Des Romero
Katharsis
Ich weiß nicht, warum ich an diesem Spätnachmittag noch einmal ins Leichenschauhaus zurückkehre. Ich habe einen anstrengenden Zehn-Stunden-Tag hinter mir und sollte mich eigentlich auf einen entspannten Feierabend freuen. Stattdessen hole ich Jennifer von der Schule ab, erledige ein paar kleinere Einkäufe und fahre gemeinsam mit meiner Tochter zurück in die Klinik. Tatsächlich kann ich noch nicht einmal sagen, was ich dort will. Und ganz bestimmt kann ich nicht sagen, was ich mit Jennifer dort will. Ich habe sie noch nie zu meiner Arbeit mitgenommen. Einerseits, um sie von den Schrecken fernzuhalten, die unter der polierten Oberfläche unserer kranken Gesellschaft lauern, andererseits, weil ich nicht möchte, dass sie unter Umständen einen falschen Eindruck von mir bekommt. Ich sehe mich als liebevollen, treusorgenden Familienvater. Das lasse ich sie spüren. In jeder Minute, die ich mit ihr gemeinsam verbringen darf. Ihr sanftes Lächeln und das Strahlen ihrer Augen zeigen mir, dass ich meine Rolle nicht nur nahezu perfekt ausfülle, sondern für meine Tochter etwas ganz Besonderes bin. Ein Idol, zu dem sie aufblicken kann. Jemand, der ehrlich und aufrichtig und immer für sie da ist.
Plötzlich bin ich mir sicher, dass genau das der Grund ist, weshalb ich sie mit zur Klinik nehme. Jennifer weiß nichts von meiner Tätigkeit, glaubt, dass ich ein gewöhnlicher Arzt bin, der Menschen hilft und ihre Leiden lindert. Aber das tue ich nicht. Genau genommen komme ich erst ins Spiel, wenn die Leiden der Menschen beendet sind. Und ich fühle einfach, dass ich meinem kleinen Mädchen eine Erklärung schuldig bin, dass ich ihr sagen muss, dass ein Forensiker kein Mediziner für die Lebenden ist, sondern für die Toten.
Bedächtig lenke ich den Wagen durch den Regen und werfe einen Blick auf meine kleine Beifahrerin. Sie erwidert ihn und lacht fröhlich. Ich höre, wie sie mich fragt „Wohin fahren wir, Daddy?“, und ebenso höre ich, als wäre es nicht ich selbst, der spricht, meine Antwort: „Ich muss kurz zur Klinik, Kleines. Es wird nicht lange dauern.“
Sie gibt sich damit zufrieden. Sie hat nie viel gefragt, ist nicht eines jener Kinder, die einen ohne Unterlass löchern. Sie vertraut mir und scheint zu wissen, dass alle ihre Fragen beantwortet werden, wenn ich es für an der Zeit halte.
In der Abenddämmerung wirken die Laternen vor dem Klinikgebäude wie das Augenweiß der Toten, die ich mit meiner Stablampe anleuchte. Der Regen zerfranst das Licht und wäscht die Konturen aus, als hätte sich eine hauchdünne, eitrige Schicht vor meine Pupillen gelegt, die langsam zerläuft. Mit aufgespanntem Regenschirm öffne ich die Beifahrertür, helfe Jennifer aus dem Wagen und renne mit ihr zum Eingang. Der Pförtner grüßt mit erhobener Hand und drückt die Tür auf.
„Haben Sie noch etwas vergessen, Doktor Bannister?“, ruft er mir freundlich zu, aber ich nehme es wie aus weiter Entfernung wahr und nicke nur knapp. In meinem Kopf herrscht mit einem Mal ein ungewohntes Durcheinander, das mich meine Umgebung aus den Augen verlieren lässt. Ein eigentümliches, geradezu beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit, und ich kann mir nicht erklären, welche Ursache es hat. Beinahe Hilfe suchend schaue ich Jennifer an und frage mich, ob meine momentane Irritation mit ihr zu tun hat. Womöglich war es ein Fehler, sie hierher mitzunehmen. In einem Augenblick der Klarheit gestehe ich mir ein, dass mein Handeln durchaus egoistische Gründe haben könnte. Schließlich besteht kein Grund, mein Mädchen in jene Dinge einzuweihen, mit denen ich tagtäglich zu schaffen habe. Meine Güte – sie ist erst neun! Muss ich es wirklich so weit treiben, dass ich ein unschuldiges Kind erschrecke, nur um meinem eigenen Anspruch von Geradlinigkeit und Wahrheitsliebe gerecht zu werden?
