Vincent Voss

Folge der Stimme aus dem Anus Praeter

 

Es war ein Donnerstag, als Frau Brüggmanns künstlicher Darmausgang das erste Mal zu mir sprach. Unerträglich heiß schlug einem die Luft der Zwei-Zimmer-Wohnung des Seniorenstifts entgegen. Frau Brüggmann lag apathisch in ihrem Bett und ich entfernte gerade ihren Anus-Praeter-Beutel und reinigte die Schwülste des künstlichen Darmausgangs mit Wattestäbchen. Gerade griff ich nach einem neuen Beutel, riss die Verpackung auf, als ich ein Rotzen hörte. Es kam aus dem Loch in ihrem Bauch, dieses öffnete und schloss sich, sah aus, als würde es atmen und sonderte dabei karamellfarbenen Schleim ab. Ich ärgerte mich, rechnete mit flüssigem Stuhl und weiteren kostbaren Minuten der Pflege, die ich an anderer Stelle meiner Tour wieder einsparen musste. Ich griff nach Tüchern, um eine Katastrophe zu verhindern und hörte den künstlichen Darmausgang deutlich meinen Namen sprechen.

„Sören!“

Die Situation gefror. Ich kann Ihnen sagen, dass man in so einem Augenblick zwar völlig bewegungslos verharrt, innerlich aber mit Höchstgeschwindigkeit nach einer Ursache und einer Lösung fahndet. Ich entschied mich für das Naheliegendste: eine Sinnestäuschung. Stress, wenig Schlaf, kaum Sauerstoff in der Wohnung. Gerade hatte ich mich mit dieser Begründung abgefunden, als sich das Loch öffnete, ausdehnte und weitere Worte formte.

„Du bist unser Kontakt, Sören. Wir haben nicht viel Zeit. Bring beim nächsten Mal Fleisch mit.“

Die Schwülste zogen sich zusammen und bildeten wieder die mir bekannte, harmlose Rosette eines künstlichen Anus Praeters. Ich versorgte Frau Brüggmann, wickelte sie in dicke Decken, öffnete alle Fenster und dokumentierte die geleisteten Pflegemaßnahmen in der roten Mappe, die auf dem Wohnzimmertisch lag. Besondere Vorkommnisse trug ich nicht ein.

Abends bei der Bandprobe erzählte ich meinen Jungs von Frau Brüggmanns sprechendem Darmausgang, leider nach dem fünften oder sechsten Bier und der einen oder anderen Tüte. Sie begegneten meiner Sorge um meinen Geisteszustand mit dem gewohnten Humor und es entstand bis zum Morgengrauen das Lied Fleischklumpen II.

 

Frau Brüggmann war in der höchsten Pflegestufe eingeordnet. Drei Besuche in der Frühschicht, drei in der Spätschicht. Das komplette Programm. An- und Auskleiden, Waschen, Wundversorgung, Dekubitus- und Pneumonie-Prophylaxe, Kochen, Füttern, Haushalt. Während meiner Besuche redete ich meistens mit ihr und an guten Tagen füllten sich ihre wasserblauen Augen mit Leben, sie lächelte und tätschelte mir dann den Arm. An schlechten Tagen stöhnte sie nur und der Tumor machte ihr zu schaffen. Ihr Körper war ausgezehrt, doch ihr Bauch spannte und wölbte sich über das schmerzende Geschwür. Ich hatte sie seit 3 Jahren in meiner Tour und als mir Dr. Seifert und Sandra Frau Brüggmann damals vorgestellt hatten, hieß es später auf dem Flur, sie würde nur noch 2 Wochen zu leben haben. Aber Frau Brüggmann wurde 92, 93 und 94 Jahre alt, der Tumor in ihr wucherte und immer noch hieß es, aus medizinscher Sicht schaffe sie höchstens die nächsten 2 Wochen. Sie ist mir ans Herz gewachsen.

 

Doch vor dem nächsten Besuch bei ihr fürchtete ich mich. Ich fühlte mich angeschlagen, instabil, sorgte mich um mein geistiges Gleichgewicht, denn Halluzinationen waren mir im Alltag noch nie begegnet. Der sprechende Darmausgang stellte einen Angriff auf meine Realität dar und ich versichere Ihnen, wenn es um die eigene Realität geht, kämpft man bis aufs Äußerste um sie. Und dennoch … Dennoch hielt ich in meiner Spätschicht an einem Supermarkt und kaufte an der Fleischtheke 100 Gramm Hähnchenbrust- und 100 Gramm Schweinefilet. Manchmal, an besonders guten Tagen, entwickelte Frau Brüggmann einen unglaublichen Appetit und mit diesem rechtfertigte ich meinen Kauf.

