Prolog

Marcus Publius Vindex, Standartenträger der zweiten Zenturie der dritten Kohorte der Zwanzigsten Legion, stationiert an der äußeren Westgrenze von Britannien, trank nur sehr wenig Wein, während er im Winter seinen Dienst in den für die Proviantbeschaffung zuständigen Truppen versah, und er ging niemals ein unnötiges Risiko ein. Erst wenn der nächtliche Drang, Wasser zu lassen, irgendwann unerträglich wurde, verließ er sein Wachfeuer für einen kurzen Augenblick, und selbst dann sagte er seinem Waffenmeister zuvor erst noch, wohin er ging und zu welchem Zweck. Und wenn er dann zwischen den Zelten hindurchmarschierte, pfiff er laut die Melodie der neunten Anrufung Jupiters, zum Beweis, dass er noch am Leben war.
Am Rande des von den Lagerfeuern ausstrahlenden Lichts, dort, wo der Regen einen silbrigen Farbton annahm und so laut auf die Zelthäute prasselte, dass Vindex sein eigenes Lied nicht mehr verstehen konnte, von dort aus rief der Standartenträger nach seinem Waffenmeister und erhielt kurz darauf die Antwort. Der Strom seines über die Felsen plätschernden Urins bildete einen guten Gegensatz zum Regen. Es lag eine Art kalter Befriedigung darin, hier an den Fuß des Berges zu pinkeln; denn so lange dieses Geräusch anhielt, so lange fühlte Vindex sich geborgen in seinem scheinbaren Sieg über das Wetter, über den zähen Matsch, über den Mangel an jagdbarem Wild und an Getreide sowie, vor allem, geborgen in seinem Sieg über die Krieger der Eingeborenen, die einfach der Nacht zu entwachsen schienen, um jene, die unvorsichtig genug waren, tot in der Dunkelheit zurückzulassen, so dass man sie meist erst bei Tageslicht wiederfand. Vindex rief eine Bemerkung dieser Art zu seinem Waffenmeister hinüber und lallte dabei nur ganz leicht.
Kaum war das letzte Wort über die Feuer hinweggeschallt, als plötzlich eine Hand sein Kinn packte und seinen Kopf nach hinten riss. Vindex spürte nicht, wie das Messer seine Kehle aufschlitzte, die Klinge war zu scharf, um Schmerzen zu verursachen, dafür aber schnitt sie sich bis zu den Knochen seiner Wirbelsäule vor, durchtrennte rasch und mühelos das weiche Gewebe seines Halses.
Der Standartenträger starb mit einem Gefühl der Überraschung, und sein Geist begriff nicht, dass er nicht mehr lebte, sondern merkte nur, dass die Nacht urplötzlich hell wurde, so als ob der Morgen hereinbräche. Und dass dort, wo eben noch die vom Feuerschein verzerrten Schatten getanzt hatten, neben dem zu Boden gesunkenen Körper eines Mannes einer der Krieger der Eingeborenen kniete und dem Toten das Zeichen des Fluches in die Stirn ritzte.
Doch Vindex hatte zu viele Schlachten überlebt, um nun seine Zeit damit zu vergeuden, das Unmögliche zu hinterfragen, und sein Schwert hatte bereits nach dem Hals des Feindes gestoßen, ehe er sich zu wundern begann, wer eigentlich dieser Tote war, der dort so dicht zu seinen Füßen lag. Während er also die ganze Masse seines Körpers in die Wucht seines Schwerthiebs hineinlegte, holte er zugleich mit aller Kraft Luft, um einen Schrei auszustoßen, der das gesamte Lager aufwecken würde.
Sein Schwert, sein Arm und sein schwereloser Körper glitten mit Schwung durch den auf dem Boden kauernden Krieger hindurch. Sein Schrei, der gewöhnlich ein ganzes Schlachtfeld zu übertönen vermochte, ließ keine bewaffneten Männer aufspringen und ihm zu Hilfe eilen. Nur ein Dekurio der Kavallerie, der beim Feuer saß und Wein trank, schlang seinen Umhang auf einmal ein wenig fester um sich und begann, mit den Füßen zu stampfen, während er die plötzlich aufziehende Kälte verfluchte.
Vindex öffnete den Mund, um noch einmal zu brüllen, hielt dann aber inne, als jener Teil von ihm, der noch rational dachte, erkannte, dass selbst die Männer auf den Wachtposten ihn nicht wahrgenommen hatten.
Sie können dich nicht hören. Deine Leute haben beschlossen, die Schreie der zu Boden Gemetzelten nicht hören zu wollen. Das ist eure Stärke und zugleich eure größte Schwäche. Ihr werdet nie in Sicherheit leben, ehe ihr nicht lernt, auf die Stimmen eurer Vorfahren zu hören und auf die eurer jüngst Verstorbenen.
Die Stimme, die Vindex’ Kopf ausfüllte, war von einer anderen Art als die Stimmen jener Männer, die er beim Feuer zurückgelassen hatte; diese Stimme sprach zu seiner Seele. Der feindliche Krieger war jetzt mit dem Einritzen seines Fluchzeichens fertig und erhob sich, wobei er sich halb umwandte.
