konfrontiert.
Rückblickend betrachtet hätte sich der Reporter die Überzeugungsarbeit also sparen und stattdessen rechtzeitig verschwinden sollen. Was den Kameramann andererseits um seine Chancen auf den Pulitzerpreis gebracht hätte. Und die würde ich – unter der Voraussetzung, dass er schlauer beziehungsweise schneller war als sein Kollege – als relativ hoch einschätzen. Immerhin er hat bis zur letzten Sekunde gnadenlos draufgehalten.
Manchmal verabscheue ich meinen eigenen Sarkasmus, aber ich kann eben nicht aus meiner Haut.
Apropos Haut ... Die Preisfrage des heutigen Tages lautet: Welchen Zweck erfüllt dieses gemeinhin auch als Epidermis bezeichnete Organ? A: Sie ist reine Zierde. B: Sie übernimmt die Wärmeregulierung des Körpers. C: Wir brauchen sie zum Haare züchten. D: alles falsch! Die korrekte Antwort ist D. Sie dient nämlich als natürliche Rundumverpackung für unser zartes, saftiges Fleisch.
Patronia Bavariae… Damm... Damm...
Zugegeben, das klingt widerlich, trotzdem trifft es den Nagel auf den sprichwörtlichen Kopf. Und darauf gekommen bin ich etwa um die Mittagszeit, während ich einen von diesen Schlafwandlern beobachtet habe.
Ich saß in irgendeinem Straßencafé und hatte mir gerade einen Cappuccino bestellt. Natürlich wusste ich da noch nicht, dass ausgerechnet heute Zombies durch die Straßen flanierten, sonst wäre meine Wahl vermutlich auf einen flotten Espresso gefallen. Mein freier Tag begann, mich allmählich zu langweilen, also ließ ich den Blick schweifen, blätterte lustlos in einem Magazin und flirtete ein wenig mit der hübschen Kellnerin.
Gott, es gibt echt keinen Grund mehr, die Sache schönzureden! Ich glotzte ihr ungeniert auf die riesigen Titten! Patronia... Damm… Bavariae… Damm... Ich mag dieses Lied!
Zu meiner Verteidigung – ihre Möpse waren wirklich gigantisch. Außerdem schwangen sie ständig von einer Seite zur anderen. Schwangen nach links, schwangen nach rechts, schwangen nach links, schwangen nach rechts.
Wie dieser Typ ... Der schwang auch nach links und dann nach rechts und wieder nach links und wieder nach rechts. Wackelte gemächlich den Marienplatz entlang, schlurfte am Alten Rathaus vorbei und vollzog am Ende einen ungelenken Schlenker in meine Richtung.
Irgendetwas an seiner Gangart faszinierte mich. Als sähe man einem besoffenen Elch beim Tanzen zu. Ich vergaß sogar für eine Weile die Kellnerin und ihre galaktische Oberweite.
Die Szene nahm mich derart gefangen, dass ich den zweiten Typen zunächst gar nicht bemerkt habe. Ziemlich ignorant von mir – das gurgelnde Röcheln und der penetrante Gestank hätten mir definitiv auffallen müssen. Mea culpa und trotzdem drauf geschissen! Ich habe ihn nicht kommen sehen; und wünschte, es wäre auch dabei geblieben.
Patronia ... Bavariae ... Damm ... Damm ... Damm ... Hat das Lied eigentlich Text oder besteht der Schrott nur aus zwei Wörtern?
Meine Fresse, dieses schrille Kreischen! Das feuchte Knirschen von schmutzigen Zähnen, die Gewebe zerfetzen. Die panisch rudernden Arme und die wild aufgerissenen Augen. Dieses ekelerregende Schmatzen. Die dürren Finger, von denen sich Fetzen verfaulter Haut lösten. Der brutale Ruck, der ihren Kopf nach hinten schleudert und seine geifernden Kiefer, die sich in ihren Hals versenken. Blut, das in den schmalen Spalt ihrer Brüste perlt und die Visage des Angreifers beschmiert. Hektisches Herumwerfen, die verzweifelte Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, Treten und Zappeln, Brüllen und Schreien. Eine ziellos fuchtelnde Hand. Ein Kinn, das Spucke sprühend aus der geschlagenen Wunde rutscht. Das Schaben von schimmligen Kauwerkzeugen über Knochen. Sein Maul, das über ihr Brustbein gleitet. Noch einmal das gleiche Geräusch, als er sich in den frischen Furchen zurücktastet. Bewegungen, die sich verlangsamen. Ein Kreischen, das verebbt. Hungrige Fänge, die zerren und malmen. Der Wolf, der sich zornig schüttelt, um die Mahlzeit aus seiner Beute zu schlagen.
