XII
Raureif glitzerte auf den roten Dachziegeln und
den mit Kalk gewischten Wänden der Krankenstation von Camulodunum.
Es war fast das einzige Gebäude der Veteranenkolonie, das
unverändert geblieben war. Theophilus von Athen, von Beruf Arzt und
Seelenheiler, stand mit der Hand auf der Türklinke da und atmete
die kalte Luft ein. Hier war der neue Tag noch vollkommen still; um
seinen Kopf schwebten die Dampfwölkchen seines letzten Atemzuges.
Anderenorts eilten Männer, Frauen und Kinder bereits geschäftig
umher, so wie sie es in jeder Metropole, jeder Stadt und jedem Dorf
des gesamten Kaiserreichs taten; es wurden Feuer geschürt, Eimer
gefüllt, Hühner gefüttert und das Vieh auf neue Weidegründe
getrieben.
Die Mauern, die einst die Festung umschlossen
hatten, existierten schon seit einem ganzen Jahrzehnt nicht mehr.
Ohne sie konnte Theophilus den gesamten Bogen des Horizonts
überblicken sowie die dünnen, blauen Fahnen von aufsteigendem
Rauch, die das Erwachen von tausenden von Haushalten verkündeten.
Wie jeden Morgen sprach er ein Gebet an das weite, wesenlose
Universum, dass der Tag ihm nicht zu viele seiner Mitbürger krank
oder verletzt zuführen möge. Diese Bitte sprach er nicht um
seinetwegen; die Medizin war sein Leben, und er genoss die
Herausforderung, doch war er nie jemand gewesen, der den
menschlichen Preis jener Umstände, die seinem Leben Sinn und
Bedeutung verliehen, einfach ignorierte.
Die Luft war wie guter Wein, berauschend und
erfrischend zugleich. Ein letztes Mal noch atmete er tief ein, dann
öffnete er die Tür und trat in die wärmere, verbrauchte Luft der
Krankenstation.
Jener Bereich, der den römischen Bürgern
vorbehalten war, war größer als der für die Stämme und weniger
überfüllt. Mittels seiner beiden Auszubildenden entließ Theophilus
zunächst zwei Opfer einer Lebensmittelvergiftung, darunter ein
Weinhändler, halb Parther, halb Gallier, mit einem handfesten
Kater, der ausführlich und in einem schier endlosen Redeschwall
erklärt hatte, sein Urgroßvater habe einst in der Kavallerie unter
Tiberius im pannonischen Krieg gedient und wäre dafür mit dem
Erbtitel des Staatsbürgers ausgezeichnet worden, so dass ihm, dem
Weinhändler, nun ebenfalls der Zugang zu dem Staatsbürgerflügel der
Krankenstation gestattet werden müsse. Der Mann log, gewann
letztlich aber doch, weil dies der einfachste Weg war, ihn endlich
zum Schweigen zu bringen. Schlecht gelaunt trollte er sich also
wieder aus dem Behandlungszimmer und verfluchte dabei sämtliche
Ärzte quer durch das Kaiserreich als einfältiges und gewissenloses
Pack.
Schließlich entließen die Auszubildenden Publius
Servillius, einen ehemaligen Legionär der Neunten Division, dem vor
zwei Tagen von einem Bullen der Oberschenkel durchbohrt worden war.
Zum Zeitpunkt der Verletzung hatte die Wunde stark geblutet, hatte
sich dadurch aber wiederum auch selbst gereinigt und heilte nun gut
und ohne unnötige Infektionen.
Theophilus gab Anweisungen zur weiteren Versorgung
des Mannes und den Befehl, dass dieser täglich wiederkehren solle,
damit seine Verbände gewechselt würden; und noch ehe sein Gehilfe
die heiklen Verhandlungen bezüglich der Bezahlung von Servillius’
Behandlung beendet hatte, war Theophilus bereits wieder
verschwunden. Die Kosten würden erheblich sein, sicherlich. Denn
Theophilus’ rasches und effektives Abbinden der Wunde hatte dem
Mann das Leben gerettet, und sie beide wussten das. Hinzu kam
jedoch, dass Servillius diversen Mädchen aus den
Eingeborenenstämmen ein Kind gemacht hatte, und diese Mädchen waren
bislang nie in der Lage gewesen, für ihre Versorgung aufzukommen,
wenn sie - zu dünn und zu jung - in das Hospital kamen, um dort
ihre Kinder zu gebären.
