XII

 
Raureif glitzerte auf den roten Dachziegeln und den mit Kalk gewischten Wänden der Krankenstation von Camulodunum. Es war fast das einzige Gebäude der Veteranenkolonie, das unverändert geblieben war. Theophilus von Athen, von Beruf Arzt und Seelenheiler, stand mit der Hand auf der Türklinke da und atmete die kalte Luft ein. Hier war der neue Tag noch vollkommen still; um seinen Kopf schwebten die Dampfwölkchen seines letzten Atemzuges. Anderenorts eilten Männer, Frauen und Kinder bereits geschäftig umher, so wie sie es in jeder Metropole, jeder Stadt und jedem Dorf des gesamten Kaiserreichs taten; es wurden Feuer geschürt, Eimer gefüllt, Hühner gefüttert und das Vieh auf neue Weidegründe getrieben.
Die Mauern, die einst die Festung umschlossen hatten, existierten schon seit einem ganzen Jahrzehnt nicht mehr. Ohne sie konnte Theophilus den gesamten Bogen des Horizonts überblicken sowie die dünnen, blauen Fahnen von aufsteigendem Rauch, die das Erwachen von tausenden von Haushalten verkündeten. Wie jeden Morgen sprach er ein Gebet an das weite, wesenlose Universum, dass der Tag ihm nicht zu viele seiner Mitbürger krank oder verletzt zuführen möge. Diese Bitte sprach er nicht um seinetwegen; die Medizin war sein Leben, und er genoss die Herausforderung, doch war er nie jemand gewesen, der den menschlichen Preis jener Umstände, die seinem Leben Sinn und Bedeutung verliehen, einfach ignorierte.
Die Luft war wie guter Wein, berauschend und erfrischend zugleich. Ein letztes Mal noch atmete er tief ein, dann öffnete er die Tür und trat in die wärmere, verbrauchte Luft der Krankenstation.
Jener Bereich, der den römischen Bürgern vorbehalten war, war größer als der für die Stämme und weniger überfüllt. Mittels seiner beiden Auszubildenden entließ Theophilus zunächst zwei Opfer einer Lebensmittelvergiftung, darunter ein Weinhändler, halb Parther, halb Gallier, mit einem handfesten Kater, der ausführlich und in einem schier endlosen Redeschwall erklärt hatte, sein Urgroßvater habe einst in der Kavallerie unter Tiberius im pannonischen Krieg gedient und wäre dafür mit dem Erbtitel des Staatsbürgers ausgezeichnet worden, so dass ihm, dem Weinhändler, nun ebenfalls der Zugang zu dem Staatsbürgerflügel der Krankenstation gestattet werden müsse. Der Mann log, gewann letztlich aber doch, weil dies der einfachste Weg war, ihn endlich zum Schweigen zu bringen. Schlecht gelaunt trollte er sich also wieder aus dem Behandlungszimmer und verfluchte dabei sämtliche Ärzte quer durch das Kaiserreich als einfältiges und gewissenloses Pack.
Schließlich entließen die Auszubildenden Publius Servillius, einen ehemaligen Legionär der Neunten Division, dem vor zwei Tagen von einem Bullen der Oberschenkel durchbohrt worden war. Zum Zeitpunkt der Verletzung hatte die Wunde stark geblutet, hatte sich dadurch aber wiederum auch selbst gereinigt und heilte nun gut und ohne unnötige Infektionen.
Theophilus gab Anweisungen zur weiteren Versorgung des Mannes und den Befehl, dass dieser täglich wiederkehren solle, damit seine Verbände gewechselt würden; und noch ehe sein Gehilfe die heiklen Verhandlungen bezüglich der Bezahlung von Servillius’ Behandlung beendet hatte, war Theophilus bereits wieder verschwunden. Die Kosten würden erheblich sein, sicherlich. Denn Theophilus’ rasches und effektives Abbinden der Wunde hatte dem Mann das Leben gerettet, und sie beide wussten das. Hinzu kam jedoch, dass Servillius diversen Mädchen aus den Eingeborenenstämmen ein Kind gemacht hatte, und diese Mädchen waren bislang nie in der Lage gewesen, für ihre Versorgung aufzukommen, wenn sie - zu dünn und zu jung - in das Hospital kamen, um dort ihre Kinder zu gebären.