 

Wieder schlug mir die stickige, trockene Luft entgegen, der Geruch von Desinfektionsmitteln, alten Möbeln und welkem Leben. Ich brachte das Fleisch in die kleine Küche, verstaute es in den Kühlschrank und begann routiniert mit meiner Arbeit.

„Moin, Moin, Frau Brüggmann, gut geschlafen?“ Ich richtete sie auf, zog ihr die graue Strickjacke über und suchte unter dem Bett ihre Pantoffeln, um sie zum Sessel am Wohnzimmertisch zu transferieren. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die Wölbung unter ihrem Nachthemd bewegte, als hätte sie dort ein kleines Tier versteckt, das nach einem Ausgang suchte. Ich verharrte in der Bewegung, starrte auf das Zucken und hoffte inständig, es würde aufhören. Ich rieb mir die Augen, aber selbst danach ließ es nicht nach. Es war real.

„Frau Brüggmann?“, richtete ich mich an meine Patientin. Sie fixierte die Kommode an ihrer Wand, reagierte wie gewöhnlich nicht.

„Sören“, hörte ich es stattdessen unter ihrem Nachthemd röcheln. Ich schluckte trocken und spürte, wie mir Schweiß den Rücken hinunter rann. Ich hievte sie wieder ins Bett und zog ihr mit zittrigen Händen das Nachthemd hoch. Der Anus-Praeter-Beutel war zu einem Viertel mit nussfarbenem Stuhl gefüllt.

„Sören!“, vernahm ich, sah, wie sich der Beutel blähte. Ich streifte mir meine Latex-Handschuhe über und zog den Beutel ab. Mit Feuchttüchern säuberte ich den künstlichen Ausgang, die runzeligen … Lippen.

„Sören, gib mir das Fleisch!“, forderte der Mund mich auf.

„Haben Sie Hunger, Frau Brüggmann?“, wandte ich mich hilflos an die alte Frau, konnte den Blick aber nicht gänzlich von dem feuchten, fleischfarbenen Krater auf ihrem weißen, faltigen Bauch lösen.

„Das Fleisch, Sören. Leg es mir auf meine Lippen!“

„Ich…“

Ich verschwand in die Küche, holte die beiden Plastikbeutel aus dem Kühlschrank und überlegte, wie ich es verabreichen sollte. Auf einem Küchenbrett schnitt ich es in kleine Würfel, füllte es in eine Schüssel und ging ins Krankenzimmer zurück. In ihrem Bauch zuckte es, die Lippen ihrer Wunde wirkten gierig auf mich.

 

„Ich habe das Fleisch“, sagte ich. „Was bist du?“, wollte ich wissen und hob einen rohen Würfel hoch. Keine Ahnung, ob Frau Brüggmann oder das, was in ihr wohnte, es sehen konnte. Die Lippen bewegten sich, schoben sich vor, stülpten sich und zogen sich wieder nach innen, hellbrauner Kot trat aus und lief die Bauchdecke entlang.

„Sieh aus dem Fenster, Sören!“

Ich stellte die Schüssel mit dem Fleisch auf den Wohnzimmertisch, zog die Gardine zur Seite und sah aus dem Fenster. Frau Brüggmann lebte im siebten Stock, dementsprechend weit war der Blick in den Park und auf das weitläufige Grün des Geländes. Hinter dem Park fuhr eine S-Bahn Richtung Innenstadt, auf dem gestutzten Rasen sah ich trocknende Bettwäsche aufgespannt und eine weiß-graue Katze, die auf etwas lauerte, das sich im Boden versteckte.

„Siehst du die … Katze, Sören?“

Hatte die Stimme nach dem richtigen Wort suchen müssen? Irgendwo in Frau Brüggmanns Gehirn zwischen ihren Erinnerungen, die irgendwo eingemottet im Dachstübchen lagerten? Ich schauderte.

„Ja, ich sehe die Katze.“

Als wäre diese von etwas gestochen worden, sprang das Tier auf, lief wie von Sinnen auf den Waldrand, sprang aus vollen Lauf auf einen Baum zu, klatschte mit dem Kopf gegen den Stamm einer Birke und fiel ins Gras. Ich glaubte, sie noch ein paar Mal zucken gesehen zu haben, jedenfalls stand sie nicht mehr auf.

„Sie ist tot, Sören. Jetzt gib mir das Fleisch und leg es auf meine Lippen.“ Ich zog die Gardine zu und sah zu Frau Brüggmann, ihrem Körper.