Theophilus’ Gehilfe war ein junger Mann vom Stamme
der Trinovanter, der ein Talent für Zahlen besaß, das den Arzt
ebenso überraschte, wie es seine Stammesangehörigen in Erstaunen
versetzte. Seine Gabe, zivilisiert mit jenen Männern umzugehen, die
regelmäßig seine Mutter, Tanten und Schwestern vergewaltigten, war
dagegen weniger ausgeprägt, doch er lernte allmählich, dass es
andere und sicherere Vergeltungsmaßnahmen gab, als diesen Männern
das Messer eines Essbestecks in die Eingeweide zu rammen, und dass
er in Theophilus genau das richtige Vorbild gefunden hatte, weshalb
sich dieses Lernziel zu erreichen lohnte.
Als der Arzt den Raum verließ, hörte er gerade
noch, wie die Summe von eintausend Sesterzen genannt wurde, mehr
als der Jahreslohn eines Legionärs. Und er hörte auch die Anfänge
von Servillius’ Versuch, den Gehilfen dahingehend einzuschüchtern,
dass dieser die Forderungen etwas reduzierte. Theophilus winkte
demjenigen seiner beiden Auszubildenden, der näher bei ihm stand,
einem rundlichen, rothaarigen Jugendlichen, der es perfekt
verstand, eine Gänsefettsalbe glatt zu rühren, jedoch noch lernen
musste, bei welchen Gelegenheiten man diese eigentlich
verwendete.
»Erinnere Jung Gaius doch bitte mal daran, dass er
möglicherweise vergessen hat, die Kosten für das Verbinden auf die
Rechnung zu setzen, und vielleicht möchte er die Summe ja ohnehin
noch einmal ganz neu berechnen. Ich denke doch, dreihundert
zusätzliche Sesterzen wären da durchaus angemessen. Und sag ihm
außerdem, dass er nicht vergessen soll, Veteran Servillius für den
regelmäßigen Wechsel seiner Verbände einzuplanen, ansonsten könnte
dessen Bein noch immer dem Wundbrand zum Opfer fallen, vielleicht
verlöre er sogar sein Leben. Es wäre doch wirklich ein maßloses
Unglück, wenn das dann auf den Schultern eines Gehilfen lasten
würde.«
Theophilus schloss seine Anweisungen mit jenem
kühlen, zurückhaltenden Lächeln, wie es sich für einen Gelehrten
gebührte. Der korpulente Auszubildende, der in dieser Hinsicht
weniger Beschränkungen unterlag, erlaubte sich ein rasches Grinsen
der unverhohlenen Häme, allerdings nur für einen kurzen Augenblick,
und marschierte dann mit lobenswert gleichmütiger Miene durch den
Raum, um seine Nachricht zu überbringen. Einen Moment später hörte
Theophilus jenen Mann, dessen Bein und Leben von dem fortwährenden
Wohlwollen des Arztes abhingen, einem Zahlungsplan zustimmen, der
nicht nur die Gesundheit und das Leben seiner diesjährigen
Nachfahren und ihrer Mütter sichern würde, sondern auch noch für
den Rest des Jahres die Kosten für die Unterkünfte Theophilus’ und
seiner Mitarbeiter deckte. Das war ein besserer Start in den
Morgen, als Theophilus es erwartet hätte.
Die Station für die Nicht-Staatsbürger war klein
und fensterlos. Zwar war sie noch nicht allzu überfüllt, doch
andererseits waren ja auch die Steinbrüche noch nicht eröffnet, die
Bauarbeiten an dem Tempel, für die sie den Feuerstein und den Sand
lieferten, hatten für heute noch nicht begonnen; und somit hatte
der Strom der weniger dramatischen Hautabschürfungen und
gebrochenen Finger, sowie der schwereren, lebensbedrohenden Unfälle
noch nicht eingesetzt. Mit etwas Glück würden sie allerdings auch
ganz ausbleiben. Seit dem Frühling, an dem die Arbeiten an dem Dach
begonnen hatten, war die Zahl der Verletzten zurückgegangen,
nachdem sie etwa in der Mitte des Winters ihren Höhepunkt erreicht
hatte, als jener Dümmling von einem alexandrinischen Aufseher es
für besonders einfallsreich gehalten hatte, Männer ohne jede
Erfahrung in der Verarbeitung von Stein einzustellen und ihnen die
Aufgabe zu übertragen, jene Säulen zu errichten, die später das
Dach stützen sollten.