Doch noch während ich in meinem Entschluss schwanke, zerrt mich Jennifer den gefliesten Korridor zur Leichenhalle hinunter. Sie ist ausgelassen und von unergründlicher Freude erfüllt. In mir keimt der Verdacht auf, dass sie schon lange wissen wollte, was ihr Vater beruflich macht, aber nie darüber gesprochen hat. Sie hat die Entscheidung in meine Hände gelegt. Trotz aller Bedenken bringe ich es nicht übers Herz, sie nun zu enttäuschen.
Völlig unerwartet durchzuckt mich ein schneidender Schmerz. Jennifers Kinderhand entgleitet der meinen, als ich im Lauf innehalte und mich vornüber beuge. Meine Finger krampfen sich um eine Stelle an meinem Bauch. Es ist diese offene Wunde, die mich schwächt. Woher sie kam, vermag ich nicht zu sagen. Eines Morgens war sie da. Eine daumennagelgroße, rötlich verfärbte Vertiefung in der Haut. Nicht sonderlich tief, aber auch nicht unbedingt ungefährlich. Ein Exanthem möglicherweise, irgendeine infektiöse Erkrankung der Gewebeschicht, die allerdings auf keinerlei Behandlung reagiert. Ich habe sie über Wochen beobachtet und eine gewisse Beruhigung empfunden, da der Entzündungsherd sich nicht oder nur geringfügig vergrößerte und sich außer mit einem leichten Brennen und Jucken nicht bemerkbar machte. Dieser durchdringende Schmerz jedoch, der mich in die Knie zwingt, ist neu.
„Bin ich zu schnell für dich?“, dringt das süße Stimmchen meiner Jennifer an meine Ohren.
Ich winke ab. „Keine Sorge. Bin nur mit dem Knöchel umgeknickt.“
Die Unruhe, die mich ergreift, lässt mich den brennenden Stich und das Pochen in meinem Fleisch vergessen. Es war eine dumme Idee, in die Klinik zu fahren. Ich will nur noch eins: so schnell wie möglich fort!
Ich teile Jennifer meinen Wunsch mit – und meine Befürchtung bestätigt sich. Sie ist enttäuscht. Auch wenn sie versucht, es zu verbergen, so kenne ich jeden Gesichtsausdruck meiner Kleinen. Sie kann mich nicht täuschen.
„Wir kommen ein andermal wieder“, versuche ich sie zu trösten und schaue wieder in dieses Kindergesicht, das seine Betroffenheit unvollkommen zu kaschieren versucht.
Nach wenigen Kilometern auf der Landstraße versiegt der Regen. Meine Augen heften sich auf den nassen Asphalt und die kriechenden Scheinwerferkegel. Das Brennen der Wunde klingt ab, aber den stechenden Blick meiner Tochter spüre ich noch lange auf mir ruhen.
***
„Ihre Tochter bedeutet Ihnen viel, nicht wahr?“
Skeptisch betrachte ich den Mann hinter dem Schreibtisch, dessen Brille ein Stück den Nasenrücken hinabgerutscht ist und der mich über die randlosen Gläser hinweg eindringlich ansieht.
„Das tut sie“, kommt es mechanisch über meine Lippen.
„Über Ihre Frau haben Sie bisher nichts erzählt.“
„Ich bin nicht verheiratet.“
„Geschieden? Verwitwet?“, bietet er mir zwei Antwortmöglichkeiten.
„Weder noch. Ich war nie verheiratet.“
„Eine lose Beziehung, die in die Brüche gegangen ist?“
„Nein.“
„Dann haben Sie Jennifer adoptiert?“ Fast körperlich spüre ich den lauernden Unterton.
„Ja …“, bestätige ich zögernd und bin mir absolut bewusst, welchen Eindruck dies bei meinem Gegenüber hervorrufen muss. Wie im Scherz füge ich hinzu: „Entführt habe ich die Kleine nicht.“
Doktor Canterman übergeht meine Bemerkung. „Mir ist kein Fall bekannt, in dem das Sorgerecht für eine Waise einem alleinstehenden Mann übertragen wurde.“
„Ganz so hat es sich auch nicht verhalten“, lenke ich ein, habe aber nichts für eine überzeugende Argumentation vorzutragen. Meine anschließende Verwirrung ist daher nicht gespielt. Eine Eishand greift nach meinem Herzen, denn im Grunde genommen weiß ich selbst nicht, woher Jennifer stammt.
Es ist völlig verrückt!
