IV

 
Fast schien der Dreiviertelmond auf der Kuppe des Hügels zu liegen. Ein Zaunkönig begrüßte zirpend den Sonnenaufgang. Das kleine Mädchen namens Graine lag hinter einem kantigen Findling, eine Hand im Nackenfell eines schieferblauen Hundes vergraben, der auf den Namen Stone hörte. Im Gegensatz zu seinem Namen, der so viel wie »Stein« bedeutete, lag der Hund jedoch ganz und gar nicht still da, sondern er zitterte unter der Berührung des Mädchens. Sein Blick war starr auf den steilen Abhang des Hügels gerichtet, dorthin, wo das Heidekraut des Hochlands weiten Flächen von Farndickicht und Gras wich. Im Sommer war an diesem Abhang das Heu geschnitten worden. Mittlerweile war das Gras aber wieder bis auf Fingerlänge nachgewachsen und gab einen guten Weidegrund ab. Graine blickte höchst konzentriert zu der gleichen Stelle hinüber, die auch der Hund beobachtete, und während ihre Wahrnehmung mit der seinen zu verschmelzen schien, traten aus einem verschwommenen Umriss, der ungefähr die Form eines Dreiecks hatte, die Konturen von drei grasenden Hasen hervor, allesamt etwa ein Jahr alt.
Die Hasen waren noch jung, und sie waren unvorsichtig. Graine, die ebenfalls noch ein Kind war, hatte jedoch aufmerksam zugehört, wenn andere ihre Jagdgeschichten zum Besten gaben: »Beobachte sie aus der Ferne. Erst wenn du einen allein erwischst, ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um zuzuschlagen.«
Dubornos hatte ihr dies einst geraten, der hagere und aufmerksame Sänger, den die Götter lebend wieder aus Rom hatten hierher zurückkehren lassen - dieselben Götter, die Graines Vater noch immer in Gallien festhielten. Dubornos hatte davon gesprochen, dass kein allzu großer Unterschied darin bestände, ob man nun Jagd auf Hasen machte oder ob man Römer verfolgte.
Graine lag in dem feuchten Gras und wartete. Nemain, die Mondgöttin, sank langsam tiefer hinab, bis der Hase, der auf ihrer Oberfläche lebte, nicht mehr deutlich zu erkennen war. Das Flüstern und Raunen der Morgendämmerung veränderte seinen Klang und verwandelte sich in die Stimmen des Tages. Graine wäre eine endlose Nacht lieber gewesen; in der Dunkelheit nämlich hörte sie ihre Großmütter, die aus dem Land jenseits des Lebens zu ihr sprachen, und dann hatte Graine das Gefühl, dass sie die Welt verstand. Bei Tageslicht dagegen musste Graine sich wieder an den unzuverlässigen Äußerungen der sie umgebenden Erwachsenen orientieren, und die waren nur allzu verwirrend.
Es war nicht etwa so, als ob die Erwachsenen lögen, es war lediglich die Tatsache, dass sie die Welt nicht aus dem gleichen Blickwinkel betrachteten wie die Großmütter, so dass es recht schwierig war, herauszufinden, was ihnen gefallen würde und wie man es ihnen recht machen konnte. Besonders ihre Mutter, Breaca, war schwer einzuschätzen, obwohl doch gerade sie es war, der Graine am meisten zu gefallen suchte - falls diese denn noch am Leben sein sollte. Diese Frage hatte sie schon den ganzen Morgen über beschäftigt und auch die ganze Zeit davor, seit dem dunklen Abend mit Airmid, als sie beide Dinge im Fluss gesehen hatten, die sie lieber nicht sehen wollten.
Die Großmütter waren ihr nach dieser Vision weder tröstend zur Seite geeilt, noch hatten sie ihr die Bilder erklärt. Mit nichts Verlässlicherem als einzig der Beobachtung und dem Nachempfinden des Schmerzes, den Breaca gefühlt hatte, hatte Graine beschlossen, erst einmal davon auszugehen, dass ihre Mutter noch am Leben war und gewiss bald schon wieder zurückkehren würde - dass sie verkünden würde, die Römer seien vernichtet, dass sie vielleicht sogar ein wenig beeindruckt wäre von den Taten der Tochter, die sie zurückgelassen hatte.