Die Verletzungen durch Stürze und Quetschungen
dagegen - sowohl jene, die durch herabfallendes Mauerwerk
entstanden, als auch die, bei denen die Männer auf Teile der Mauer
aufschlugen - hatten eingesetzt, sobald die Säulen etwa ihre halbe
Höhe erreicht hatten, und nahmen, je mehr sich diese ihrer
Fertigstellung näherten, natürlich weiter zu. Als Theophilus
diesbezüglich eine Beschwerde an den Gouverneur sandte, hatte man
ihn daran erinnert, dass er sich im Frühling bereits darüber erregt
habe, dass man die gesunden, wehrtauglichen Männer vom Aussäen
abgezogen hatte, sowie im Herbst darüber, dass man sie von der
Ernte fern hielte, und was er denn wohl glaube, wann der Tempel des
Gottes Claudius endlich einmal errichtet werden solle, wenn
Theophilus sich nun, im Winter, ebenfalls wieder beschweren
wollte?
Drei Tage später, während des Abendessens in seiner
Villa und unter etwas angenehmeren Umständen, informierte man
Theophilus darüber, dass der Kaiser erwarte, den Tempel bis zum
zwanzigsten Jahrestag der Invasion fertiggestellt zu sehen, und
dass Theophilus mehr als willkommen sei für den Fall, dass er Nero
einmal eine persönliche Darlegung davon geben wolle, warum es
Wahnsinn sei, Gebäude aus Stein zu errichten an einem Ort, an dem
Stein noch nie verwendet worden war; wo ausgebildete Arbeiter, die
man extra vom Kontinent hier herübergebracht hatte, an Kälte und
Krankheiten starben oder einfach das nächste Schiff wieder zurück
nach Hause in die Wärme und zum Wein nahmen; wo man von
Ureinwohnern, die keinerlei Geld besaßen, erwartete, dass sie für
die Erbauung des Tempels zahlten, um gerade jenen Mann zu ehren,
der sie einst besiegt hatte. Einzig, dass man Theophilus rate,
vorher doch zuerst einmal sein Testament zu machen.
Theophilus, der seines Lebens noch nicht in
auffälliger Weise überdrüssig geworden war, verzichtete also auf
jegliche derartige Darlegung vor dem Kaiser. Stattdessen schickte
er, als der Frühling die Schifffahrtswege wieder öffnete, nach
Athen mit der Bitte um Schriften über das Bauhandwerk, die er
nachts und während der wenigen freien Minuten des Tages
durcharbeitete, um einige Vorschläge für die Sicherheit auf der
Baustelle unterbreiten zu können. Das wurde von ihm als Arzt
natürlich nicht erwartet, doch schon vor langer Zeit hatte man ihm
beigebracht, dass eine verhütete Verletzung gleichbedeutend war mit
einem geretteten Leben, und er betrachtete es als seine moralische
Pflicht, für seine Patienten stets sein Bestes zu geben.
Nun, auf der kleineren, stärker belegten Station,
fand er jedoch den Beweis dafür vor, dass er bei dreien dieser
Patienten natürlich ebenfalls sein Bestes getan, aber dennoch
versagt hatte. Zwei waren in der Nacht verstorben, und ein Kind von
acht Jahren mit Keuchhusten würde bis zum Mittag ebenfalls tot
sein. Zum Schutze der anderen wäre es gut gewesen, das Kind in
einen gesonderten Raum zu verlegen, doch es stand keiner zur
Verfügung. Theophilus ließ den Jungen also ans entgegengesetzte
Ende des Saals schaffen, in das Bett einer der beiden Frauen, die
vor ihm gestorben waren, und wandte seine Aufmerksamkeit dann
wieder jener Kombination aus Verletzungen, Unterernährung und
Krankheiten zu, die den Rest seiner Pflegebefohlenen befallen
hatte.