Ich sitze im Behandlungszimmer eines Arztes, der mir eine essentielle Frage zu meiner Tochter stellt – und ich bin nicht in der Lage, sie zu beantworten! Ein Umstand, der umso heikler ist, wenn ich bedenke, wie er mir entgehen konnte. Vage Erinnerungsfetzen wehen durch meinen Verstand, doch der Eindruck, dass Jennifer schon immer dagewesen ist, lässt sich nicht fortwischen. Ihre Herkunft ist mir ein Rätsel. Aber eines, das mir nie als solches erschienen ist, weil es nie Teil meiner Überlegungen war. Mir kommt es vor, als hätte Doktor Canterman an einer Blockade gekratzt, die meinen Gedächtnisinhalt in eiserner Umklammerung hält und nachhaltig bestrebt ist, keinerlei Informationen preiszugeben. Ich setze zu einer Erklärung an, aber außer einem kehligen Laut bringe ich keinen Ton hervor.
„Sie wollen mir nicht weismachen, dass Sie sich nicht erinnern, wie Sie an das Mädchen gekommen sind …?“ Um Cantermans Mundwinkel zuckt ein ironisches Lächeln.
„Gott bewahre!“, stoße ich aus. Eine Spur zu schnell, eine Spur zu laut, um überzeugend zu wirken. Mein anschließendes trockenes Auflachen entspringt purer Hilflosigkeit.
„Geht es Ihnen gut, Mister Bannister?“
„Ja“, hauche ich heiser. Und dann mit festerer Stimme: „Ja, es geht mir gut.“ Unbewusst reiben meine Finger über die juckende Wunde an meinem Bauch. Die Situation ist mir unangenehm. Zumal sie nichts mit der Angelegenheit zu tun hat, wegen der ich den Psychiater aufgesucht habe.
„Sie wirken angespannt“, sagt Doktor Canterman. Ich sehe ihn an, wie er steif und unbeweglich hinter seinem Schreibtisch thront, einem menschlichen Lügendetektor ähnlich, der jedes meiner Worte analysiert und mit einer syntaktischen Datenbank abgleicht.
„Wir sollten uns auf das eigentliche Thema konzentrieren“, weiche ich aus und weiß im selben Moment, dass ich mich zur Zielscheibe gemacht habe. Zu meiner Überraschung nimmt der Doktor meine Steilvorlage nicht an.
„Richtig“, meint er lapidar und durchforstet einige lose Blätter Papier, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Konzentriert liest er seine Notizen durch und lehnt sich in seinem Stuhl leicht zurück. „Sie sprachen von diesen Albträumen, die Ihnen zu schaffen machen. Darin geht es um gewalttätiges Verhalten gegenüber Menschen. Sie erwähnten häufig die Begriffe ›Blut‹ und ›Feuer‹.“
Eine Schlinge scheint sich um meine Kehle zuzuziehen. Das Gefühl ist so stark wie die Angst vor der nächsten Nacht. Fragmente der Bilder, die mich in meinen Träumen peinigen, rasen vor meinem geistigen Auge dahin. Nur mit Mühe gelingt es mir, sie zu vertreiben, und mich dem Gespräch mit meinem Psychiater zuzuwenden.
„Es sind zusammenhanglose Aneinanderreihungen schrecklicher Gräueltaten“, erwidere ich tonlos. „Körper werden verstümmelt. Blut spritzt umher. Zum Schluss sehe ich brennende Menschenleiber.“
„Könnte Ihr Beruf derartige Phantasien auslösen?“
„Ich schneide Tote auf. Die Menschen in meinen Träumen aber sind lebendig.“
„Die Toten haben auch einmal gelebt, Mister Bannister. Ihr Unterbewusstsein könnte beides in Verbindung bringen. Selbst der widerwärtigste Kinderschänder war einmal ein unschuldiges Baby.“
„Sie meinen, ich gehe einer ungesunden Beschäftigung nach?“
„Nicht jeder wurde für die Profession geboren, die er ausübt.“
„Das trifft auf mich nicht zu. Mein Job hat mich nie belastet.“
„Sie können sich vierzig Jahre lang falsch ernähren, ohne dass Ihr Körper sich bemerkbar macht. Der Kollaps ist dennoch vorprogrammiert.“
„Geben Sie mir doch einfach irgendein Mittelchen, damit ich wieder ruhig schlafen kann, Doktor.“
Die Art, wie Canterman, der bisher kaum eine Miene verzogen hat, lächelt, elektrisiert mich. Unauffällig versuche ich, meine feuchten Handflächen an den Hosenbeinen abzuwischen.