Auf der Hügelflanke - unter dem wachsamen Blick des Hundes - entfernte sich derweil der mutigste der drei Rammler von seinen Geschwistern, auf der Suche nach noch frischerem Gras. Erst wenn du einen allein erwischst... In dem winzigen Augenblick, als die Sonne Graine das Blitzen in den Pupillen des Hasen enthüllte, als Stone aufhörte, sich zitternd an ihre Seite zu pressen, und plötzlich ganz ruhig wurde, in dem Moment hob Graine ihre Hand.
Während der ersten paar Sekunden der wilden Verfolgungsjagd stockte dem Mädchen geradezu der Atem in der Kehle. Sie hatte schon oft genug beobachtet, wie ein Hund einen Hasen hetzte, aber sie hatte noch nie gesehen, wie ihr Hund ihren Hasen zur Strecke brachte - wie ihr Hase Haken schlug, wie sein gelblich braunes Fell schimmerte, das flüchtige Aufblitzen seines weißen Unterbauches, wenn er sich blitzschnell umdrehte, das durch ihn pulsierende Leben und die geschmeidige Art zu rennen, seine runden schwarzen Augen, so blank wie polierte Jettsteine. Ein Dutzend Herzschläge lang blieb Graine still liegen, fühlte sich endlich als eine wahre Jägerin, sonnte sich bereits im Voraus in dem glühenden Stolz ihrer Mutter.
Denn das war der zentrale Punkt ihres Plans: Ihr Onkel Bán, der Verräter, war, als er noch ein Junge gewesen war und ein Freund aller Stämme, der Hasenjäger genannt worden. Und Graine hatte den Eindruck, als ob ihre Mutter um den Verlust ihres Bruders ebenso trauerte, wie sie um Caradoc weinte, der die Quelle gewesen war, aus der Breacas Seele sich gespeist hatte. Wenn Graine nun also schon nicht den Platz ihres Vaters einnehmen konnte - und die Jahre, die er nun schon fort war, hatten ziemlich deutlich gezeigt, dass sie das einfach nicht vermochte -, dann konnte sie ja vielleicht zu einer zweiten Hasenjägerin werden und damit zumindest den Schmerz ihrer Mutter über den Verlust von Bán ein wenig lindern.
Das würde zwar nichts an der Tatsache ändern, dass Breaca verwundet war, und auch nichts an ihrer Auseinandersetzung mit der Schlangenträumerin, aber vielleicht würde es ihr ja wenigstens ein Lächeln entlocken können. Graine Hasenjägerin. Das klang ganz gut. Graine konnte beinahe schon hören, wie Airmid sie so nannte, und sie konnte beinahe schon sehen, wie die Bodicea, umgeben von den Mitgliedern des Ältestenrats, diesen Namen für ihre Tochter annahm und wie glücklich er sie machte.
Der Abstand war nur noch gering. Der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem, zwischen Opfer und Sieger. Nur noch ganz gering.
Stone hatte seine besten Jahre zwar schon hinter sich, war aber nach einem langen Sommer voller Kämpfe noch immer in guter körperlicher Verfassung. Er streckte sich im Laufen, flog förmlich wie ein Pfeil dicht über dem Boden dahin, und der entscheidende Abstand zwischen Jäger und Gejagtem wurde von Sekunde zu Sekunde geringer, bis Stone endlich zuschlagen konnte und den Hasen fast getötet hätte - aber nur fast.
Der Hase hatte schon eine ansehnliche Größe erreicht, und auch er hatte bereits einen Sommer voller Gefahren durchlebt. Er hatte genug über die Jagd gelernt, um sich zumindest vor dem ersten Angriff noch zu schützen. Weiß bezahnte Kinnladen schlugen krachend aufeinander, bissen in leere Luft, dort, wo gerade eben noch die Brust des Hasen gewesen war, aber die Beute war schon wieder verschwunden. Verzweifelt kämpfte der Hase darum, den Zeitpunkt seines Todes noch ein wenig aufzuschieben; er wich seinem Verfolger blitzschnell aus, drehte sich halb um die eigene Achse, so dass er zum ersten Mal seit Beginn der Jagd genau in die Richtung von Graine sah, die zwischenzeitlich aufgesprungen war und bis zu den Knien im Heidekraut stand. So weit entfernt er in diesem Augenblick auch sein mochte, so hob der Hase doch den Kopf und blickte ihr geradewegs in die Augen, bat sie um sein Leben. Ihr Hase flehte sie um Hilfe an, bettelte um die Gunst, einfach nur am Leben bleiben zu dürfen.