Theophilus’ Gehilfe war ein junger Mann vom Stamme der Trinovanter, der ein Talent für Zahlen besaß, das den Arzt ebenso überraschte, wie es seine Stammesangehörigen in Erstaunen versetzte. Seine Gabe, zivilisiert mit jenen Männern umzugehen, die regelmäßig seine Mutter, Tanten und Schwestern vergewaltigten, war dagegen weniger ausgeprägt, doch er lernte allmählich, dass es andere und sicherere Vergeltungsmaßnahmen gab, als diesen Männern das Messer eines Essbestecks in die Eingeweide zu rammen, und dass er in Theophilus genau das richtige Vorbild gefunden hatte, weshalb sich dieses Lernziel zu erreichen lohnte.
Als der Arzt den Raum verließ, hörte er gerade noch, wie die Summe von eintausend Sesterzen genannt wurde, mehr als der Jahreslohn eines Legionärs. Und er hörte auch die Anfänge von Servillius’ Versuch, den Gehilfen dahingehend einzuschüchtern, dass dieser die Forderungen etwas reduzierte. Theophilus winkte demjenigen seiner beiden Auszubildenden, der näher bei ihm stand, einem rundlichen, rothaarigen Jugendlichen, der es perfekt verstand, eine Gänsefettsalbe glatt zu rühren, jedoch noch lernen musste, bei welchen Gelegenheiten man diese eigentlich verwendete.
»Erinnere Jung Gaius doch bitte mal daran, dass er möglicherweise vergessen hat, die Kosten für das Verbinden auf die Rechnung zu setzen, und vielleicht möchte er die Summe ja ohnehin noch einmal ganz neu berechnen. Ich denke doch, dreihundert zusätzliche Sesterzen wären da durchaus angemessen. Und sag ihm außerdem, dass er nicht vergessen soll, Veteran Servillius für den regelmäßigen Wechsel seiner Verbände einzuplanen, ansonsten könnte dessen Bein noch immer dem Wundbrand zum Opfer fallen, vielleicht verlöre er sogar sein Leben. Es wäre doch wirklich ein maßloses Unglück, wenn das dann auf den Schultern eines Gehilfen lasten würde.«
Theophilus schloss seine Anweisungen mit jenem kühlen, zurückhaltenden Lächeln, wie es sich für einen Gelehrten gebührte. Der korpulente Auszubildende, der in dieser Hinsicht weniger Beschränkungen unterlag, erlaubte sich ein rasches Grinsen der unverhohlenen Häme, allerdings nur für einen kurzen Augenblick, und marschierte dann mit lobenswert gleichmütiger Miene durch den Raum, um seine Nachricht zu überbringen. Einen Moment später hörte Theophilus jenen Mann, dessen Bein und Leben von dem fortwährenden Wohlwollen des Arztes abhingen, einem Zahlungsplan zustimmen, der nicht nur die Gesundheit und das Leben seiner diesjährigen Nachfahren und ihrer Mütter sichern würde, sondern auch noch für den Rest des Jahres die Kosten für die Unterkünfte Theophilus’ und seiner Mitarbeiter deckte. Das war ein besserer Start in den Morgen, als Theophilus es erwartet hätte.
Die Station für die Nicht-Staatsbürger war klein und fensterlos. Zwar war sie noch nicht allzu überfüllt, doch andererseits waren ja auch die Steinbrüche noch nicht eröffnet, die Bauarbeiten an dem Tempel, für die sie den Feuerstein und den Sand lieferten, hatten für heute noch nicht begonnen; und somit hatte der Strom der weniger dramatischen Hautabschürfungen und gebrochenen Finger, sowie der schwereren, lebensbedrohenden Unfälle noch nicht eingesetzt. Mit etwas Glück würden sie allerdings auch ganz ausbleiben. Seit dem Frühling, an dem die Arbeiten an dem Dach begonnen hatten, war die Zahl der Verletzten zurückgegangen, nachdem sie etwa in der Mitte des Winters ihren Höhepunkt erreicht hatte, als jener Dümmling von einem alexandrinischen Aufseher es für besonders einfallsreich gehalten hatte, Männer ohne jede Erfahrung in der Verarbeitung von Stein einzustellen und ihnen die Aufgabe zu übertragen, jene Säulen zu errichten, die später das Dach stützen sollten.