In diesem Augenblick, in der dunkelsten Stunde der Nacht, ohne Sonnenlicht und unter dem von Wolken verhangenen Mond, sah der Standartenträger der Zwanzigsten Legion zum ersten Mal das Gesicht seines Feindes. Er sah das regennasse Haar von der Farbe des Fuchses im Winter mit den zum Zeichen der Trauer lose herabfallenden Kriegerzöpfen. Er sah die einzelne, vollkommen schwarz gefärbte Schwungfeder der Krähe, die in den linken der beiden Zöpfe eingeflochten worden war und das Kennzeichen eines Kriegers war, der alle Verbindungen zu Familie und Stamm abgebrochen hatte, um allein zu jagen - und möglicherweise auch allein zu sterben. Er sah das mit feuchtem Blut beschmierte Messer, das gerade eben noch benutzt worden war, sah die Schlinge, die neben dem Säckchen mit den Flusskieseln vom Gürtel herabhing. Und plötzlich wusste Vindex mit einer aus seinem tiefsten Inneren aufsteigenden Gewissheit, dass jedes der Steinchen schwarz angemalt war, damit es diejenigen, gegen die es losgeschleudert wurde, mit noch größerer Sicherheit tötete. Er sah das Zeichen des Schlangenspeers, das der Leiche - seiner Leiche - über der Braue eingeritzt worden war. Und damit wusste er - denn er hatte dasselbe Zeichen in den vergangenen drei Tagen nun schon ganze acht Mal auf den Stirnen anderer getöteter Legionssoldaten gesehen -, dass dieses Zeichen und seine Bedeutung nun über seinem gesamten Leben prangten.
Endlich, und erst als all diese Eindrücke zusammenkamen, erkannte Marcus Publius Vindex, Sohn des Gaius Publius Vindex, wer diese Frau war, die ihn getötet hatte, und nun verstand er auch, dass er tot war.
Er fühlte sich wie ein Narr und ließ sein Schwert wieder sinken. Vom Feuer her brüllte der Waffenmeister erneut eine Frage zu ihm hinüber, und in seiner Stimme schwang nun unverkennbar ein Unterton der Besorgnis mit. Die Stille, die der Standartenträger - wäre er noch am Leben - hätte ausfüllen müssen, dehnte sich zu lange aus.
Langsam erhob sich die Bodicea und steckte ihr Gürtelmesser zurück in dessen Scheide. Wem dienst du?, fragte sie. Ihre Lippen bewegten sich nicht, doch ihre Worte wurden zu einem Teil der Nacht.
Auf die gleiche Art antwortete Vindex ihr. Ich diene Jupiter, dem Gott der Legionen, und Mars Ultor, für den Sieg. Dann fügte er hinzu: Du solltest schleunigst von hier verschwinden. Bald werden sie kommen, um nach mir zu suchen. Einen Kampf gegen so viele kannst du nicht überleben. Das Gefühl seiner eigenen Besorgnis überraschte ihn. Als Toter, so entdeckte er jetzt auf einmal, hegte er weder den Hass, noch spürte er die panische Angst, die er als Lebender gefühlt hatte.
Danke. Aber ich gehe dann, wenn ich es für richtig halte. Deine Männer haben ja noch nicht einmal eine Fackel entzündet, und ich habe noch nie einen Römer gekannt, der im Regen vernünftig sehen konnte.
Sie grinste, und Vindex sah keinerlei Angst in ihren Augen, nur die Erregung und den Rausch des Kampfes, die nun langsam wieder zu schwinden begannen. Einst hatte auch er dieses Gefühl gekannt sowie den grenzenlosen Frieden, der darauf folgte, und nun begriff Vindex, dass es in erster Linie diese Empfindungen gewesen waren, weshalb er gekämpft hatte, und nicht etwa das Silber, das man ihm anschließend für seinen Einsatz gezahlt hatte. Und er erkannte auch, dass er damit nicht allein war.
Bewegt von seinen neuen Empfindungen, sagte er: So wirst du nie siegen, wenn du als Einzelne gegen eine Überzahl kämpfst.
Amüsiert zog die Bodicea eine Braue hoch. Das habe ich schon öfter gehört. Nicht jeder, der so sprach, war ein Römer, aber zumindest die meisten, und sie alle waren gerade gestorben.
Dann solltest du vielleicht einmal auf uns hören. Wir Toten wollen dir nichts Böses, aber manche Dinge sehen wir einfach ein wenig klarer. Und es stimmte; die Sorgen, die er zu Lebzeiten gehegt hatte, schmolzen dahin, und hinter ihnen trat eine Klarheit zutage, die Vindex sein ganzes Leben über gesucht und doch nie gefunden hatte. Ich biete dir dies als ein Geschenk an, ein Geschenk aus dem Land der Toten an die Lebenden: Wenn es dir nicht gelingt, auch den östlichen Teil der Provinz wachzurütteln und zum Kampf zu bewegen, dann werden die Legionen siegen, und Rom wird dein Volk ausbluten.