„Psychopharmaka“, höre ich ihn sagen, „beseitigen Symptome, keine Ursachen.“
„Deswegen bin ich doch hier!“ Mein gereizter Tonfall kann ihn nicht erschüttern. „Finden Sie die Ursachen.“
Lange Sekunden herrscht Schweigen zwischen uns, bis Canterman zu einer ersten Prognose ansetzt. „Ihr Problem ist tiefgründiger, als ich anfangs annahm. Einiges will sich mir noch nicht erschließen, aber ich habe die nicht unbegründete Vermutung, dass Ihre Tochter Jennifer eine zentrale Rolle spielt beim Auftreten Ihrer Schlafstörungen.“
„Das ist absurd!“ Das Herz pocht mir bis zum Hals. „Ich verbinde nur Frohsinn und Liebe mit ihr, nicht aber Mord und Totschlag!“
„Es mag die unbegründete Angst sein, ihr könne etwas zustoßen. Sie wollen sie beschützen, haben aber die unterbewusste Vorstellung, es könne Ihnen nicht gelingen.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie erzählten von diesem regnerischen Nachmittag, an dem Sie Ihre Tochter mit in die Klinik nahmen. Wie lange liegt das jetzt zurück? Zwei Wochen? Drei?“ Er wartet mein Nicken nicht ab, sondern fährt fort. „Ihr Gewissen zwang Ihnen auf, dem Kind die Wahrheit über sich zu berichten. Plötzlich aber kamen Ihnen Zweifel. Die Zweifel eines Vaters, der jeden Schaden von einem geliebten Menschen abzuwenden gedenkt. Sie zögerten Ihre Entscheidung hinaus, wie Sie es wohl schon einige Male zuvor taten. Ihre Angst vor Autoritätsverlust hat Sie dazu getrieben. Ihre Angst, dass der geliebte Mensch Sie nicht mehr mit den Augen der Liebe, sondern mit den Augen der Verachtung betrachten könnte. Bringen wir es auf einen Nenner, müssen Sie sich vorwerfen lassen, in höchstem Maße egoistisch gehandelt zu haben.“
„Das ist eine ungeheure Unterstellung!“ Auch in meinem dramatischen Zornesausruf schwingt wenig Überzeugungskraft mit. Unnötig zu erwähnen, dass Canterman dieser Tatbestand nicht verborgen bleibt. Schweigend nimmt er ihn zur Kenntnis und schießt eine Frage ab, auf die ich nicht im Mindesten vorbereitet bin.
„Aus welchem Grund sind Sie Gerichtsmediziner geworden?“
„Bitte?“ Ich versuche Zeit zu schinden, denn mir ist klar, dass jede Antwort, die ich gebe, mehr von mir offenbart als mir lieb sein kann. Andererseits habe ich nichts zu verbergen. Wenigstens nichts, das mir in Erinnerung geblieben wäre. Ich massiere meine Schläfen und senke den Kopf.
„Sie haben mich verstanden, Mister Bannister.“
„Mich fasziniert die Komplexität polizeilicher Ermittlungen“, sprudelt es in einem unerwarteten Geistesblitz aus mir heraus. „Die Toten nehmen ihre Geheimnisse mit ins Grab. Aber alle Spuren lassen sich nicht verwischen. Meine Aufgabe ist es, sie zu finden.“
„Größtenteils aber eine wenig delikate Aufgabe, finden Sie nicht?“
„Es macht mir nichts aus. Bei der Entnahme von Proben und Organen sowie der Abtrennung von Gliedmaßen sehe ich die Leichname nicht als Menschen. Es sind Objekte. Hilfsmittel bei der Aufklärung von Verbrechen.“
„Sie hat niemals Ekel überkommen?“
„Niemals.“ Meine Äußerung hat die Kraft eines Dogmas.
„Aber Sie befürchten, es könnte Ihrer Tochter anders gehen.“
„Wie Sie bereits sagten: Nicht jeder ist für den Job geboren.“ Gelassen beobachte ich Canterman beim Niederschreiben einiger Notizen.
„Wann traten Ihre Albträume erstmals auf?“, fragt er mich im Anschluss.
