Tony Lucifer
Ave Anus
1. Auf dem Weg zur Kirche.
An diesem kalten Wintermorgen hatte ihn die Mutter früh geweckt; es war Freitag und er hatte als Ministrant die Pflicht, der Frühmesse in der Dorfkirche beizuwohnen. In der Küche brannten schon die Scheite im Ofen, müde schlürfte Peter den vorbereiteten Haferbrei in sich hinein und machte sich bald auf den Weg, da er noch einen anstrengenden Fußmarsch vor sich hatte.
Mürrisch schloss er die Tür der ärmlichen Hütte seiner Eltern und stapfte los. Um diese Zeit schwieg der Wald noch, nur der bleichgelbe Morgenmond spiegelte sich in den Kristallen des über Nacht gefallenen Schnees. Peter schlug das schnellste Tempo an, das seine kleinen Füße ihm erlaubten, denn mit jedem Schritt versank er in der brüchigen Schneedecke. Erst als der Weg zur Kirche tiefer in den Wald führte, gewannen seine kindlichen Schritte an Tempo, während er sich in seinem schweren Mantel verkroch und im Halbschlaf dem Geräusch seines keuchenden Atems lauschte.
Eine gute Stunde nach seinem Aufbruch begannen die Laternen des Dorfes durch das spärlicher werdende Gehölz zu schimmern. Still und verlassen lag das kleine Nest da, seine Bewohner noch in tiefem Schlaf versunken; vermutlich würde sich niemand in dieser frühen Stunde auf den Weg zur etwas abseits liegenden kleinen Kirche machen - Peter war das mehr als recht, da er während des Gottesdienstes noch ein kleines Nickerchen machen konnte.
Als die Kirche in sein Blickfeld geriet, wunderte Peter sich nicht wenig, denn durch die bunten Glasfenster schien mehr Licht zu dringen als sonst; wie wenn eine riesige Anzahl an Kerzen entzündet worden wäre oder es im Inneren brennen würde. Irritiert klopfte Peter seine nassen Schuhe auf der Strohmatte vor der alten, hölzernen Eingangstür der Kirche ab und drückte die rostige Klinke nach unten.
2. Ankunft und Vorbereitung.
Bevor Peter auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, flog die Tür auf und er wurde links und rechts von muskulösen, behaarten Armen gepackt, die zu zwei finsteren Gesellen mit nackten Oberkörpern und schwarzen Ledermasken gehörten. Die Tür hinter ihm fiel donnernd ins Schloss und ein Schlüssel wurde mit hörbarem Quietschen umgedreht. Peter gab ein entsetztes Keuchen von sich und wurde brutal durch den Mittelgang nach vorne in Richtung Altar geschleift. Auf dem Teppich vor dem Altar waren Teile der alten Kirchenbänke, Heiligenbilder und Holzkreuze zu einem unordentlichem Stapel aufgeschichtet und in Brand gesetzt worden. Daneben lag der alte Dorfpfarrer am Boden, in seinem zu einem entsetzten Schrei geöffneten Mund (oder dem, was davon übrig war) hatte jemand mit brutaler Gewalt die Monstranz mit der Spitze voran hineingerammt; sein zerissenes, altes Gesicht war von einer runden Pfütze Blut umgeben, die durch die Flammen wie ein Heiligenschein leuchtete. Peter blieb allerdings keine Zeit, über dieses schauerliche Bild nachzudenken, denn die Maskenmänner zogen ihn zu einem großen Holzkreuz auf der Seite des Kirchenraums und fesselten ihn daran mit schweren Ketten. Hilflos verdrehte Peter den Kopf nach oben und sah nach der Christusfigur mit dem Dornenkranz, die weiter oben auf dem Kreuz befestigt war; Jesus aber glotzte bloß stumpf zurück, von ihm war sicher keine Hilfe zu erwarten.
Deprimiert ließ Peter den Kopf sinken und musterte die absurde Szenerie: das knisternde und stinkende Feuer, welches sich aus den geschändeten Heiligtümern nährte, die bizarr wirkende Leiche des Pfarrers, die so aussah, als würde sie in einem unendlichen Protest zum Himmel kreischen, die zwei stark behaarten Muskelmänner, die durch ihre schwarzen Masken mit den schmalen Augenschlitzen keine Regung erkennen ließen und still am Rand des Geschehens standen, als würden sie auf etwas warten.