Das war nun ganz und gar nicht das, was Graine sich ausgemalt hatte. Wie eine erstickende Flutwelle schlug die Angst über ihr zusammen. Doch es war nicht etwa ihre eigene Angst, die Graine spürte, es war die Angst des Hasen, die hämmernde, nahezu das Herz zerreißende Todesangst der gehetzten Kreatur. Noch ehe das Mädchen genug Luft holen konnte, um zu schreien, wirbelte der Hase erneut halb um die eigene Achse, duckte sich blitzschnell unter dem Hals des Hundes hindurch und floh dann wie ein Speer geradewegs auf Graine zu - tauchte Zuflucht suchend zwischen ihren Beinen hindurch.
Graine hätte Stone befohlen, von dem Tier abzulassen, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte. Sie tat ihr Bestes, schrie den Hund an, bis ihre Kehle schmerzte, doch jeder wusste, dass das einzige Mittel, mit dem man einen Abkömmling von Hail noch aufhalten konnte, wenn er jagte oder wenn er in einer Schlacht kämpfte, ein Speer war. Aber Graine war erst sechs, sie hatte also keinen Speer, den sie nach dem Hund schleudern konnte, und selbst wenn sie einen zur Hand gehabt hätte, so hätte sie es doch niemals gewagt, ausgerechnet jenen Hund zu verletzen, in dem das Herz und die Seele des sagenumwobenen Hail weiterlebten - und der alles war, was ihrer Mutter noch von ihrem Leben vor der römischen Invasion geblieben war. Unbeweglich wie ein Fels stand sie inmitten des Heidekrauts, als der Hund an ihr vorbeischoss, so konturlos wie ein Blitz und genauso taub, genauso tödlich.
Der Hase war nur noch eine Armlänge von ihr entfernt. Die Zeit schien sich unendlich zu dehnen, während sich das Tier wieder und wieder um die eigene Achse drehte, dreimal, viermal. Er sprang vom einen Hinterlauf auf den anderen, duckte sich blitzschnell, um der mit scharfen Reißzähnen bewehrten Hundeschnauze auszuweichen, schlug einen Haken - alles, nur um noch einige wenige weitere Atemzüge von seinem Leben nehmen zu dürfen. Atemzüge, die so kostbar waren, dass Graine seinen verzweifelten Wunsch, zu überleben, wie einen feuchten, metallenen Geschmack auf ihrer Zunge kosten konnte. Sie langte nach dem Hasen, verzweifelt darum bemüht, ihm zu helfen, doch diese Geste besiegelte seinen Tod. Der Hase strauchelte, überschlug sich im Laufen, und Stone, der sich auf dieser Jagd geradezu selbst übertraf, streckte sich, schaffte es, genau diese eine Handlänge, die ihn noch von seiner Beute trennte, zu überwinden, und packte zu. Der Hase starb schreiend, während die Trümmer seines kleinen Brustkorbs sich um sein Herz schlossen. Bis zuletzt blieben seine glänzend schwarzen Augen fest auf Graines gerichtet, baten sie stumm um Schutz und Befreiung.