Ich zucke mit den Schultern. Nachdenklich kreist mein Blick. „Keine Ahnung. Ist aber noch nicht lange her.“
„Mehr als zwei oder drei Wochen?“
„Keinesfalls. Ich würde eher sagen, dass –“ Abrupt verstumme ich und erkenne, worauf Canterman hinauswill. „Sie spielen auf den Abend in der Klinik an. Das ist nun aber wirklich weit hergeholt.“ Mein angedachtes Schmunzeln kommt nicht zur Entfaltung, denn eine befremdliche Beklemmung ergreift von mir Besitz.
„Unsere psychischen Probleme ergeben sich aus prägnanten Alltagssituationen. Wir nehmen sie wahr und vergessen sie wieder. Doch unser Unterbewusstsein holt sie immer wieder hervor, um uns daran zu erinnern, dass es unbewältigte Situationen gibt. Es erinnert uns stets aufs Neue. Und falls wir nicht reagieren, nicht nach den Ursachen forschen, bedient es sich anderer Mittel. Das geht so weit, bis die Konsequenzen sich körperlich manifestieren, bis der Gedanke zu einem Stachel in unserem Fleisch wird …“
Unwillkürlich kratze ich an meiner Bauchwunde.
„Ich denke“, ergänzt der Doktor, „Sie wissen, wovon ich spreche.“
Leichter Schwindel erfasst mich; ein flaues Gefühl füllt meine Bauchhöhle.
„Ich werde jetzt gehen, Doktor. Es gibt einiges, über das ich nachdenken muss.“
„Suchen Sie mich nächste Woche zur gleichen Zeit wieder auf, Mister Bannister. Mir scheint, dass wir bei der kommenden Sitzung bereits einige Puzzleteile zusammenfügen können.“
Als ich aufstehe, sind meine Bewegungen die einer Marionette. Ich sehe Jennifer vor mir und ihr strahlendes Lachen. Erst im Wagen bemerke ich in Bauchhöhe den feuchten, dunkelroten Fleck auf meinem Hemd.
***
Ich bin ein Egoist! Ich wollte es nicht wahrhaben, doch der Doktor hat recht. Wahrscheinlich möchte ich bis ans Lebensende das Idol für meine kleine, unschuldige Tochter sein. Aber damit würde ich nicht nur Verrat an mir selbst, sondern vor allem an ihr begehen.
„Jennifer?“ Die Haustür schwingt auf und ich rufe ihren Namen. Aus ihrem Zimmer im ersten Stock hallt mir ein gedämpftes „Hi, Daddy!“ entgegen.
„Komm herunter zu mir, Kleines!“
„Was ist denn?“, ruft sie vom Treppenabsatz herab. Brennende Neugier schwingt in ihren Worten mit.
„Weißt du noch“, sage ich, „vor ein paar Wochen, als ich dich in die Klinik mitgenommen habe? Ich möchte, dass du mich jetzt dorthin begleitest. Ich will dir alles zeigen, was ich dort mache.“
Die funkelnde Freude in ihren Augen wärmt mich. Zwei Minuten später sind wir unterwegs.
***
„Es ist kalt hier drin.“ Jennifer schlingt die Arme um ihren zierlichen Körper. Sie zittert trotz des gefütterten Anoraks.
„Wir bleiben nicht lange“, versichere ich ihr. Denn ich benötige nicht viel Zeit, um ihre kleine, heile Welt zu zerstören. Ich hoffe, dass Jennifer danach noch dieselbe ist. Ich hoffe, dass ich danach noch ihr Daddy sein darf.
„Was ist hinter diesen Türen?“
Sie meint die Kühlkammern mit den Toten. Also gut, die Zeit für Ausflüchte ist vorbei. Ich entriegle eine der Kammern und ziehe die Bahre heraus. Darauf liegt ein junger Mann. Brust und Unterleib sind mit einem weißen Laken bedeckt. Seine Haut besitzt noch nicht die typische Leichenblässe, denn er wurde erst am Morgen eingeliefert. Auf den ersten Blick wirkt er schlafend, lässt man einmal das Loch von der Größe eines Vierteldollars in seiner Stirn außer Acht.
„Warum … zeigst du mir das?“ Abscheu und Ekel zeigen sich auf Jennifers Gesicht.
„Weißt du, was mit diesem Mann los ist, Kleines?“
„Er … ist tot, oder?“ Sie weicht einen Schritt von der Bahre zurück.
„Nicht nur er. Alle, die hinter diesen Türen liegen, sind tot.“ Meine ausgreifende Geste umfasst die gesamte Leichenhalle.
