XXXIII
Der Gott erschien Valerius in Gestalt eines
schwarzen Stieres. Zwischen seinen Hörnern hielt dieser den Mond.
Oder vielleicht war es ja auch der Mond, der mit seiner
sichelförmigen Klinge einen Stier bezwungen hatte.
Valerius sah ihn im Schein des Feuers am Rande des
Feldes stehen. Und der Stier rührte sich auch nicht von dort weg,
als Valerius sich erhob und auf ihn zumarschierte. Neben Valerius
lief der Hund, schien wirklicher, greifbarer unter dem alten Mond
als unter dem neuen.
Der Stier war ein reales Geschöpf aus Fleisch und
Blut, voller Leben - erfüllt von den Säften und Kräften und der
Leidenschaft des Frühlings. Gemächlich kam er zu der Dornenhecke
herübergeschlendert, schnüffelte einen Moment an Valerius’ Hand und
schlang eine lange Zunge um den Rand seiner Handfläche, angezogen
von dem salzigen Geschmack von Schweiß.
Valerius blieb noch eine Weile bei dem Tier,
lauschte auf den Wind, der durch den Weißdorn strich, und das
Geflüster der Götter, und kehrte dann wieder zurück zur
Feuerstelle. Er weckte Longinus, der sich schläfrig herumdrehte
und, ganz ähnlich dem Stier, Valerius’ Handgelenk umfing und dessen
Handballen küsste.
»Du riechst nach Vieh.«
»Auf dem Feld steht ein Stier.«
»Ah.« Longinus versuchte, sich umzudrehen, was ihm
jedoch nicht gelang. »Ist er rot?«
»Nein, schwarz. Und es ist ein echter Stier, aber
wir müssen trotzdem aufbrechen.«
»Warum mich das wohl nicht überrascht?«
Mittlerweile nahezu völlig erwacht setzte Longinus sich auf.
Während der zehn Tage, die ihre Reise nun schon dauerte, hatte er
den Großteil des Gewichts, das er nach der Schlacht verloren hatte,
wieder zugenommen; außerdem war aus seinen Augen der zehrende
Ausdruck des Schmerzes gewichen. Er schüttelte den Kopf, um auch
noch die letzten Reste von Schläfrigkeit zu vertreiben, und trank
aus dem Becher voll Wasser, den Valerius ihm anbot.
Er blickte zur Hecke und zu dem Stier hinüber,
welcher Longinus’ Blick erwiderte. »Ich wusste gar nicht, dass der
Stiergott noch immer mit dir spricht, seit du doch sein Heiligtum
entehrt hast.«
»Ich habe es ja wieder neu hergerichtet. Darum ist
das etwas anderes. Und vielleicht ist es auch gar nicht Mithras.
Wir befinden uns jetzt immerhin auf dem Gebiet der Eceni. Die Ahnen
dieses Landes kannten den Gott in der Gestalt des Stieres schon
lange, bevor die Legionen ihren Allvater aus Persien mit sich
brachten. Aber zumindest kannst du schon einmal stehen; das ist
gut. Kannst du auch laufen, was meinst du?«
»Wenn ich muss. Es war schließlich mein Kopf, der
verletzt wurde, nicht meine Beine. Wohin gehen wir denn?«
»Wir wollen uns Waffen beschaffen, die nicht von
Rom stammen. Wir gehen auch nicht weit, aber wir müssen vor
Einbruch der Morgendämmerung wieder hierher zurückgekehrt
sein.«
»Und warum können wir nicht reiten?«
»Jener Ort, zu dem wir nun wandern, wird bewacht.
Die Pferde können dorthin nicht vordringen.«
Longinus erschauderte. »Aber wir sind doch wohl
willkommen?«, fragte er.
»Ich hoffe es.«
Zuerst rannten sie, dann gingen sie im
Schritttempo, schließlich rannten sie wieder. Hoch stieg der Mond
am Himmel empor, und die Nacht war nicht mehr länger jung.
Durch die Fußsohlen hindurch spürte Valerius ein
Beben: Nemains Flüstern, durchdrungen von Unterströmungen, die noch
weitaus älter waren. Er folgte diesem Flüstern, ließ sich von ihm
führen. Longinus, der bereits etwas ins Hintertreffen gelangt war,
stürzte über eine Dornenwurzel. Er wurde langsamer und hatte
offensichtlich Schmerzen.
Valerius drang durch ein Dickicht aus Wildrosen und
Beerenbüschen hindurch, hinter dem eine weite Ebene lag,
eingetaucht in mattes Silber und Schwarz. Es sah aus, wie er sich
das Land der Toten vorgestellt hatte, was im Augenblick jedoch kein
guter Gedanke war.