In diesem Augenblick, im Alter von sechs Jahren im nassen Gras stehend, über sich, von Nebel verhangen am westlichen Himmel, der Halbgeist des Mondes von Nemain, verstand Graine nic Breaca mac Caradoc, die Erbin der königlichen Linie der Eceni, mit geradezu niederschmetternder Klarheit die echte Hilflosigkeit der Götter - wenn die von ihnen in bester Absicht entfesselten Kräfte gerade jene Menschen vernichteten, welche sich zuvor Hilfe suchend an sie gewandt hatten. Das Ausmaß dieser Erkenntnis, das Trugbild der Hoffnung, wenn alles, was wirklich wahrhaftig war, doch allein die Gewissheit des Todes war, überwältigte Graine. Sie saß im Gras und weinte, wie nur ein Kind weinen kann, weinte um ihren Hasen, der noch vor allen anderen das Tier Nemains war; weinte um ihre Mutter und um ihren Vater, die für immer getrennt sein würden; weinte um sich selbst, die sie verloren war in einer Welt von unberechenbaren Kräften, in einer Welt, in der Cygfa und Cunomar allein deshalb von den Toten wiedergekehrt zu sein schienen, um fortan ebenfalls Besitzansprüche an das Herz ihrer Mutter zu stellen. An jenes Herz, das doch schon so entsetzlich zerrissen war. Und schließlich weinte Graine auch um den mutigen, großherzigen Kampfhund, der bei dieser Jagd alles gegeben hatte und nun Lob suchend zu ihr kam, und der doch nicht verstand, warum sie ihm diese Anerkennung nicht geben konnte, sondern sich schluchzend an seinen Hals klammerte.
 
Airmid, die Träumerin von Nemain, fand sie kurz nach Mittag neben dem Bach, der durch jenen Teil des Waldes verlief, in den das Sonnenlicht am wenigsten vorzudringen vermochte. Graine saß auf dem Stamm einer umgestürzten Birke. Neben Graine, auf dem Gras, lagen der abgezogene Körper des Hasen und der Hund, der sich auf der Seite ausgestreckt hatte. Graine hatte das Fell des Hasen zwischen einigen Steinen aufgespannt und es zum Teil bereits gesäubert. Der Kopf des Tieres, der ungeschickt abgetrennt worden war, thronte auf einem Felsen in der Mitte des Flüsschens, das Gesicht nach Westen gewandt, in Richtung der Ahnen. Festgehalten von einigen Flusskieseln schwebte eine lange Strähne ochsenblutroten Haares neben dem Tierkopf im Wasser. Seitlich an Graines Kopf war eine kahle Stelle zu erkennen, während sie zusammengekrümmt und weinend am Ufer des Flusses saß.
Seit Sonnenaufgang hatte die Träumerin schon nach dem Kind gesucht, das zwar nicht ihre leibliche Tochter war, diesen Platz in ihrem Herzen aber dennoch eingenommen hatte. Als Airmid Graine nun dort am Ufer hocken sah, trat an die Stelle der morgendlichen Sorge plötzlicher Ärger, der aber sogleich einer noch viel tiefer reichenden Angst wich. Airmid stand ganz still da, überzeugt davon, dass die beiden sie weder gehört noch gesehen hatten. Zumindest der Hund ließ durch nichts erkennen, dass er sie bemerkt hatte. Graine dagegen beugte sich, ohne zuvor aufgeschaut zu haben, nach vorn und drehte den Hasenkopf so herum, dass er über das Wasser hinweg direkt auf Airmid blickte. »Ich wollte ihm meine Ehrerbietung erweisen«, erklärte sie. »Er hat mir gezeigt, was in der Höhle der Ahnen mit Mutter geschah.«
Airmid konnte, wenn sie wollte, genauso schnell rennen wie ein Krieger. Ohne auf ihre Tunika zu achten, sprang sie über die nassen Flusssteine, kniete sich neben dem Kind nieder und umschlang die schmalen, zuckenden Schultern. Eine Strähne zerzausten, ungekämmten Haares fiel auf ihre Finger hinab; jener Teil von Graine, der allein dem Mädchen gehörte und der sich weder bei Vater oder Mutter noch bei den Großeltern mütterlicher- oder väterlicherseits wiederfand. Zu dem Zeitpunkt von Graines Geburt war ihr Haar so blass gewesen wie winterliches Stroh, und für eine Weile hatte es ganz danach ausgesehen, als ob die Visionen eines ganzen Lebens ein Irrtum gewesen wären. Doch noch innerhalb ihres ersten Lebensjahres hatte Graines Haar sein tiefes Rot in der Farbe von Ochsenblut angenommen und hatte damit zumindest das erste zarte Aufkeimen von Hoffnung gerechtfertigt erscheinen lassen.