3. Einzug, erste und letzte Predigt.
Gerade als bei Peter der erste Schock nachließ, er die Schmerzen seiner durch Ketten an das Kreuz gefesselten Glieder zu spüren begann und sich Tränen der Verzweiflung durch sein rußig gewordenes Gesicht zu bahnen begannen, öffnete sich die Tür der Sakristei hinter dem Altar und eine Klingel schellte mit einem gequälten Misston, wie ihn diese alte Kirche noch nie vernommen hatte. Schwarzer Rauch quoll aus der Tür hervor, aus dem sich eine seltsame, langsam voranschreitende Prozession schälte. Voran stolperten ein paar wie Kinder aussehende Wesen, deren übergestülptes Ministrantengewand – ein weißes Kleid, roter Kragen mit goldenem Rand – nur unzulänglich verdecken konnte, dass hier und da ein paar Buckel herausstachen, die an diesen Stellen nichts verloren hatten; diese angedeuteten Missbildungen waren aber harmlos im Vergleich zu dem, was anstelle der Gesichter dieser seltsamen kleinen Wesen saß: eine krebsrote, eingeschrumpelte kleine Kugel mit einer sich in schnellem Rhythmus öffnenden und schließenden kleinen kirschroten Öffnung, die vermutlich als Atem- oder Sprechorgan diente. Augen waren auf der zerklüfteten Haut keine zu erkennen. Die Wesen zogen langsam in einem Kreis an Peter vorbei und umrundeten das inzwischen nur mehr glimmende Feuer vor dem Altar, an dessen linker und rechter Seite nun die zwei Maskenmänner mit gesenkten Köpfen knieten.
Vier der hinteren Ministrantenwesen mit den kleinen Köpfen zogen mit sichtlicher Anstrengung an verschiedenen Seilen, die an einem Leiterwagen befestigt waren, der auf quietschenden großen Rädern hinter ihnen aus dem wabernden Dunkel der Sakristei rollte. Was darauf thronte, das hatte der kleine Peter in seinem Leben noch nicht gesehen, nicht einmal in seinen wildesten Alpträumen hätte er sich sowas vorstellen können. Es war etwas, das aussah wie eine Kreuzung zwischen einer weißlichen Nacktschnecke und dem, was einmal ein sehr dicker Mann gewesen sein musste. Inmitten der schlabbrigen, tropfenden Körperfülle, deren Lappen zwischen den Stäben des Leiterwagens fast bis zum Boden herabhingen, sah man ein Gesicht mit eingesunkenen Augen, dicken, wabbeligen Fettbacken und einem wulstigen Mund. Auf der kurzen, breiten Stirn bewegte sich ein Paar Fühler, welches ein zähes Sekret produzierte, das in zähen Bahnen seitlich am monströsen Körper auf den Boden tropfte - irgendwie erinnerte die Erscheinung Peter an eine halb heruntergebrannte Kerze, bei der das Wachs sich zu abenteuerlichen Formen verschmolzen hatte. Während der Leiterwagen an Peter vorbeirollte, sah das Wesen das gefesselte Kind an und nickte ihm zu; der wulstige Mund war zu einem schlaffen Loch geöffnet und man konnte sehen, dass es wenige Zähne hatte, dafür eine abartig lange Zunge, die unruhig an den schleimigen Lippenwulsten entlangfuhr. Am eindrucksvollsten aber an der ganzen Erscheinung, deren über den Oberkörper gequetschter, brokatbesetzter Ornat nicht ihre wurmhafte, fette Nacktheit verdecken konnte, aber war der Geruch - besser gesagt ein beissender Gestank, der vage an eine Mischung aus verfaulten Exkrementen, Urin und Weihrauch erinnerte.
Als der Leiterwagen mit protestierenden Quietschlauten an seinem vorgesehenen Platz zu stehen kam – vor dem Altar, eine Stufe über dem schwelenden Feuer und der Leiche des Pfarrers – warfen sich die missgebildeten Ministranten mit den kleinen Kugelköpfen vor dem fetten Schneckenwesen auf den Boden; auch die Maskenmänner beugten kurz ihre muskulösen Oberkörper, eilten dann jedoch schnell in den abgedunkelten Hinterteil der Kirche, um ein großes Gestell, welches mit staubigen Decken verhüllt war, unter erheblichem Kraftaufwand nach vorne zu schleifen. Peter drehte unter Schmerzen sein Gesicht nach links zu dem monströsen Wesen, welches eine Art Hohepriester oder Würdenträger zu sein schien; die Ministranten lagen weiterhin auf dem Boden, nur ihre an seltsamen Stellen aus den Kleidern herausstechenden Buckel zuckten manchmal seltsam, unvermutet, als wenn sie ein Eigenleben führen würden.