Neben einer einzelnen Birke blieb er stehen und
wartete. »Es tut mir Leid. Mir ist nicht mehr bewusst gewesen, dass
es so weit ist. Aber sobald wir einmal die Waffen haben und wieder
beim Feuer angelangt sind, können wir uns für den Rest des Tages
ausruhen.«
Longinus atmete schwer, als er schließlich Valerius
erreichte, und hielt sich seine schmerzende Seite. Er grinste ein
wenig verkrampft. »Entschuldige dich nicht. Schließlich sollte ich
mich in einem vernünftigen Trainingszustand befinden, sobald wir
wieder kämpfen.« Er schloss die Augen und lehnte sich gegen die
Birke. »Ich gehe doch wohl recht in der Annahme, dass es wieder zu
einem Kampf kommen wird?«
Valerius hatte seine Aufmerksamkeit allein auf den
Hund gerichtet. Dieser war bereits vorausgelaufen und einen Pfad
hinabgewandert, der von einem anderen Mond beschienen wurde, als
jenem, der die Nacht erhellte. Ohne genauer darüber nachzudenken
erwiderte er: »So scheint es. Denn wenn wir Klingen brauchen, dann
wohl, um zu kämpfen. Zwar nicht heute Nacht, aber bald.« Das zarte
Beben unter seinen Füßen nahm einen gleichmäßigeren Rhythmus an und
war nun noch deutlicher zu spüren. Valerius löste sich von der
Birke und folgte dem Hund, zunächst nach links hinüber und dann
zwischen zwei Findlingen hindurch.
Doch Longinus hakte nach: »Haben deine Götter dir
denn auch schon verraten, auf wessen Seite wir stehen
werden?«
»Noch nicht. Haben deine es dir schon
gesagt?«
»Wohl kaum.« Longinus stieß ein knappes, bellendes
Lachen aus, das ihm offenbar Schmerzen bereitete. »Meine sind
bereits viel zu sehr damit beschäftigt, mich am Leben zu erhalten.
Da kann ich sie nicht auch noch mit so unwichtigen Detailfragen
belästigen, wie etwa, auf wessen Seite eines mir völlig fremden
Krieges ich später wohl noch werde kämpfen müssen.« Er kämpfte sich
bis zu den Felsbrocken vor. »Wir sollten besser wieder rennen. Es
dauert nicht mehr allzu lange, und die Dämmerung zieht wieder
herauf, und ich habe wahrlich keinerlei Bedürfnis danach
herauszufinden, was wohl passiert, wenn wir bis Tagesanbruch nicht
wieder zurück am Feuer sind.«
»Ich denke, wir sind bereits am Ziel. Komm und sieh
selbst.«
Hätten der Hund und das leise Trommeln der Götter
ihn nicht geführt, hätte Valerius den Grabhügel wohl nie gefunden.
Selbst nun, da er nurmehr eine Speerlänge vom Eingang entfernt
stand, war er sich noch nicht ganz sicher, was genau es eigentlich
war, das ihn hierher geführt hatte. Außer dass er plötzlich Stimmen
hören konnte, die aber weder in seinen Ohren erschallten, noch in
seinem Kopf, sondern die sich in den weit entlegenen Winkeln seiner
Seele zu verbergen schienen. Sie waren zornig, obgleich nicht auf
ihn; aber vielleicht war ihm der Zorn der Toten auch bloß schon so
vertraut, dass er bereits unempfindlich geworden war gegen die von
diesem Zorn ausgehende Gefahr. Er neigte den Kopf, versuchte, auf
das zu lauschen, was hinter dem lärmenden Durcheinander lag.
Nun hatte Longinus ihn eingeholt, bedauerte dies
jedoch sogleich. »Gütige Götter, Valerius...« Der Thraker hatte
seine Schmerzen augenscheinlich völlig vergessen. Stattdessen griff
er nach dem Heft der Waffe, welche er an seiner Seite trug - eine
gute und solide römische Kavallerieklinge, nur dass gegen die
bereits Verstorbenen selbst diese keinerlei Macht mehr besaß.
Longinus musterte den Grabhügel sowie dessen Öffnung. »Der ist aber
ziemlich klein«, bemerkte er ermattet.
Obwohl ihm ganz und gar nicht danach war, lachte
Valerius plötzlich. »Die Toten brauchen nicht sonderlich viel
Platz.«
»Und auch kein Licht, wie mir scheint. Hast du
irgendwelches Zündmaterial mitgebracht?«
»Das habe ich.« Seit seiner Zeit in der Höhle des
Gottes Mithras trug Valerius stets die erforderlichen Utensilien
mit sich, um Licht machen zu können; etwas Zunder und eine Kerze
sowie ein kurzes Stück von einem etwas kräftigeren Zweig, den er
zuvor in eine Mischung aus Kiefernharz und Schafsfett getaucht
hatte und der somit länger und mit einer größeren Flamme brannte
als die Kerze. Diesen Zweig entzündete er nun und trug ihn - in
einem Akt des Vertrauens - in seiner Schwerthand vor sich her. »Ich
würde dich zwar auf keinen Fall dazu zwingen, aber ich denke, du
solltest mit reinkommen.«
»Das sehe ich genauso.« Longinus klang bereits ganz
heiser vor lauter Anspannung. »Wohin das Licht geht, dorthin gehe
auch ich. Lass es bloß nicht verlöschen.«
Longinus hatte Recht; der Grabhügel war
tatsächlich recht klein. Kriechend zwängte Valerius sich durch eine
Öffnung, die selbst für ein Kind schon knapp bemessen gewesen wäre,
und dann weiter durch einen Tunnel, der schließlich in eine Kammer
mündete, die noch wesentlich kleiner war als jene unterhalb des
Ahnentraumhügels auf Hibernia.