„Bitte!“, sagte der Anus Praeter. Ich nahm die Schüssel und legte ein Stück Hähnchenbrust auf den Wundrand des künstlichen Darmausgangs.

„… nicht viel Zeit“, verstand ich, als das zweite Stück Fleisch langsam in den Schlund gerutscht war und in Frau Brüggmann verschwand. Ich legte eine weiteres nach.

„Drück!“, forderten die Lippen mich auf. Vorsichtig legte ich meinen latexgeschützten Zeigefinger auf das Fleisch und drückte es in den Darm.

„Weiter!“

Stück für Stück legte ich nach und glaubte im Licht des Sonnenuntergangs Zähne hinter den schwulstigen Wundrändern arbeiten zu sehen. Zähne und Schlimmeres.

„Ich muss mit dir sprechen, Sören. Kommst du bitte ins Teamleiterzimmer?“, rief Sandra am nächsten Tag vor meiner Spätschicht in den Aufenthaltsraum und war schon wieder verschwunden, als ich mich zur Tür drehte.

„Nimm die Handschellen mit, ich glaub, sie gibt es dir hart“, spottete Dirk über ihren Auftritt, klemmte sich seinen Tourenkoffer unter den Arm und warf mir einen Handkuss zu.

„Kriegst mich nicht, Schwuchtel“, antwortete ich meinem homosexuellen Kollegen, zeigte ihm meinen Mittelfinger und stand mit einem flauen Gefühl im Bauch auf.

„Dein Finger ist so schön lang, fast wie ein Penis.“ Dirk verschwand lachend, ich schlich zum Teamleiterzimmer und ahnte den Ärger, der in der Luft lag. War das gestern wirklich alles passiert?

 

Sandra saß an ihrem Schreibtisch, ich nahm Platz.

„Sören, Katrin hatte heute früh die Zwei, die du gestern Abend in der Spätschicht gehabt hast, ja?“

Ich nickte. Sandra hatte eine Art an sich, die ich nicht mochte. Schlimmer war, dass ich mich in Bedrängnis wähnte.

„Und bei Frau Brüggmann war …“ Sie zögerte, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, knipste an ihrem Kugelschreiber auf dem Druckknopf herum, suchte nach Worten und rang um Fassung. Ich glaube, so habe ich sie noch nie erlebt. Ich spürte eine Scham in mir aufsteigen, von ähnlicher Intensität wie damals, als meine Großmutter mich beim Masturbieren in der Badewanne erwischt hatte. Und wie damals verharrte ich in einer Art Schockstarre. Sandra sah mich an, hoffte auf eine Erklärung meinerseits, doch ich schwieg.

„Also, Katrin hat mich angerufen und meinte in Frau Brüggmanns Anus Praeter wäre rohes Fleisch gewesen. Als hätte es dort jemand hinein gestopft. Und … es stank schon fürchterlich.“ Wieder erwartete sie eine Erklärung, hoffte vielleicht sogar auf eine Verteidigung von mir, aber ich blieb regungslos sitzen und ließ es geschehen.

 

„Da ich das nicht glauben konnte, bin ich sofort zu Frau Brüggmann hingefahren, habe mich dort mit Katrin getroffen. Es stimmte!“ Fassungslosigkeit war vielleicht die stärkste Regung, die meine Vorgesetzte empfand und dies in einem Maße, die mich erschütterte, war ich doch der Anlass dazu.

„Sören! Was war da los?“ Ihre Lippen bebten. Ich schüttelte langsam den Kopf.

„Ich kann es dir nicht sagen, Sandra“, antwortete ich ihr.

„Sören, ich muss das melden. Du fährst heute nicht die Zwei, sondern die Fünf. Ich werde mich heute Nachmittag mit Dr. Seifert bei Frau Brüggmann treffen. Die Schlüssel!“

 

Die Fünf war eine reine Haushaltstour. Putzen, Kochen, Einkaufen. Für ungelernte Kräfte. Ich stand auf, ging zum Schlüsselschrank und hängte meinen Tourenschlüssel an den Haken. Und sah den Vormittagsschlüssel der Tour an einem benachbarten Haken. Unauffällig nahm ich ihn mir. Ich kann nicht erklären, warum.

 

Genauso wenig kann ich erklären, warum ich nur einige Stunden später wieder in dem stickigen Zimmer neben Frau Brüggmann am Bett saß, ihr geduldig Fleisch in den Darm schob und den austretenden Stuhl ignorierte. Blutige Schlieren trug er mit sich, die Haut unter den Wundrändern hatte sich entzündet, sonderte Eiter und einen Verwesungsgeruch ab.