Das Hohepriestermonster richtete die trüben Augen auf Peter, der Mund öffnete sich und heraus kam ein stotterndes, feuchtes Gestammel, bis sich aus dem unverständlichen Lautbrei doch tatsächlich so etwas wie ein sonore, volle Baritonstimme zu erheben begann. “Peeterle! Peeeeeeterle!” hob das Wesen an, und sein Körper zitterte wie die nach allen Seiten verlaufenden Wellen eines Teichs, in den man einen Kieselstein gworfen hatte, “Peeeterle, mein lieber kleiner Bub! Wie schön, dass du gekommen bist! Du glaubst sicher, der liebe Gott, der schaut dir zu und wird dich von deinem Leid befreien. Aber, Peterle, der liebe Gott, der ist jetzt nicht hier! Der hat kein Interesse mehr an dir, der hat dich (hier wurde die ölige Stimme lauter und der Körper wabbelte besonders stark), der hat, der hat dich FALLENGELASSEN!”, die Stimme wurde eine Zeit lang zu einem gleichförmigen, betörenden Summen, bevor sie sich wieder erhob: “Vor vieeeelen, vielen Zeitaltern kam mein Vaaater in eure Welt, in einem schwarzen, verbrannten Kometen, der auf euren Planeten fiel, und der sein Leben barg. Vaaater wurde durch die Wucht des Aufschlags befreit und wühlte sich in den Boden.
Vaaater hatte Hunger und war geil, so geil, geil geil, GEIL! Und tief in der Erde, ja, da fand er ein Nest, mit vieelen Eiern brauner, nackter Lebensformen und Vaaater fickte und genoss die Eier und nahm sie in sich auf, barg sie, bis sie sich in ihm vereinten und mit ihm zusammenschmolzen. Nach laaaanger Untätigkeit, in der ich in seinem warmen Leib heranwuchs, brach ich aus Vaaater hervor und suchte mir müüühsam meinen Weg an die Oberfläche. Ich wuuuchs und wuuuchs, ernährte mich, von Gewüüürm und Gekreuch, von vierbeinigen und zweibeinigen Wesen, immer im Bewusstsein meiner Missioooooon.”
Hier wurde die Stimme wieder zu einem hypnotischen und irgendwie betörenden Summen, das Peter einschläferte. So bekam er auch nicht richtig mit, das die zwei Maskenmänner inzwischen mit ihrem Gestell beim Hohepriester angelangt waren und die Decken entfernten; zu sehen war ein komplizierter Mechanismus, mit einem Schwungrad, an dessen Enden dicke Ketten baumelten.
“Nun darfst du mir dienen, Peeeeterle, freust du dich nicht” deklamierte das Schneckenwesen mit inzwischen höher gewordener Stimme, während die Maskenmänner unter sichtlichen Mühen, aber doch mit einiger Fertigkeit die dicken Ketten unter das Unterteil der bleichen Monstrosität schoben und auf der anderen Seite wieder nach oben zogen, um an deren Enden befestigte Haken an wiederum größeren Haken, die aus dem Gestell hervorragten, zu befestigen. “Nuuuun, Peeeeterle, werde ich dich zu einem Fäustel machen! Ein Fäustel, Fäustel, so wie meine Kinder hier um mich herum!” Ein kleiner wurmartiger Fortsatz, der am Körper des Schneckenwesens saß und wohl so etwas wie ein Arm sein sollte, wies zitternd auf die blinden Wesen mit den kleinen, roten Köpfen, die inzwischen ihre Oberkörper aufgerichtet hatten und deren kleine Mundöffnungen nun ein disharmonisches Gesumme anstimmten.