„Ich will das nicht sehen!“ Sie vergräbt ihr Gesicht in ihren kleinen Händen. „Der Mann macht mir Angst!“
„Wir gehen gleich. Aber du wolltest doch wissen, was Daddy arbeitet. Ich habe dir immer gesagt, ich wäre Arzt. Und das stimmt in gewisser Weise auch. Aber alle meine Patienten sind tot. Ich kann keinen von ihnen mehr retten. Ich kann nur dafür sorgen, dass die, die nicht mehr sprechen können, uns noch ein paar Hinweise auf ihr Ableben oder auf ihre Mörder geben.“
„Er ist ermordet worden?“ Jennifer lässt ihre Finger so weit hinabgleiten, dass ihre Augen freiliegen. „Sind alle hier ermordet worden?“
„Nicht alle. Bei einigen weiß man es auch erst, wenn man sie genau untersucht hat.“
„Wie … wie untersucht man denn einen Toten?“
Jetzt kommt der hässliche Teil. Ich kann und will ihn aber nicht verheimlichen. Geradlinig bewege ich mich auf einen Metallschrank zu, öffne die oberste Schublade und ziehe ein langes Tablett hervor, auf dem chirurgische Instrumente liegen. Unbestimmte Zeit starre ich darauf: Wundhaken, Spreizer, Ultraschallmesser, Elektrotom, Klammernahtgerät. Sie alle habe ich heute benutzt, gereinigt, sterilisiert und säuberlich zurückgelegt. Ich lasse Jennifer einen kurzen Blick darauf werfen, erkläre ihr oberflächlich den Vorgang des Sezierens und fahre anschließend mit ihr heim. Wir werden zu Abend essen, uns auf der Couch herumlümmeln und fernsehen. Meine nächsten Worte habe ich mir gut zurechtgelegt, als ich mich zu meiner Tochter umdrehe, um ihr mein Handarbeitszeug zu zeigen. Was ich jedoch sehe, lässt mich erstarren.
„Um Himmels willen!“, rufe ich entsetzt. „Was tust du denn da?“ Jennifers Anorak liegt am Boden. Sie hat ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen und ist nun dabei, auch den Rest ihrer Kleidung abzulegen. Ich kann nicht verhindern, was sie tut, denn die Starre hält mich gefangen. Fassungslos schaue ich ihr zu, wie sie ihren Pullover über den Kopf zieht und auch das Hemdchen, das sie darunter trägt. Dann öffnet sie ihre Hose und streift sie über die Beine. Dasselbe macht sie mit ihrem Slip, bis sie nackt vor mir steht.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und bin regelrecht gelähmt. Die Situation ist derart absurd, dass ich bete, unverzüglich aus diesem Traum zu erwachen. Denn es kann sich nur um einen Traum handeln. Immer und immer wieder sage ich mir, dass dies unmöglich die Realität sein kann … dass sie es nicht sein darf!
„Was ist denn los, Daddy? Schau nur: Ich bin nackt und hilflos. Möchtest du mir nicht ein bisschen wehtun? Möchtest du nicht gerne erfahren, wie es sich anfühlt, wenn Titanstahl in mein Fleisch schneidet oder mein Brustkorb gespalten wird? Du hast die Instrumente, die du dafür benötigst. Spürst du denn keinerlei Verlangen?“
„Bitte, Jennifer, sprich nicht so. Zieh dich an. Es war dumm von mir, dich an diesen Ort zu bringen. Ich konnte doch nicht wissen, dass du auf diese Weise –“ Das letzte Wort bleibt mir im Halse stecken. Jennifer tappt langsam auf mich. Auf ihren Zügen spiegelt sich ein Ausdruck hämischer Vorfreude auf etwas, das ich noch nicht erkennen kann. Das ist nicht mehr das Gesicht meiner Tochter. Das ist …
„Kommt es dir bekannt vor?“, scheint sie meine Gedanken zu erraten. „Sieh nur genau hin. Sieh in die Augen der kleinen Jennifer.“
Auf gar keinen Fall! Ich will meine Tochter nur schnappen und mit ihr nach Hause, um diesem grauenvollen Albtraum zu entkommen. Doch sie lässt mir keine Wahl, gibt mir nicht den Funken einer Chance. Sie ist jetzt so nahe, dass ihr Blick den meinen magnetisch anzuziehen scheint. Größer und größer werden ihre Augen, bis ich in den dunklen Pupillen versinke …
… und von einem Nachtmahr in den nächsten stürze!