Die Verletzungen durch Stürze und Quetschungen dagegen - sowohl jene, die durch herabfallendes Mauerwerk entstanden, als auch die, bei denen die Männer auf Teile der Mauer aufschlugen - hatten eingesetzt, sobald die Säulen etwa ihre halbe Höhe erreicht hatten, und nahmen, je mehr sich diese ihrer Fertigstellung näherten, natürlich weiter zu. Als Theophilus diesbezüglich eine Beschwerde an den Gouverneur sandte, hatte man ihn daran erinnert, dass er sich im Frühling bereits darüber erregt habe, dass man die gesunden, wehrtauglichen Männer vom Aussäen abgezogen hatte, sowie im Herbst darüber, dass man sie von der Ernte fern hielte, und was er denn wohl glaube, wann der Tempel des Gottes Claudius endlich einmal errichtet werden solle, wenn Theophilus sich nun, im Winter, ebenfalls wieder beschweren wollte?
Drei Tage später, während des Abendessens in seiner Villa und unter etwas angenehmeren Umständen, informierte man Theophilus darüber, dass der Kaiser erwarte, den Tempel bis zum zwanzigsten Jahrestag der Invasion fertiggestellt zu sehen, und dass Theophilus mehr als willkommen sei für den Fall, dass er Nero einmal eine persönliche Darlegung davon geben wolle, warum es Wahnsinn sei, Gebäude aus Stein zu errichten an einem Ort, an dem Stein noch nie verwendet worden war; wo ausgebildete Arbeiter, die man extra vom Kontinent hier herübergebracht hatte, an Kälte und Krankheiten starben oder einfach das nächste Schiff wieder zurück nach Hause in die Wärme und zum Wein nahmen; wo man von Ureinwohnern, die keinerlei Geld besaßen, erwartete, dass sie für die Erbauung des Tempels zahlten, um gerade jenen Mann zu ehren, der sie einst besiegt hatte. Einzig, dass man Theophilus rate, vorher doch zuerst einmal sein Testament zu machen.
Theophilus, der seines Lebens noch nicht in auffälliger Weise überdrüssig geworden war, verzichtete also auf jegliche derartige Darlegung vor dem Kaiser. Stattdessen schickte er, als der Frühling die Schifffahrtswege wieder öffnete, nach Athen mit der Bitte um Schriften über das Bauhandwerk, die er nachts und während der wenigen freien Minuten des Tages durcharbeitete, um einige Vorschläge für die Sicherheit auf der Baustelle unterbreiten zu können. Das wurde von ihm als Arzt natürlich nicht erwartet, doch schon vor langer Zeit hatte man ihm beigebracht, dass eine verhütete Verletzung gleichbedeutend war mit einem geretteten Leben, und er betrachtete es als seine moralische Pflicht, für seine Patienten stets sein Bestes zu geben.
Nun, auf der kleineren, stärker belegten Station, fand er jedoch den Beweis dafür vor, dass er bei dreien dieser Patienten natürlich ebenfalls sein Bestes getan, aber dennoch versagt hatte. Zwei waren in der Nacht verstorben, und ein Kind von acht Jahren mit Keuchhusten würde bis zum Mittag ebenfalls tot sein. Zum Schutze der anderen wäre es gut gewesen, das Kind in einen gesonderten Raum zu verlegen, doch es stand keiner zur Verfügung. Theophilus ließ den Jungen also ans entgegengesetzte Ende des Saals schaffen, in das Bett einer der beiden Frauen, die vor ihm gestorben waren, und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder jener Kombination aus Verletzungen, Unterernährung und Krankheiten zu, die den Rest seiner Pflegebefohlenen befallen hatte.