„Sören!“, nahmen die Lippen Kontakt zu mir auf. Ich beugte mich vor und näherte mich, um besser verstehen zu können.

„Wir haben nicht mehr viel Zeit in diesem Körper. Ich brauche anderes Fleisch. Dein Fleisch, Sören!“

„Wie?“, fragte ich.

„Ich werde dir sagen, wie. Und unser Wissen mit dir teilen.“

„Wie?“, fragte ich noch einmal und sah an den sich kräuselnden und Stuhl hinaus pulsierenden Lippen, wie in Frau Brüggmann nach einem Wort gesucht wurde. “Küss mich, Sören!“

Ich erstarrte und überlegte, wie es funktionieren sollte. Ich gestehe, in diesem Moment, ekelte es mich, also griff ich nach den Tüchern, um zumindest die Wundränder zu reinigen.

„Küss mich, jetzt!“, drängten mich die Lippen. Ich folgte ihrem Aufruf und presste meinen Mund auf den Anus Praeter, inhalierte tief neben einigen Ausscheidungen das fremde Wissen ein, das in mich strömte.

Und kam erst durch einen lauten Schrei wieder zu mir.

„SÖREN!“ Sandra und Dr. Reichert standen im Zimmer. In ihren Blicken stand ein Ausdruck der weit jenseits des Begriffes Fassungslosigkeit zu suchen war. Ich löste mich aus dem Kuss, erhob mich und flüchtete wortlos aus der Wohnung. Mein bisheriges Leben endete noch an diesem Tag.

 

Sicherlich fragen Sie sich, was es mit diesem Wissen auf sich hat. Ich kann es Ihnen nicht umfassend verraten, nur soviel: Es hat etwas mit dem Grundwasser zu tun und man kann es schmecken. Es tut mir leid. Außerdem bliebe gerade gar keine Zeit dazu, ich muss sehen, dass ich den rechten Moment abpasse. Frau Brüggmann ist nämlich verstorben und soll heute beerdigt werden. Ich stehe vor dem Eingang der kleinen Kapelle und beobachte hinter einigen Koniferen die Trauerfeier, weil die Tür wegen der Schwüle offensteht. Sandra, Dr. Reichert und Katrin kann ich sehen, dazu ihren Sohn, der aus Malmö angereist ist und den Pastor. Dieser hat seine Rede beendet, es wird Zeit. Ich verlasse mein Versteck, ziehe mein Messer, betrete die Kapelle und eile humpelnd auf den aufgebahrten, offenen Sarg. Aus meiner Manteltasche ziehe ich den Plastikbeutel mit meinem Fleisch hervor, das ich mir aus Bauch und Bein entnommen habe. Ich reagiere nicht auf ihr aller Entsetzen, solange es nicht bedrohlich wird. Ich schneide Frau Brüggmanns Kleider auf und lege den Anus Prater frei. Dr. Reichert will einschreiten, das Messer beschwichtigt seine Absichten. Ich sehe, wie sie telefonieren. Ich stopfe mein Fleisch in den leichenerstarrten Leib, nehme ein Zucken unter der Wölbung ihres aufgeblähten Bauches wahr und sehe, es ist Zeit für eine weitere Anweisung. Ich küsse die Lippen und empfange.

 

Seitdem lebe ich im Untergrund. Warte auf weitere Informationen. Es gleicht einem Puzzlespiel, alle Träger, alle Informationen zu sondieren und zu verarbeiten. Viele wissen noch nicht einmal, dass sie Träger sind. Ich finde sie. Man kann sie riechen. Mit meiner Hand fange ich den Duft aus dem Sitzpolster des Linienbusses, ehe er diffundiert und sich auflöst. Ich sauge ihn ein und bin fündig geworden. Ich folge dem Mann mittleren Alters bis zu seiner Wohnung.

 

Nachwort:

 

Die selbst erlebte Schlussszene lieferte mir die eigentliche Idee zu dieser geschmacklosen Geschichte. Tatsächlich wähnte ich mich in Hamburg in einem Linienbus und beobachtete einen Mann, wie er, nachdem eine Frau ausgestiegen war, seine Hand über das Sitzpolster rieb und anschließend an ihr roch. Einige meiner Kurzgeschichten driften jüngst in so eine sonderbare Ecke, die ich für mich „medizinischer“ Horror nenne und die physisch präsent sind, hoffentlich unter die Haut gehen und einen schlechten Geschmack hinterlassen. Ich hoffe, dies ist gelungen.