4. Die Opferung.
Peter versuchte, krampfhaft die Augen offen zu halten, es fiel ihm schwer, irgendwie schien ihn das Gesumme der Wesen, die das Monster “Fäustel” genannt hatte, einzulullen. So erschien es ihm wie in einem Traum, als die beiden Maskenmänner ihn von den Ketten befreiten und ihn zum Altar schleiften. Dort hatte man das Hinterteil des schneckenartigen Priesters mittels des Rads in die Höhe gehievt und einen kleinen Schemel genau darunter auf den Boden gestellt. Ehe Peter verstand, wie ihm geschah, wurde er darauf gedrückt und mit eisernem Griff von den beiden Muskelprotzen links und rechts von ihm festgehalten. “Soooo, mein Peterle,” hörte er es von irgendwo ober ihm heiser zischen, “jetzt wirst auch duuu zu einem meiner Fäustel werden und mir treu und redlich dieeeenen!” Wieder versank der Satz in einem hypnotischen Summen, das Peters Kopf erfüllte. Sein Magen begann zu rebellieren, denn unter dem Hinterteil des Monstrums stank es erbärmlich nach Scheiße, Urin und sonstigen unaussprechlichen Ausscheidungen. Langsam hob Peter den Kopf und sah zwei riesige, weissliche Hinterbacken, die sich auf ihn herabzusenken begannen. Diese wurden durch die Ketten immer weiter auseinandergezogen und Peter starrte mit wieder erwachender Panik auf einen riesigen, sternförmig gezackten Anus, mit dicken, rotbräunlichen Lippen, an denen sich blinde Würmer ringelten. Durch die Auseinanderspreizung der Afteröffnung entwichen mit höllischem Knattern infernalische Gase, die sich wie zarter, durchsichtig-brauner Tüll um Peters Gesicht und Körper legten. Die langwierigen Blähungen brachten den Anus zum Zittern und zum Singen - zusammen mit dem Gesumme des Hohepriesters und den Geräuschen der erregt nach oben gerichteten Fäustel klang das wie eine Höllenversion einer Fuge oder Kantate, gespielt auf einer vollkommen verstimmten und asthmatischen Kirchenorgel.
Um Peter herum wurde es finster, als sich das wabbelige, zitternde Fleisch endgültig auf ihn herabsenkte. Der aus ihm hochsteigende, panische Schrei, der in ein infernalisches Kreischen überging, wurde erstickt durch einen explosionsartigen Plopplaut, als sich sein Kopf durch den Anus geschoben hatte.
Dort drinnen, in dieser stickigen Afterkammer Satans, in diesem unheiligen Gefäß voller Gestank, Ausdünstung und Gasen erhob sich ein großes Sausen und Brausen, eine Welle scharfer Flüssigkeit umspülte das Haupt, drang ein in den in absoluter Verzweiflung zum letzten Ruf geöffneten Mund, drang in die Nasenlöcher, in die blind gewordenen Bubenaugen.
Über ihm jubilierte ein gewaltiges Organ, das Röhren eines Tiers mit einem nicht enden wollenden Orgasmus. Gewürm und anderes schleimiges Getier schwamm blitzschnell herbei und machte sich gierig am Schädel zu schaffen, verrichtete ohne Mitleid die Arbeit, die getan werden musste.
Als sich das Hinterteil des Hohepriesters wieder hob, die bräunlich-schwarzen Dampfschwaden sich wieder lüfteten und die unausweichliche Furzkanonade nur mehr als irres Echo in den Ecken der alten Kirche widerhallte, da war auch aus dem Peter nun ein Fäustel geworden: Wie ein Neugeborenes zappelte er auf seinem Schemel, der kleine rote Kopf ohne Augen drehte und wendete sich, die Mundöffnung verzerrte sich immer wieder in alle Richtungen; im Körper des Burschen, der genau das jetzt nicht mehr war, bildeten sich Beulen und verschwanden wieder, als würde etwas in dem kleinen, geschundenen Körper herumwandern, auf der Suche nach Orientierung in seiner neuen Heimstatt.
Lange Stunden nach der Verwandlung von Peter in einen Fäustel zog die ganze Gesellschaft weiter auf der Suche nach neuen Dienern, in der Ferne sahen sie aus wie ein düsterer Schandfleck an diesem lichten, sonnigen Wintertag, so als wenn ein Dämon mit schwarzer Farbe auf ein schönes Gemälde gekleckst hätte; allen voran stapften die Maskenmänner und danach hinkten die Fäustel, die mit vielen Stricken den Leiterwagen des zufrieden schmatzenden Hohepriesters zogen; das unmelodische Quietschen seiner Räder war noch lange zu hören, bevor es verschwand und die Singvögel, die Drosseln, die Amseln, Spatzen und Finken fortfuhren, Gottes schöne Welt zu loben, im Unwissen, dass sie nun verpestet war mit einem grauenhaften Misthauch, der von Dorf zu Dorf, von Kirche zu Kirche zog und seine Gefolgschaft unerbittlich vergrößerte.