Wie immer, so war auch in diesem Krankenhaus ein Bereich mit kleinen Privatzimmern, die allesamt auf den Atriumhof hinausgingen, den Offizieren und deren Familien vorbehalten. Nur wenige von ihnen mochten es, wenn man sie bereits früh am Morgen weckte, und so wurden diese Räume, von Notfällen einmal abgesehen, regelmäßig erst ganz zuletzt aufgesucht. Gewaschen und in eine neue, saubere Tunika gekleidet, ging der Arzt bei seiner Visite also in umgekehrter Reihenfolge vor, begann am südlichen Ende und arbeitete sich dann in nördlicher Richtung den Korridor hinauf, betreute die Hochrangigsten somit als Letzte.
Als Theophilus die Tür am Nordende des Korridors erreichte, war der Raureif draußen bereits geschmolzen; die Dachziegel glänzten unter einem langsam trocknenden Film von Feuchtigkeit. Seit den Tagen, als vier Legionen und ihre Hilfskavallerie diesen Ort zu ihrem Zuhause erkoren hatten, war die Tür zu jenem Raum bereits viele Male neu überstrichen worden; und jedes Mal, in einem Akt von für ihn ganz untypischem Aberglauben, hatte Theophilus darauf bestanden, dass auf die weiße Kalktünche auch stets wieder in blauer Farbe das Auge des Horus gemalt wurde. Für ihn war dies immer Corvus’ Zimmer gewesen, und das war bis heute so. Von all den Armeeoffizieren, die er kennen gelernt hatte - und einige von ihnen hatte er sogar gemocht -, war der dunkle, von Narben bedeckte Kavalleriepräfekt derjenige gewesen, der Theophilus am wenigsten römisch und am stärksten wie ein Grieche erschienen war; die größte Anerkennung, die der Arzt zu vergeben hatte. Die Tatsache, dass der Präfekt nun zurück in Camulodunum war, ließ die Tage ein bisschen heller erscheinen. Und dass Corvus verletzt war und sich als Patient hier befand, dämpfte die Freude lediglich ein wenig.
In dem Raum brannte ein Kohlenbecken, und irgendjemand hatte erst kürzlich kleine Zedernholzspalten darauf gelegt. Näherte man sich dem Zimmer, so erfrischte ihr Geruch sogar ein wenig die Luft im Korridor. Mit einem erneuten Anflug von Fröhlichkeit öffnete der Arzt die Tür.
»Guten Morgen.«
Jener Mann, der unter der strikten Anweisung zurückgelassen worden war, nicht das Bett zu verlassen, stand am Fenster und schaute in den Innenhof hinaus. Doch er stützte das Gewicht, das sonst auf seinem linken Bein gelastet hätte, vorsichtig auf einen Stock. Der Leinenverband, der um die linke Hälfte seines Schädels gewickelt war, wirkte unnatürlich hell vor dem schwarzen Haar und der olivenfarbenen Haut. In seinem Lächeln blitzten wie immer Intelligenz und ein trockener Humor auf. Als die Tür sich schloss, wandte Corvus sich halb vom Fenster ab.
»Was machen Eure Kopfschmerzen?«, fragte Theophilus.
»Besser als vorher.«
»Das habt Ihr gestern auch gesagt.« Der Arzt betastete mit seinen langen Fingern behutsam den Schädel des Patienten. »Aber noch nicht ganz verschwunden?«
»Nicht ganz. Und, ehe Ihr fragt, mein Bein heilt gut. Ich habe heute Morgen einmal unter den Verband geschaut. Euer Rosenwasser und der Honig leisten gute Arbeit. Die Wunde ist schon seit drei Tagen frei von Wundbrand und selbst nachts pocht sie fast gar nicht mehr. Ich denke, es ist an der Zeit, das Opium abzusetzen.«
»Ihr meint, Ihr habt bereits damit aufgehört, es einzunehmen?«
Corvus, Präfekt des Kavallerieflügels, der Ala Quinta Gallorum, und erst kürzlich in den Dienst der im Westen stationierten Zwanzigsten Legion eingetreten, besaß immerhin den Anstand, ein wenig schuldbewusst dreinzublicken. »Die Dosis für die letzte Nacht habe ich schon nicht mehr genommen.«