Wie immer, so war auch in diesem Krankenhaus ein
Bereich mit kleinen Privatzimmern, die allesamt auf den Atriumhof
hinausgingen, den Offizieren und deren Familien vorbehalten. Nur
wenige von ihnen mochten es, wenn man sie bereits früh am Morgen
weckte, und so wurden diese Räume, von Notfällen einmal abgesehen,
regelmäßig erst ganz zuletzt aufgesucht. Gewaschen und in eine
neue, saubere Tunika gekleidet, ging der Arzt bei seiner Visite
also in umgekehrter Reihenfolge vor, begann am südlichen Ende und
arbeitete sich dann in nördlicher Richtung den Korridor hinauf,
betreute die Hochrangigsten somit als Letzte.
Als Theophilus die Tür am Nordende des Korridors
erreichte, war der Raureif draußen bereits geschmolzen; die
Dachziegel glänzten unter einem langsam trocknenden Film von
Feuchtigkeit. Seit den Tagen, als vier Legionen und ihre
Hilfskavallerie diesen Ort zu ihrem Zuhause erkoren hatten, war die
Tür zu jenem Raum bereits viele Male neu überstrichen worden; und
jedes Mal, in einem Akt von für ihn ganz untypischem Aberglauben,
hatte Theophilus darauf bestanden, dass auf die weiße Kalktünche
auch stets wieder in blauer Farbe das Auge des Horus gemalt wurde.
Für ihn war dies immer Corvus’ Zimmer gewesen, und das war bis
heute so. Von all den Armeeoffizieren, die er kennen gelernt hatte
- und einige von ihnen hatte er sogar gemocht -, war der dunkle,
von Narben bedeckte Kavalleriepräfekt derjenige gewesen, der
Theophilus am wenigsten römisch und am stärksten wie ein Grieche
erschienen war; die größte Anerkennung, die der Arzt zu vergeben
hatte. Die Tatsache, dass der Präfekt nun zurück in Camulodunum
war, ließ die Tage ein bisschen heller erscheinen. Und dass Corvus
verletzt war und sich als Patient hier befand, dämpfte die Freude
lediglich ein wenig.
In dem Raum brannte ein Kohlenbecken, und
irgendjemand hatte erst kürzlich kleine Zedernholzspalten darauf
gelegt. Näherte man sich dem Zimmer, so erfrischte ihr Geruch sogar
ein wenig die Luft im Korridor. Mit einem erneuten Anflug von
Fröhlichkeit öffnete der Arzt die Tür.
»Guten Morgen.«
Jener Mann, der unter der strikten Anweisung
zurückgelassen worden war, nicht das Bett zu verlassen, stand am
Fenster und schaute in den Innenhof hinaus. Doch er stützte das
Gewicht, das sonst auf seinem linken Bein gelastet hätte,
vorsichtig auf einen Stock. Der Leinenverband, der um die linke
Hälfte seines Schädels gewickelt war, wirkte unnatürlich hell vor
dem schwarzen Haar und der olivenfarbenen Haut. In seinem Lächeln
blitzten wie immer Intelligenz und ein trockener Humor auf. Als die
Tür sich schloss, wandte Corvus sich halb vom Fenster ab.
»Was machen Eure Kopfschmerzen?«, fragte
Theophilus.
»Besser als vorher.«
»Das habt Ihr gestern auch gesagt.« Der Arzt
betastete mit seinen langen Fingern behutsam den Schädel des
Patienten. »Aber noch nicht ganz verschwunden?«
»Nicht ganz. Und, ehe Ihr fragt, mein Bein heilt
gut. Ich habe heute Morgen einmal unter den Verband geschaut. Euer
Rosenwasser und der Honig leisten gute Arbeit. Die Wunde ist schon
seit drei Tagen frei von Wundbrand und selbst nachts pocht sie fast
gar nicht mehr. Ich denke, es ist an der Zeit, das Opium
abzusetzen.«
»Ihr meint, Ihr habt bereits damit aufgehört, es
einzunehmen?«
Corvus, Präfekt des Kavallerieflügels, der Ala
Quinta Gallorum, und erst kürzlich in den Dienst der im Westen
stationierten Zwanzigsten Legion eingetreten, besaß immerhin den
Anstand, ein wenig schuldbewusst dreinzublicken. »Die Dosis für die
letzte Nacht habe ich schon nicht mehr genommen.«
Theophilus seufzte theatralisch auf. »Erinnert mich
daran, Nerus auspeitschen zu lassen, weil er es versäumt hat, dafür