Später, als der Säugling zu einem kleinen Kind herangewachsen war, wurde ihre hübsche und zierliche Statur sichtbar; die feinen Linien ihres Gesichts spiegelten niemandes Züge so deutlich wider wie die des Bruders ihrer Mutter, Bán, mit dem Graine doch nur den geringsten Teil ihres Blutes teilte.
Allein Graines Augen waren erkennbar die ihres Vaters: das changierende Grau, das sich ganz nach der Stimmung ihrer Seele wandelte und von dem dunklen Grau von Sturmwolken bis hin zu dem fast bläulich schimmernden Glanz von frisch geschmiedetem Eisen reichte. Oberflächlich betrachtet hatte das Kind nichts von seiner Mutter geerbt. Man musste sowohl die Seele von Breaca als auch die von Graine schon sehr gut kennen und lieben, um das in ihren Herzen lodernde Feuer zu entdecken und die unterschiedlichen Formen, die es in der Kriegerin und der Träumerin angenommen hatte.
Jetzt jedoch brannte die Flamme in Graine nur noch schwach, bestand allein aus Schmerz und einem zerbrechlichen Stolz. Der Birkenstamm lag genau entlang des Bachverlaufs und ließ feine Löckchen weißer Rinde auf den Lehmboden rieseln. Airmid setzte sich ein wenig abseits nieder und zog aus dem Beutel an ihrem Gürtel jene Hand voll bereits geknackter Haselnüsse und verschrumpelter, grüner Holzäpfel hervor, die sie im Morgengrauen und bereits in dem Gedanken gesammelt hatte, diese mit ihrer Nicht-Tochter gemeinsam zu essen. Sie bot Graine davon an, während sie in das hinter dem Hasenkopf entlangströmende Wasser starrte. »Kannst du mir beschreiben, was genau dir der Hase gesagt hat?«, fragte sie.
In den jenseits des Flusses liegenden Wäldern spielte der Westwind mit den Herbstblättern, ließ sie aufwirbeln. Graine hob den Blick. Ihre Augen schienen alterslos zu sein. »Als Mutter gegen die Verräterin Cartimandua kämpfte, hast du Nemain um Hilfe gebeten«, erklärte sie. »Trotzdem haben wir verloren.«
Er hat mir gezeigt, was mit Mutter geschah... Airmid atmete ein paar Mal tief ein und aus und entspannte ihre zu Fäusten geballten Hände wieder. Sie war bei Graine gewesen, als sie beide die Vision von Breaca gesehen hatten. Wie durch einen Nebel war das Bild aus dem Wasser aufgestiegen, doch selbst aus so weiter Entfernung war klar zu erkennen gewesen, dass die Kriegerin im Sterben lag. Airmid hatte gebetet und war die gesamten drei Tage, die seitdem verstrichen waren, in ihren Träumen verharrt, und doch waren ihr keine weiteren Bilder erschienen. Aber Graine, der die Götter Visionen schenkten, die in ihrer Klarheit noch weit über das hinausgingen, was die Träumer von Mona zu sehen vermochten, zog es vor, das, was sie gesehen hatte, mit niemandem zu teilen - stattdessen richtete sie ihre Gedanken auf die verlorenen Schlachten des vergangenen Sommers.
Airmid wusste, sie konnte Graine nicht zum Sprechen zwingen; ein von den Göttern berührtes Kind durfte nicht gedrängt werden. Sie wischte die Hand an ihrer Tunika ab und sagte betont ruhig und gelassen: »Die Götter wissen mehr als wir darüber, wie die Dinge sich am besten arrangieren. Wir können nur beten, und wir müssen sogar beten. Aber trotzdem wird uns nicht alles, worum wir bitten, gegeben werden.«
»Nein, denn ansonsten hätten die Römer sich schon vor langer Zeit wieder eingeschifft und wären zurück nach Hause gesegelt.«
»Du hast Recht. Aber so ist es schon immer gewesen, und so sollte es auch bleiben. Wenn uns jede Bitte erfüllt würde, dann würden wir überheblich werden und eines Tages um zu viel bitten.«
Graine dachte eine Weile nach, dann fragte sie: »Wäre das denn wirklich so schlimm?«
»Das könnte es werden«, entgegnete Airmid. »Ich denke, nach einer Weile würden wir aufhören, die Götter für das, was sie uns geben, zu ehren. Und dann wären wir wahrhaftig gottlos.«
»So wie die Männer aus den Legionen?«
»So wie einige von ihnen.