Theophilus seufzte theatralisch auf. »Erinnert mich daran, Nerus auspeitschen zu lassen, weil er es versäumt hat, dafür zu sorgen, dass ein Patient wie vorgeschrieben behandelt wurde. Ihr solltet es mir sagen, wenn Ihr auch Arzt werden möchtet. Ihr könnt gerne meine Arbeit übernehmen. Ich kehre dann zurück nach Hause, nach Athen.« Der Verband wurde abgenommen, und die Kopfwunde war in der Tat sauber und bereits im Abheilen begriffen. Theophilus besah sich den Verband und beschloss, ihn durch einen aus etwas leichterem Leinengewebe zu ersetzen. Er wandte sich der Beinbandage zu und fragte: »Und wie geht es mit Eurem anderen Vorhaben voran?«
Seit über einem Jahr hatten sie sich darüber nicht mehr unterhalten. Es war ein Zeichen ihres gegenseitigen Respekts, dass Corvus nach einer Weile antwortete: »Valerius? Ich weiß es nicht. Nachdem die anderen nach Mona zurückgekehrt sind, wurde er nach Hibernia gebracht, aber ich habe keine Ahnung, was dann mit ihm passiert ist. Segoventos weigert sich, mit mir darüber zu sprechen, und von denen, die ich ausgesandt habe, war keiner in der Lage, ihn zu finden.«
»Irland ist ja auch keine kleine Insel.«
»Sie ist sogar groß genug, dass ein Mann, der gerne sterben will, dies auch schafft, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommt.«
»Meint Ihr wirklich, er lebt nicht mehr?«
»Nein. Aber ich glaube, er lebt, als ob er tot wäre. Können wir nicht über etwas anderes sprechen?«
»Wenn Ihr möchtet. Oder könntet Ihr Euch vielleicht sogar setzen und Eure legendäre Unerschütterlichkeit zur Schau stellen, während ich die Wunde an Eurem Fußgelenk reinige?«
Corvus setzte sich auf das Bett. Vorsichtig untersuchte Theophilus die bereits heilende Speerwunde an der Wade des Mannes. Die Klinge war kurz über dem Fußgelenk eingedrungen und genau zwischen der Sehne und dem Knochen hindurchgeglitten. Nur einen Finger breit nach links oder nach rechts, und der Präfekt hätte seinen Fuß nicht mehr gebrauchen können. So, wie die Dinge nun aber lagen, würde er wieder genauso geschickt reiten können wie eh und je, wenn er auch niemals wieder so gut wie früher würde gehen können.
Die Wunde war einen Monat alt und schon fast verheilt. Theophilus legte einen neuen, schmäleren Verband an und lauschte in den Atemzügen des anderen nach Lauten des Schmerzes. Als es schien, dass der Schmerz, den sein Eingriff bereitete, wieder nachließ, sagte er: »Wie ich gehört habe, soll morgen nach den Zeremonien im Theater eine Demonstration von Caesars Gerechtigkeit stattfinden?«
»Das habe ich auch gehört. Der Gouverneur möchte seinen bevorzugten Vasallenkönigen gerne beweisen, dass das Gesetz diejenigen, die die römischen Bürgerrechte erlangt haben, ebenso hart bestraft wie jene, die sie nicht besitzen.«
»Also wird ein Mann sterben müssen, um einer Gruppe von hochwohlgeborenen Verrätern zu zeigen, dass sie die richtige Wahl getroffen haben.«
»Um die Könige geht es hierbei nicht - die wissen genau, wen sie brauchen und wer sie braucht. Die Menschen, die es jetzt noch zu überzeugen gilt, sind jene, die in ihren Wäldchen den Aufstand planen und meinen, wir wüssten von nichts. Also werden zwei Männer sterben; einer von den unseren und einer von den ihren, um es gerecht verlaufen zu lassen. Marcellus, der bei der Invasion die zweite Kohorte der Neunten Division angeführt hatte, wird gehängt werden für den Mord an seinem Lagerverwalter, wenngleich Marcellus behauptet, der Mann habe versucht, ihn umzubringen, und er hätte lediglich aus Notwehr gehandelt...«
»Das könnte doch durchaus der Fall gewesen sein.«