zu sorgen, dass ein Patient wie vorgeschrieben behandelt wurde. Ihr
solltet es mir sagen, wenn Ihr auch Arzt werden möchtet. Ihr könnt
gerne meine Arbeit übernehmen. Ich kehre dann zurück nach Hause,
nach Athen.« Der Verband wurde abgenommen, und die Kopfwunde war in
der Tat sauber und bereits im Abheilen begriffen. Theophilus besah
sich den Verband und beschloss, ihn durch einen aus etwas
leichterem Leinengewebe zu ersetzen. Er wandte sich der Beinbandage
zu und fragte: »Und wie geht es mit Eurem anderen Vorhaben
voran?«
Seit über einem Jahr hatten sie sich darüber nicht
mehr unterhalten. Es war ein Zeichen ihres gegenseitigen Respekts,
dass Corvus nach einer Weile antwortete: »Valerius? Ich weiß es
nicht. Nachdem die anderen nach Mona zurückgekehrt sind, wurde er
nach Hibernia gebracht, aber ich habe keine Ahnung, was dann mit
ihm passiert ist. Segoventos weigert sich, mit mir darüber zu
sprechen, und von denen, die ich ausgesandt habe, war keiner in der
Lage, ihn zu finden.«
»Irland ist ja auch keine kleine Insel.«
»Sie ist sogar groß genug, dass ein Mann, der gerne
sterben will, dies auch schafft, ohne dass irgendjemand etwas davon
mitbekommt.«
»Meint Ihr wirklich, er lebt nicht mehr?«
»Nein. Aber ich glaube, er lebt, als ob er tot
wäre. Können wir nicht über etwas anderes sprechen?«
»Wenn Ihr möchtet. Oder könntet Ihr Euch vielleicht
sogar setzen und Eure legendäre Unerschütterlichkeit zur Schau
stellen, während ich die Wunde an Eurem Fußgelenk reinige?«
Corvus setzte sich auf das Bett. Vorsichtig
untersuchte Theophilus die bereits heilende Speerwunde an der Wade
des Mannes. Die Klinge war kurz über dem Fußgelenk eingedrungen und
genau zwischen der Sehne und dem Knochen hindurchgeglitten. Nur
einen Finger breit nach links oder nach rechts, und der Präfekt
hätte seinen Fuß nicht mehr gebrauchen können. So, wie die Dinge
nun aber lagen, würde er wieder genauso geschickt reiten können wie
eh und je, wenn er auch niemals wieder so gut wie früher würde
gehen können.
Die Wunde war einen Monat alt und schon fast
verheilt. Theophilus legte einen neuen, schmäleren Verband an und
lauschte in den Atemzügen des anderen nach Lauten des Schmerzes.
Als es schien, dass der Schmerz, den sein Eingriff bereitete,
wieder nachließ, sagte er: »Wie ich gehört habe, soll morgen nach
den Zeremonien im Theater eine Demonstration von Caesars
Gerechtigkeit stattfinden?«
»Das habe ich auch gehört. Der Gouverneur möchte
seinen bevorzugten Vasallenkönigen gerne beweisen, dass das Gesetz
diejenigen, die die römischen Bürgerrechte erlangt haben, ebenso
hart bestraft wie jene, die sie nicht besitzen.«
»Also wird ein Mann sterben müssen, um einer Gruppe
von hochwohlgeborenen Verrätern zu zeigen, dass sie die richtige
Wahl getroffen haben.«
»Um die Könige geht es hierbei nicht - die wissen
genau, wen sie brauchen und wer sie braucht. Die Menschen, die es
jetzt noch zu überzeugen gilt, sind jene, die in ihren Wäldchen den
Aufstand planen und meinen, wir wüssten von nichts. Also werden
zwei Männer sterben; einer von den unseren und einer von den ihren,
um es gerecht verlaufen zu lassen. Marcellus, der bei der Invasion
die zweite Kohorte der Neunten Division angeführt hatte, wird
gehängt werden für den Mord an seinem Lagerverwalter, wenngleich
Marcellus behauptet, der Mann habe versucht, ihn umzubringen, und
er hätte lediglich aus Notwehr gehandelt...«
»Das könnte doch durchaus der Fall gewesen
sein.«
»Wahrscheinlich schon. Er hatte nämlich befohlen,
einen Landstrich zu pflügen, der, so lange die Trinovanter sich
zurückerinnern können, schon immer heilig gewesen war. Ich an ihrer
Stelle hätte also wohl ebenfalls versucht, Marcellus umzubringen.