»Das wäre schlimm.«
Sie schwiegen einen Moment. Es hätte ein Tag sein können wie jeder andere. Sie aßen schweigend, bis die Nüsse aufgegessen waren. Anschließend brach Airmid einen der schrumpeligen Äpfel zwischen ihren Händen entzwei und reichte Graine eine Hälfte. Er hatte einen kräftigen Geruch an sich, wie frisches Gras mit einer süßen, nussigen Note. Graine nahm das Stück entgegen, ohne hinzusehen. Ihr Blick war fest auf die Augen des Hasen gerichtet. Seine Augen waren offen und trübe, wie mit Staub überzogenes Wasser.
»Ich glaube...«, begann Graine, »vielleicht... vielleicht ist es ja so, dass Nemain uns manchmal einfach nicht helfen kann, egal, wie sehr wir beten? So wie ich auch dem Hasen nicht helfen konnte, egal, wie sehr ich das gewollt habe.«
Damit wurde die Botschaft des zwischen Pflöcken ausgespannten Fells und des abgetrennten Kopfes plötzlich klarer. Airmid wollte Graine tröstend an sich ziehen, unterdrückte ihren Impuls jedoch gerade noch und strich dem Kind stattdessen bloß eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. Die Götter sprachen auf so viele verschiedene, oftmals nur schwer definierbare Arten zu den Menschen. Die Schulung eines Träumers bestand darin zu wissen, wie man ihnen dennoch lauschte. Hier, in der Gegenwart des Kindes, das Airmids eigenen Traum verkörperte, bebte Airmids gesamter Körper, während sie sich mit all ihren Sinnen auf die Stimme der Götter konzentrierte. Über sie flog eine Elster hinweg und stieß einen heiseren Schrei aus; laut hallte er durch die morgendliche Stille. Etwas leiser sprang eine Forelle aus dem Bach empor, klatschte ungeschickt auf die Wasseroberfläche und verspritzte dabei mehr Tröpfchen um sich, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Und ein Frosch quakte, zu einer Zeit im Jahr, in der man für gewöhnlich keine Frösche mehr hörte.
Auf diese Weise warnten die Götter Airmid, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Zwanzig Jahre der Schulung auf Mona und die Hand voll von Jahren, die sie vor ihrer Ausbildung in den Diensten der älteren Großmutter verbracht hatte, halfen ihr, schließlich die passenden Worte zu finden.
Die Träumerin beugte sich vor und nahm die Hände des Kindes in die ihren. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht haben die Götter in Wahrheit tatsächlich keine Macht. Aber in jedem Fall ist der Hase Nemains Tier, und wenn er starb, dann, um zu Nemain zurückzukehren. Der Tod ist nichts Schlimmes - wenn er zum richtigen Zeitpunkt eintritt. Daran musst du dich stets erinnern. Im Übrigen bist du ja auch kein Gott, sondern lediglich ein weiteres von Nemains Geschöpfen. Genauso wenig, wie es in der Macht der Feldlerchen lag, dich davon abzuhalten, diesen Apfel hier zu essen, genauso wenig lag es in deiner Macht, den Tod des Hasen zu verhindern. Es liegt einfach nicht in deiner Macht.«
»Dann meinst du also, der Hase ist gestorben, weil er sterben wollte? Ich glaube aber nicht, dass er sterben wollte.«