Die Bodicea hatte sich die blutbeschmierten Hände am Gras abgewischt, nun war sie fertig. Sie nickte gedankenverloren. Danke. Morgen früh werde ich einmal über dein Geschenk nachdenken, wenn ich dann noch leben sollte. Jetzt lächelte sie nicht mehr, doch sie hasste ihn auch nicht. Du solltest nach Hause gehen, sagte sie. In Rom erkennen dich deine Götter. Hier aber können sie nicht zu dir sprechen.
Der Waffenmeister brüllte ein zweites Mal, und wieder erhielt er keine Antwort. Aus der Sicherheit der Zeltreihen heraus tauchte ein Legionssoldat auf, und seine Panik beim Anblick der Leiche war weitaus größer, als Vindex’ gewesen war. Sein Schrei rief nun auch den Waffenschmied herbei, und der verlangte endlich lautstark nach Fackeln. Männer kamen herbeigerannt, so wie man es ihnen eingedrillt hatte, und auch wenn das Licht hinter den Zelten für sie keinen so hellen Schein bot wie das Mittagslicht, so reichte es doch aus, um die Kriegerin mit dem Haar von der Farbe des Fuchses erkennen zu können.
Nun rannte sie davon, geschmeidig und ohne allzu große Eile, wie ein Reh, das noch nicht die Hunde hört. Der Waffenmeister der zweiten Zenturie war ein vernünftiger Mann, der überhaupt keinen Wein trank. Auch war er, drei ganze Jahre lang, der beste Speerwerfer seiner Kohorte gewesen, ausgezeichnet für die Schnelligkeit und Treffsicherheit seiner Würfe. Wieder brüllte er einen Befehl, und fünf Männer kamen angerannt, um ihm die verlangten Speere zu bringen und ihm jedes Mal, wenn der zuvor geschleuderte Speer gerade die Luft durchschnitt, sogleich einen neuen in die Hand zu drücken. Er warf zehn Speere, verteilt über eine Breite von etwa zwölf Schritten. Der vorderste der Fackelträger beobachtete, wie der achte Speer traf. Er schrie zu dem Waffenschmied hinüber, rief Mars Ultor an und verkündete einen tödlichen Treffer. Vindex, der die Dinge nun mit anderen Augen sah, wusste, dass die Bodicea verwundet worden war, sich aber noch nicht zu ihm ins Reich der Toten gesellt hatte.
Von jenseits der Grenzen des Lagers her füllte ihre Stimme seinen Kopf. Sie klang atemlos und abgehackt, doch er konnte nicht beurteilen, ob es Schmerz war, der sie peinigte, oder ein überwältigendes Bedürfnis, in lautes Gelächter ausbrechen zu dürfen.
Geh nach Hause, drängte sie ihn erneut. Im Tode ist die Reise zurück nach Rom viel schneller, ich verspreche es dir, und das Land ist wärmer. Warum willst du hier im Regen bleiben, wo du nicht willkommen bist? Nun, wo du tot bist, hat die Legion doch keinerlei Rechte mehr an dir. Du kannst gehen, wohin du willst.
Ein Gedanke, der Vindex auch im Leben schon mehr als einmal gekommen war. Im Tode aber, so erkannte er nun voller Freude, war er endlich wirklich frei. Er glitt durch die Wände des Offizierszeltes und durch die unbedeutende Masse seiner Zenturie hindurch und trat die tatsächlich nicht allzu lange Reise zurück nach Rom an.
An der Stelle, wo er gestanden hatte, starben noch drei weitere Männer in einem Hagel von schwarz angemalten Flusskieseln. Der Waffenmeister war der letzte von ihnen.
Die Seherin der Kelten
cover.xhtml
scot_9783641010928_oeb_cover_r1.html
scot_9783641010928_oeb_toc_r1.html
scot_9783641010928_oeb_fm1_r1.html
scot_9783641010928_oeb_ata_r1.html
scot_9783641010928_oeb_fm2_r1.html
scot_9783641010928_oeb_ded_r1.html
scot_9783641010928_oeb_fm3_r1.html
scot_9783641010928_oeb_fm4_r1.html
scot_9783641010928_oeb_p01_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c01_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c02_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c03_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c04_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c05_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c06_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c07_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c08_r1.html
scot_9783641010928_oeb_p02_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c09_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c10_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c11_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c12_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c13_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c14_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c15_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c16_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c17_r1.html
scot_9783641010928_oeb_p03_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c18_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c19_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c20_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c21_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c22_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c23_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c24_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c25_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c26_r1.html
scot_9783641010928_oeb_p04_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c27_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c28_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c29_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c30_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c31_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c32_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c33_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c34_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c35_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c36_r1.html
scot_9783641010928_oeb_c37_r1.html
scot_9783641010928_oeb_bm1_r1.html
scot_9783641010928_oeb_ack_r1.html
scot_9783641010928_oeb_bm2_r1.html
scot_9783641010928_oeb_bm3_r1.html
scot_9783641010928_oeb_cop_r1.html