Ende des ersten Aktes. Willkommen im Theater des Wahnsinns ...
Wie ich von diesem dämlichen Straßencafé nach Hause gelangt bin, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr – zumindest nicht richtig. Ich habe zwar jede Menge Momentaufnahmen in meinem maroden Gehirn, aber sie fügen sich nicht lückenlos zu einem Ganzen zusammen.
Zuerst war da Blut auf meinem Hemd und Blut in meinem Gesicht, das ich verständnislos wegwischte. Mein Herz raste. Mir war schwindelig und ich erinnere mich an das Gefühl von Watte. Alles schien mir unscharf und dumpf zu werden. Der Schaum meines Cappuccinos hatte rote Pünktchen. Die Kellnerin lag halb auf meinem Schoß und kalte Hände gruben sich von hinten in meine Haare. Ich erstarrte. Schließlich sprang ich auf und rannte los.
Und dann?
Ein Bus? Ja, irgendwo stand ein Bus mit sicher einem Dutzend wild gestikulierender Leute quer auf der Straße. Den Fahrer konnte ich nicht sehen; jemand hatte die vorderen Scheiben eingeschlagen und mindestens drei Liter menschlichen Kirschsaft zwischen den spinnennetzartigen Bruchstellen verteilt. Ich wollte nachschauen, ob sie Hilfe brauchen, aber meine feigen Beine ließen sich einfach nicht zum Stehenbleiben überreden.
Das war entweder kurz vor oder kurz nach der Begegnung mit der Nudistin. Ja, richtig gehört, inmitten des blanken Chaos stolperte tatsächlich eine nackte Frau an mir vorbei! Die Szene hatte allerdings wenig Erotisches an sich, denn sie schrie unentwegt konfuses Zeug und hielt sich krampfhaft die zerfetzten Enden ihres Kleides vor den Bauch. Davon unbeeindruckt küsste ihr Schamhaar ebenso den Fahrtwind wie ihre herausquellenden Gedärme.
Als nächstes jagte ich durch die Altstadt, hetzte kopflos Richtung Norden und kreuzte auf halber Strecke die Frauenkirche, deren Stufen ein voll ausgerollter roter Teppich schmückte. Hollywood zu Besuch in München. Nur würde auf diesem Spezialbelag sicher nie ein Filmstar laufen – zumal der nasse Untergrund mittlerweile wohl längst zu einem schmutzigen Kupfer geronnen sein dürfte.
Mein Puls raste, der Schweiß floss mir in Strömen das Rückgrat entlang und mein Schädel drehte sich wie ein Karussell. Miese Voraussetzungen für eine erfolgreiche Flucht. Deshalb drängte ich die Panik zurück, atmete ein paar Mal tief ein und drosselte mein Tempo.
Patronia Bavariae ...
Nein, das war gelogen. Um bei der Wahrheit zu bleiben, schaffte ich es für exakt dreißig Sekunden, meinen Fluchtinstinkt zu besiegen, damit ich ohne bleibenden Schaden in die Büsche kotzen konnte. Anschließend rannte ich mit leichterem Magen, aber nicht weniger Panik im Leib einfach weiter.
Maximilian Freese: Freund, Grafiker, Hobbyzyniker und offensichtlich nicht zum Helden geboren ...
Vielleicht galoppierte ich sogar noch schneller als zuvor über das Pflaster, da meine Lungen den spärlichen Rest Sauerstoff egoistischerweise für sich beanspruchten und die Versorgung meines Hirns auf Minimallevel fuhr. Ich ähnelte einem orientierungslosen Rennpferd mit Asthma. Keuchend, klatschnass und auf der verzweifelten Suche nach meinem Stall.