»Wahrscheinlich schon. Er hatte nämlich befohlen, einen Landstrich zu pflügen, der, so lange die Trinovanter sich zurückerinnern können, schon immer heilig gewesen war. Ich an ihrer Stelle hätte also wohl ebenfalls versucht, Marcellus umzubringen. Der wiederum hätte seinen Gegner nicht bei helllichtem Tage vor drei Mitgliedern aus dem Haushalt des Gouverneurs und zahllosen Stammeskameraden als Zeugen niederschlagen sollen.«
»Und wer wird morgen das andere Opfer? Vielleicht der Bruder des Mannes, der Marcellus töten wollte?«
»Nein, der ist schon tot; Longinus Sdapeze musste ihn töten, um ihn daran zu hindern, in der noch dort verbliebenen Garnison Amok zu laufen - einen Aufstand können wir uns jetzt nicht leisten. Ich weiß also nicht, wer der zweite Mann sein wird. Ich vermute mal, der Gouverneur weiß es selbst noch nicht. Sie werden per Zufallsprinzip irgendeinen armen Schweinehund herauspicken und dann einen Prozess konstruieren. Wenn beispielsweise einer der Vasallenkönige ein Messer bei sich trägt, das auch nur eine halbe Daumenlänge zu lang ist, wird er gerade noch so lange leben, wie er braucht, um das zu bedauern.«
Theophilus war mit dem Anlegen des Verbandes fertig und trat einen Schritt zurück, um seinen Patienten zu begutachten. »Oder sie könnten auch Euch auswählen, einfach, weil Ihr gerade ein wenig anrüchig ausseht. Als Euer Arzt würde ich Euch also raten, dass Ihr, wenn Ihr tatsächlich vorhaben solltet, kleinen Männern dabei zuzuhören, wie sie nichtssagende Reden schwingen, besser etwas Warmes anziehen solltet, das außerdem nicht so aussieht, als hättet Ihr gerade eine Schlacht darin durchfochten. Wir sollen schließlich eine Provinz in Friedenszeiten darstellen.«
»Danke. Und wenn das dann eines schönen Tages auch mal jemand den Kriegern im Westen sagt, können wir endlich alle wieder nach Hause gehen.« Corvus erhob sich mit einem etwas säuerlichen Lächeln und bewegte versuchsweise sein Fußgelenk ein wenig hin und her. Sein Gesicht zeigte keine offensichtlichen Zeichen des Schmerzes. Demonstrativ auf seinen Stock gestützt fuhr er fort: »Und in Anbetracht dessen sollte ich wohl einfach das Beste aus meiner Zeit machen, ehe ich wieder in den Westen zurückkehre. Mit Eurer Erlaubnis würde ich also gerne in ein Badehaus gehen und mir anschließend einen Schneider suchen, der mir einen Satz Gewänder anfertigt, die gut genug sind, um darin in Vertretung meines Legaten und meiner Männer eine Delegation von Königen empfangen zu können. Gehe ich recht in der Annahme, dass ich raus darf?«
»Natürlich. Ich hatte Euch doch bloß hier behalten, weil ich noch einmal mit Euch sprechen wollte. Und wenn Ihr den Stock nicht braucht, werft ihn einfach weg. Ich hasse es, mit ansehen zu müssen, wenn ein Mann vor seinem Arzt den Leidenden spielt, obwohl das eigentlich gar nicht der Fall ist.«
Sie verbargen nur sehr wenig voreinander, und vieles brauchte auch gar nicht mehr ausgesprochen zu werden. Manche Dinge jedoch sollten zweifelsfrei klar sein. Bereits im Gehen begriffen, wandte Theophilus sich noch einmal um: »Ihr wisst, dass die Eceni kommen?«
»Natürlich. Prasutagos ist das Musterbild eines jeden Vasallen, dem alle anderen Könige nacheifern; Freund zweier Kaiser und jedes Gouverneurs seit Plautius. Valerius wird jedoch nicht bei ihm sein. Wo auch immer sich dieser Mann in der Welt aufhalten mag, in der Obhut seiner Leute lebt er jedenfalls nicht. Und es macht auch nichts, wenn die anderen mich erkennen; wir sind ja nun Verbündete. Wir können es uns jetzt leisten, die Kurzweil eines Prozesses und seines Richterspruchs zu genießen und anschließend sogar gemeinsam zu Abend zu essen. Und dabei lassen wir dann in aller Freundschaft die alten Zeiten wieder aufleben.«
Die Seherin der Kelten
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