Zwei Männer in dunkler Kleidung mit Lederwesten, auf denen eine martialische Beschriftung prangt, verwüsten einen Wohnraum. Möbel und Gegenstände werden umhergeworfen. Am Boden liegt eine Gestalt mit zertrümmertem Schädel in einer Blutlache. Daneben ein blutbespritzter Baseballschläger. Auf einem Sofa hat sich eine junge Frau eingerollt, die hysterisch schreit und schützend die Hände an den Kopf gelegt hat. Einer der Männer, schmal von Statur, drischt mehrmals mit geballter Faust auf die Frau ein. „Hör mit dem Gezeter auf, Schlampe!“ Er verpasst ihr noch einen Stiefeltritt in die Magengrube.
„Fangen wir jetzt an?“, fragt sein Kumpan. Er ist grobschlächtig von Gestalt. Seine Muskeln sind unter einer Fettschicht verborgen.
„Dräng mich nicht! Dräng mich jetzt bloß nicht, verdammt!“, schreit der andere und deutet auf den Toten. „Der Kopf von dem Typen ist Matsch! Warum schlägst du so fest zu? Der merkt doch jetzt gar nichts mehr!“
Ich fahre zusammen wie unter einem Stromschlag. Nicht wegen der Gewalt, sondern wegen der Stimme des Hageren. Beim ersten Mal ist es mir nicht aufgefallen, aber jetzt bin ich mir sicher: Er spricht mit meiner Stimme!
Die Kerle fallen über die Frau her, reißen ihr die Kleidung in Fetzen vom Leib und prügeln erbarmungslos auf sie ein.
„Schlag sie nicht tot, du Affe! Schlag sie bloß nicht tot!“
Ich will eingreifen, mich den Schlägern entgegenwerfen, aber ich bin zu keiner Bewegung fähig, bin nur ein Beobachter, ein Geist, der hilflos den Schrecken ausgeliefert ist. Ich schreie vor Wut, aber niemand nimmt von mir Notiz. Immer wieder vernehme ich die Stimme des Dünnen – meine Stimme! –, die die wehrlose Frau beschimpft und demütigt. Nacheinander schänden diese Bastarde die Frau, deren Gegenwehr stets von eisenharten Hieben erstickt wird. Dann kehrt Ruhe ein. Aber nur kurz.
„Sie ist jetzt so weit“, sagt der Dünne mit meiner Stimme. Er greift unter seine Lederweste und holt ein zusammengerolltes Bündel hervor. Als er es entfaltet, erkenne ich chirurgische Schneidwerkzeuge. „Halt sie ruhig, während ich sie ausweide. Ich will in ihre Augen sehen.“
Die nachfolgenden Szenen erlebe ich wie in Trance. Ich will mich übergeben, aber außer einem Würgen und einer Menge saurem Speichel in meinem Mund bringe ich nichts zustande. Irgendwann höre ich auch die gequälten, spitzen Schreie der Gefolterten nicht mehr. Zur Besinnung komme ich erst, als der stämmige Typ einen Benzinkanister in dem Wohnraum entleert und diesen in Brand setzt.
Panisch zucken meine Gesichtsmuskeln. Die Frau auf dem Sofa ist blutüberströmt, ihr Körper an unzähligen Stellen aufgeschnitten, viele Wunden mit Spreizzangen geöffnet. In ihrem Schoß liegen aus dem Bauch gequollene Organe. Und dennoch ist sie am Leben! Hinter ihr züngeln Flammen hoch, lecken nach ihren Haaren, die knisternd Feuer fangen und ihren Kopf in eine Fackel verwandeln. Mein Verstand droht zu kollabieren – und endlich gelingt es mir, mich von dem grauenerregenden Anblick loszureißen. Aus den Untiefen von Jennifers Augen drifte ich zurück in die Wirklichkeit.
„Wie war es für dich?“, fragt meine Tochter.
„Scheußlich …“, presse ich hervor. „Unsagbar scheußlich …“ Meine Hände zittern. Die Nachwirkungen des Erlebten werden mich noch lange verfolgen.
„So hat Kristin es auch empfunden. Nur tausendmal stärker.“
„Kristin? Sie heißt Kristin? Woher …?“
„Woher ich das weiß?“ Jennifers Gesicht kommt dem meinen ganz nahe. Ihre Züge scheinen sich zu verändern, wabern und pulsieren. Schwarze Schatten wogen unter ihrer Haut. Die Erkenntnis versetzt mir einen Stich, der sich gleich einer Degenklinge in mein Hirn bohrt.
„Du … du bist Kristin!“ Es gibt keinen Zweifel. So unglaublich es sich auch anhört, weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass es nicht anders sein kann.