Der wiederum hätte seinen Gegner nicht bei helllichtem Tage vor
drei Mitgliedern aus dem Haushalt des Gouverneurs und zahllosen
Stammeskameraden als Zeugen niederschlagen sollen.«
»Und wer wird morgen das andere Opfer? Vielleicht
der Bruder des Mannes, der Marcellus töten wollte?«
»Nein, der ist schon tot; Longinus Sdapeze musste
ihn töten, um ihn daran zu hindern, in der noch dort verbliebenen
Garnison Amok zu laufen - einen Aufstand können wir uns jetzt nicht
leisten. Ich weiß also nicht, wer der zweite Mann sein wird. Ich
vermute mal, der Gouverneur weiß es selbst noch nicht. Sie werden
per Zufallsprinzip irgendeinen armen Schweinehund herauspicken und
dann einen Prozess konstruieren. Wenn beispielsweise einer der
Vasallenkönige ein Messer bei sich trägt, das auch nur eine halbe
Daumenlänge zu lang ist, wird er gerade noch so lange leben, wie er
braucht, um das zu bedauern.«
Theophilus war mit dem Anlegen des Verbandes fertig
und trat einen Schritt zurück, um seinen Patienten zu begutachten.
»Oder sie könnten auch Euch auswählen, einfach, weil Ihr gerade ein
wenig anrüchig ausseht. Als Euer Arzt würde ich Euch also raten,
dass Ihr, wenn Ihr tatsächlich vorhaben solltet, kleinen Männern
dabei zuzuhören, wie sie nichtssagende Reden schwingen, besser
etwas Warmes anziehen solltet, das außerdem nicht so aussieht, als
hättet Ihr gerade eine Schlacht darin durchfochten. Wir sollen
schließlich eine Provinz in Friedenszeiten darstellen.«
»Danke. Und wenn das dann eines schönen Tages auch
mal jemand den Kriegern im Westen sagt, können wir endlich alle
wieder nach Hause gehen.« Corvus erhob sich mit einem etwas
säuerlichen Lächeln und bewegte versuchsweise sein Fußgelenk ein
wenig hin und her. Sein Gesicht zeigte keine offensichtlichen
Zeichen des Schmerzes. Demonstrativ auf seinen Stock gestützt fuhr
er fort: »Und in Anbetracht dessen sollte ich wohl einfach das
Beste aus meiner Zeit machen, ehe ich wieder in den Westen
zurückkehre. Mit Eurer Erlaubnis würde ich also gerne in ein
Badehaus gehen und mir anschließend einen Schneider suchen, der mir
einen Satz Gewänder anfertigt, die gut genug sind, um darin in
Vertretung meines Legaten und meiner Männer eine Delegation von
Königen empfangen zu können. Gehe ich recht in der Annahme, dass
ich raus darf?«
»Natürlich. Ich hatte Euch doch bloß hier behalten,
weil ich noch einmal mit Euch sprechen wollte. Und wenn Ihr den
Stock nicht braucht, werft ihn einfach weg. Ich hasse es, mit
ansehen zu müssen, wenn ein Mann vor seinem Arzt den Leidenden
spielt, obwohl das eigentlich gar nicht der Fall ist.«
Sie verbargen nur sehr wenig voreinander, und
vieles brauchte auch gar nicht mehr ausgesprochen zu werden. Manche
Dinge jedoch sollten zweifelsfrei klar sein. Bereits im Gehen
begriffen, wandte Theophilus sich noch einmal um: »Ihr wisst, dass
die Eceni kommen?«
»Natürlich. Prasutagos ist das Musterbild eines
jeden Vasallen, dem alle anderen Könige nacheifern; Freund zweier
Kaiser und jedes Gouverneurs seit Plautius. Valerius wird jedoch
nicht bei ihm sein. Wo auch immer sich dieser Mann in der Welt
aufhalten mag, in der Obhut seiner Leute lebt er jedenfalls nicht.
Und es macht auch nichts, wenn die anderen mich erkennen; wir sind
ja nun Verbündete. Wir können es uns jetzt leisten, die Kurzweil
eines Prozesses und seines Richterspruchs zu genießen und
anschließend sogar gemeinsam zu Abend zu essen. Und dabei lassen
wir dann in aller Freundschaft die alten Zeiten wieder
aufleben.«