»Das glaube ich auch nicht. Und das habe ich auch nicht gesagt. Ich sagte, es könnte sein, dass er gestorben ist, weil der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Das Warum werden wir nie beantworten können. Aber vielleicht, wenn nicht Stone ihn gefangen hätte, der der Beste unter den Jagdhunden ist, und ihn mit einem kurzen, schnellen Biss getötet hätte, vielleicht wäre dem Hasen dann zu einem späteren Zeitpunkt etwas viel Schlimmeres zugestoßen; ein Adler hätte ihn zum Beispiel fangen und zerreißen können, um damit seine Jungen zu füttern; oder ein Fuchsjunges, das noch nicht gelernt hat, schnell und sauber zu töten, hätte den Hasen vielleicht verkrüppelt irgendwo liegen lassen, und im Winter wäre er dann an Hunger gestorben. Oder vielleicht war es für den Hasen auch einfach nur an der Zeit, zu Nemain zurückzukehren, die sich um ihn kümmert. Wir, die wir keine Götter sind, können solcherlei Dinge einfach nicht wissen.«
»Aber Nemain weiß das?«
Airmid nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Die Hände, die sie mit den ihren umfangen hielt, waren erst kalt geworden und dann unnatürlich heiß. Sie drehte sie herum, musterte die abgeknabberten Fingernägel mit dem immerwährenden Halbmond aus Schmutz unter den Rändern. Doch schon holte der eindringliche Blick aus grauen Augen Airmid wieder zurück in die Gegenwart.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie schließlich. »Wirklich, ich weiß es nicht. Aber ich denke, wir müssen das einfach glauben, weil es sonst gar nichts mehr gibt, woran wir noch glauben können. Aber vielleicht ist das ebenfalls falsch. Vielleicht ist es auch einfach nur so, dass der Hase gestorben ist, weil du beschlossen hattest, den Hund auf ihn zu hetzen, und sonst nichts. Würdest du das denn lieber glauben?«
In dem langen Schweigen, das daraufhin folgte, saßen die Vögel ganz still auf ihren Ästen, und der Frosch quakte alleine weiter.
»Wenn ich es glaube, wird es dann dadurch zur Wahrheit?«
»Ich denke nicht, dass sich durch unsere Sichtweise der Dinge irgendetwas verändert - nur wir selbst verändern uns dadurch.«
»Nein... und in dem Fall möchte ich lieber daran glauben, dass der Hase starb, weil er wieder zurück zu Nemain wollte. Aber das bedeutet dann ja...« Graine schien innerlich ins Schwanken geraten zu sein. Sie war erst ein Kind von sechs Jahren und rang bereits mit Fragen, die selbst den Mitgliedern des Ältestenrats Kopfzerbrechen bereiteten, und das schon seit der Zeit, als noch die allerältesten der Ahnen die Erde bevölkerten.
Sanft sagte Airmid: »Dann bedeutet das, dass Nemain einen erheblich größeren Ausschnitt aus dem Bild sieht als wir. Wir sehen nur, was direkt vor unseren Augen liegt. Und es bedeutet, dass dein Vater, wenn er noch in Gallien ist, aus einem bestimmten Grund dort ist, auch wenn wir diesen Grund nicht kennen.«
»Und der Verräter-Bruder? Warum ist er jetzt in Irland?«
»Valerius. Früher einmal war er Bán, aber jetzt nennt er sich Valerius.« Airmid streichelte eine kleine Wange, die ebenso gut auch die Wange Báns hätte sein können. »In jedem Fall hilft es nicht, nun schlecht von ihm zu denken. Ich weiß doch selbst nicht, warum er dort ist. Ich kann ihn nicht erreichen, kann ihn nicht sehen. Er hat sich von der Berührung durch die Götter ausgeschlossen.«
So ausführlich hatte Airmid noch mit keinem über Bán gesprochen; und mit Breaca schon gar nicht. Graine erschauderte in der kühlen Luft, und nicht nur ihre Haut erbebte unter der Stimme des Gottes. Airmid erkannte, dass nun ein Augenblick gekommen war, in dem sie die Tiefe ihrer Gefühle für Graine zeigen konnte, ohne damit Schaden anzurichten, und sie streckte die Arme aus und zog den jungen Körper an ihre Brust, wärmte das Mädchen und hielt sie fest an sich gedrückt.