Außerdem war ich dank Schweiß und tränender Augen annähernd blind, sodass ich fast in eine Gruppe dieses Abschaums hineingerannt wäre. Zum Glück konnte ich in letzter Sekunde bremsen und den Zusammenstoß verhindern.
Ganz schadlos entkam ich indes nicht. Statt einen eleganten Haken zu vollführen, knickte mein linkes Bein weg, ich verlor das Gleichgewicht, überschlug mich ein paar Mal und landete krachend auf der Seite. Mein Ellenbogen knirschte, Blitze flimmerten mir vor Augen und ich schmeckte Blut auf meinen Lippen.
Eine stöhnende Leiche schlang ihre Griffel um meinen Fußknöchel. Ich kreischte, zappelte, trat in ein morsches Gesicht. Rappelte mich benommen auf und stemmte mich in die Höhe.
Oh bitte nicht ... Meine Hand wandert schon wieder zum Türgriff ...
Ich habe keine Ahnung, wie ich schlussendlich nach Hause gekommen bin. Vermutlich hatte Gott diesmal seine guten fünf Minuten. Ich meine, wir haben rund neunundzwanzig städtische Friedhöfe und ich musste quer durch München – meine Chancen standen echt schlecht.
Hinter jeder Ecke stieß man auf einen von denen. Einige rotteten sich in Horden zusammen, andere gingen allein auf Beutezug. Ich sollte theoretisch längst Zombiefutter sein.
Aber da bin ich. Lädiert, doch am Leben.
Seit wann ich hier ausharre? Keinen blassen Schimmer. Fünf Stunden? Zwölf? Zehn? Der Fernseher läuft. Die Rollläden sind zugezogen. Mir fehlt ein Büschel Haare – hat sicher der Freak im Café als Souvenir behalten. Mein Fuß blutet und ich habe einen Schuh verloren. Bin ich den restlichen Weg gerannt? Eher nicht, denn ich humple links ziemlich stark. Wahrscheinlich habe ich mir unterwegs ein verwaistes Auto geschnappt. Das würde zumindest den schäbigen Volvo erklären, der meine Mülltonnen umgemäht und der Hecke einen Mittelscheitel verpasst hat.
Spitzenmäßig eingeparkt! Mein Nachbar wird begeistert sein – das Meiste ist in seiner Einfahrt gelandet. Kann mir seine Schimpftirade schon akustisch vorstellen: „Freeeeeeeese, wir müssen uns ernsthaft über ihr gespaltenes Verhältnis zu Ordnung und Disziplin unterhalten!!!!“
Obwohl ich diesmal wohl ohne Standpauke aus der Sache herauskommen werde. Denn wenn ich mich nicht sehr täusche, hängt er quer über seinem Gartenzaun und lüftet seine Innereien.
Patronia Bavariae ... ah, dieses Scheißlied! Die schlachten uns bei lebendigem Leib ab und ich reiße blöde Witze!
Oh bitte ... jemand muss meine Hand aufhalten...
Mein Name ist Maximilian Freese. Ich bin vierunddreißig Jahre alt, von Berufs wegen Mediendesigner, Sohn von Ernst und Claudia Freese, bester Kumpel von Fabian Escher, Freund von Sabine Winter und außerdem ein vernünftiger, halbwegs intelligenter Mensch.
Sie wandert weiter zur Klinke ...
Ich kann nicht einmal behaupten, dass ich ihretwegen raus will. Sind wir mal ehrlich – sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle längst tot.
Ich halte es einfach nicht mehr aus. Seit Stunden hocke ich hier und verbarrikadiere mich. Höre, wie sie an den Rollläden schaben und um das Haus schleichen. Sehe in einer grausamen Endlosschleife diese Drecksberichte. Rieche den Gestank und fühle die Schreie der anderen in meinen Nerven vibrieren. Ich ertrage das nicht mehr. Nicht völlig allein. Nicht so.
Die Tür ... Sie ist offen ...
Patronia Bavariae ...