„Und du?“, fragt mich die Fremde in Gestalt meiner Tochter. „Welche Rolle mag dir wohl zukommen?“
Der Hagere kommt mir in den Sinn. Der, der mit meiner Stimme gesprochen hat. Sollte er etwa –?
„Ah, du erinnerst dich.“ Jennifer strahlt mich an – mit den Augen von Kristin. „Du hast da ein außerordentlich sadistisches Spiel gespielt. Damals … in dem anderen Leben.“
Das ist mir zu hoch. Ich begreife es nicht. „Ich habe schon einmal gelebt?“, ist alles, was ich momentan zu sagen fähig bin.
„Nicht sonderlich lange. Zwei Monate nach dem Vorfall mit Kristin und ihrem Verlobten hat dir der elektrische Stuhl einen gnädigen Tod bereitet. Viel zu gnädig für das, was du angerichtet hast.“
„Blödsinn! Ich glaube dir kein Wort! Sag schon: Steckt Doktor Canterman dahinter?“
„Eine nahe liegende Vermutung. Aber außer der Suche nach dem ganz großen Fall, der ihn berühmt macht, beschäftigt ihn wenig.“
„Wie geht es weiter?“ Mein Zittern verstärkt sich, als ich die Frage stelle, weil ich mich davor fürchte, eine Antwort zu erhalten.
„Du hast große Schuld auf dich geladen, Daddy. Diese Schuld muss beglichen werden.“
Es ist lächerlich. Ich habe nie an Reinkarnation geglaubt. Ich vertraue den wissenschaftlichen Fakten und hänge nicht den Mythen sakraler Scharlatanerie nach. Dennoch will man mich für etwas verurteilen, das ich gar nicht getan haben kann. Wahrscheinlich hat diese Göre eine Truppe Schläger um den Finger gewickelt, die mich auf dem Klinikparkplatz in die Mangel nehmen sollen. Denen aber werde ich einen gehörigen Strich durch die Rechnung machen.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich vor deiner Tür stand, zitternd, frierend und hungrig?“
„Nein. Ich …“ Es ist, als würden sich Schleier um mein Bewusstsein lichten. Ja, da steht sie. Nicht einmal ein Jahr ist es her. Wie konnte ich das vergessen? Was hat sie mit mir gemacht, dass ich es vergessen und nie wieder danach gefragt habe …?
„Es ist nicht wichtig“, liest sie erneut meine Gedanken. „Meine Fähigkeiten übersteigen den Horizont eines Naturwissenschaftlers.“ Ihre Stimme ist sanft, doch bereits mit ihren nachfolgenden Worten verändert sie sich, wird kalt und roh: „Tue nun Buße für deine Sünden.“ Sie lenkt meinen Blick zu dem Metallschrank mit der vorgezogenen Schublade. Im Schein des Neonlichts blitzen die Skalpelle, Klammern und Messer.
„Greif zu“, fordert sie mich auf. „Da ist diese kleine Wunde auf deinem Bauch. Wir sollten da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“
„Du steckst dahinter?“
„Ich habe sie dir eines Nachts zugefügt als Vorgeschmack auf das, was noch kommt. Sie wird sich nicht schließen, was immer du auch anstellst. Aber sie lässt sich problemlos weiter öffnen.“
„Du musst verrückt sein, wenn du glaubst, dass ich mich selbst –“ Ich zucke zusammen. Gegen meinen Willen bewege ich mich zu dem Schrank hin. Meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Es ist, als habe ein fremder Wille sie übernommen. Als ich Skalpell und Spreizzange packe, weiß ich, dass auch meine Arme fremdgesteuert sind. Ich besitze nicht die Macht, mich dagegen aufzulehnen. Tief ramme ich mir das Skalpell in die Eingeweide und schneide ein kreisförmiges Loch in mich hinein. Der Schmerz lässt mich aufschreien, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien habe. Eine unsichtbare Kraft drückt meinen Kopf hinunter, damit ich jedes blutige Detail meiner Selbstverstümmelung betrachten kann.
„Du grausames Monstrum!“, stoße ich röchelnd aus. Schon jetzt ist die physische und psychische Folter nahezu unerträglich. Aber ich weiß, dass es erst der Anfang ist. Ich weiß, dass mir unaussprechliche Qualen bevorstehen. Alles in mir rebelliert und drängt mich zum Widerstand. Doch das einzige Resultat besteht darin, dass mein geschundener Leib von Krämpfen geschüttelt wird.
„Bleib ruhig, Daddy. Ich will dir in die Augen sehen, wenn du dich ausweidest …“