Nach einer Weile hörte das Zittern auf. Airmid drückte Graine einen Kuss auf das üppige, widerspenstige Haar und sagte: »Wir müssen beide erst noch lernen, geduldig zu sein. Irgendwann wird uns die Antwort schon klar, selbst wenn wir bis zu unserem Tod warten müssen, um sie zu erkennen.«
»Macht einem der Tod denn manche Dinge plötzlich klarer?«
»Der Tod macht alle Dinge klar.«
»Dann wird der Mann, den Sorcha auf der Fähre herüberbringt, bis zum Nachmittag alle Dinge klar sehen können.«
Das Kind besaß eine außergewöhnliche Gabe, aber manche Dinge vermögen selbst die Götter nicht so ohne weiteres zu erkennen. Mit scharfer Stimme fragte Airmid: »Woher weißt du das?«
Graine hob Airmid ihr schmales Gesicht entgegen. Für einen Moment schaute sie sehr ernst und behielt jenen abwesenden, in unbekannte Fernen gerichteten Blick bei, den sie von den Träumern gelernt hatte. Dann grinste sie und war mit einem Mal wieder ein Kind, das sich mit strahlendem Lächeln über den Erfolg einer kleinen List freute.
»Er war da, als ich mit Stone aus Sorchas Hütte herauskam. Ich habe gesehen, wie er bis ans Ufer ritt und die Signalflagge hisste. Aber er hing so merkwürdig schief im Sattel und hielt sich den Bauch, und als er versuchte, abzusteigen, fiel er hinunter, und sein Pferd ist dann von ihm weggegangen. Gwyddhien sagt, dass Pferde das nur tun, wenn ein Mensch stirbt.«
Die feinen Härchen auf Airmids Unterarmen richteten sich auf, und sie hatte plötzlich eine ganz trockene Kehle. Einige Träume aus den vergangenen Nächten wurden jetzt plötzlich verständlicher, als es ihr lieb gewesen wäre. Gedankenverloren erwiderte sie: »Wenn Gwyddhien das sagt, dann wird es schon stimmen. Ist Sorcha denn zu ihm gegangen?«
»Noch nicht sofort. Als ich mit Stone fortging, stand sie gerade auf, um das Baby zu füttern. Inzwischen wird sie wohl fertig sein. Aber du solltest zu ihm gehen. Er bringt Nachrichten aus dem Osten. Das hat mir ebenfalls der Hase gesagt.«
»Und hat der Hase dir auch gesagt, was für Nachrichten er mit sich bringt?«
Die grauen Augen wurden sehr groß. »Nein. Aber er hat mir den Bruder des Kuriers gezeigt, und der ist schon tot. Mutter hat den Mann getroffen, und sie kennt die Nachricht, die er überbringen sollte. Sie war krank wegen der Wunde, die wir gesehen haben, aber die Träumerin des Schlangenspeers hat sie wieder geheilt. Jetzt reitet sie davon, und sie wird nie mehr wiederkommen. Die Ahnen sind bei ihr. Aber die besitzen auch nicht mehr Macht als die Götter, um Mutter zu beschützen. Aber sie werden sie beobachten und Wache halten, damit wir es erfahren, falls sie fällt.«
»Danke.« So viel, und das von den Lippen eines Kindes. So vieles, das Graine ganz für sich allein getragen hatte, einen ganzen Morgen lang. So vieles, das es zu betrauern und zu fürchten gab - und vielleicht auch zu planen.
Airmid versuchte nicht, sich jetzt zu einem beruhigenden Lächeln zu zwingen; bei einem Mädchen wie Graine wäre das eine Beleidigung gewesen. Sie erhob sich, ergriff die Hand des Kindes und sagte: »Wenn das so ist, dann gibt es für uns jetzt nichts mehr zu tun, als den Kurier zu begrüßen. Meinst du, er wird noch lange genug leben, um seine Nachricht an uns weitergeben zu können?«
»Wenn wir uns beeilen, wird er es noch schaffen.«
»Kannst du rennen?«
»Natürlich.«
»Dann lass uns aufbrechen.«
Gemeinsam rannten sie den steinigen Pfad bis zu Sorchas Hütte entlang. Am Flussufer saß ein einzelner Frosch und quakte sein herbstliches Lied der Trauer.
Die Seherin der Kelten
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