Zuckend tanzte das Licht seiner Kiefernharzflamme
über Fels und Knochen und getrockneten Torfboden. Er konnte die
Schatten derer spüren, die bereits vor ihm hier gewesen waren:
Cunomar, das verzogene Kind; Cygfa, jene Kriegerin, die die
Wiedergeburt Caradocs zu sein schien, nur in der Gestalt einer Frau
und damit noch Angst einflößender; und seinen, Valerius’, Vater,
nicht Luain mac Calma, sondern Eburovic, jenen meisterlichen
Waffenschmied der Eceni, in dem Valerius seine ganze Kindheit
hindurch seinen eigentlichen Vater gesehen hatte. Noch vor ihnen
allen aber und stärker, näher, so nah, dass er sie beinahe berühren
konnte, spürte er Breaca.
Doch sie war nicht hier. Sie konnte nicht hier
sein; der Platz in dem kleinen Grabhügel ließ das gar nicht zu.
Dennoch war sie hier gewesen und hatte einen Teil ihrer selbst
zurückgelassen. Valerius richtete den Blick über die tanzenden
Schatten hinaus in die Flamme und ließ ihn dann über all das
schweifen, was diese zu berühren schien: den Fels, die alten
Gebeine und die Hinterlassenschaften der Mäuse. Und dann, der
Anblick blendete ihn geradezu - wieso hatte er sie eigentlich nicht
von Anfang an gesehen? -, entdeckte er die fünf Klingen, die auf
den in den Fels gehauenen Simsen ruhten.
Der Druck in seinem Schädel war immens; weder in
dem Ahnenhügel in Irland noch in Mithras’ Höhle in den westlichen
Bergen hatte er so deutlich die Gegenwart der Toten gespürt oder
ihre nicht zu verleugnende Absicht zu töten. Sie waren auch die
Quelle dieses Zischens, des Zischens wie von einer Schlange, das
seinen Kopf erfüllte und mit dem sie ihm seine Seele stehlen
wollten, um ihn anschließend wie leer wieder in die Nacht
hinauszujagen, wo er schließlich sterben würde. In geradezu
einzigartiger Weise schien ihr Hass jedoch nicht auf Valerius
persönlich gerichtet zu sein; sie hassten ihn nicht für das, was er
war, oder das, was er einst gewesen war, sondern einfach nur dafür,
dass er nun hier war, dass er unaufgefordert hier eingedrungen
war.
Aber er war doch aufgefordert worden; Valerius
glaubte dies so fest, wie er glaubte, dass er Valerius hieß. Er
schloss die Augen und wanderte in Gedanken noch einmal den Pfad des
Mondes entlang, schritt auf den Stier zu, der den Mond zwischen
seinen Hörnern trug, und fand ihn. Dann trat er dicht an das Wesen
in der Höhle heran. Es schien ihm etwas weniger feindselig gesonnen
als die anderen Seelen in diesem Raum.
Langsam verwandelte die Welt sich in Eisen, das
geschmiedet und gehämmert und abermals geschmiedet wurde, und dann
in geschmolzene, dickflüssige Bronze, rot wie das Blut des Lebens
und gegossen in die Form einer Bärin, die ihre Jungen säugt, einer
Bärin, die sich auf die Hinterbeine aufrichtete und Valerius
anblickte. Das Tier sprach mit der Stimme Eburovics, der einen
ganzen Frühling damit verbracht hatte, diese eine Klinge
herzustellen.
Nimm sie, die Klinge meines Lebens. Hüte sie
und pass gut auf sie auf. Du wirst wissen, wie du sie zu verwenden
hast und wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist.
In all den Jahren, in denen die Toten Valerius
verfolgt und gepeinigt, in denen sie ihn zahllose Male mit ihrem
Spott verhöhnt hatten, hatte Eburovic seinen Sohn doch nie gehasst
oder ihm jemals Böses gewünscht. »Warum gerade jetzt?«, fragte
Valerius, erhielt jedoch keine Antwort.
»Wir sollten besser nicht hier sein«, meinte
Longinus leise. Seine Stimme verlor sich für Valerius in einem
Gefühl der Verheerung, welches die Toten ihm geradezu
entgegenspien.
Mein Sohn, heb die Bärin von dem Fels. Du
allein hast das Recht, sie zu besitzen.
»Aber du bist nicht mein Vater.« Das war die
Wahrheit. Wann eigentlich hatte Valerius dies endlich begriffen?
Irgendwann auf Mona, als zum wiederholten Male ein Träumer ihn mit
Luain, dem Stammesältesten, verwechselt und dies prompt bereut
hatte. »Luain mac Calma hat mich gezeugt.«
Dennoch, ich übergebe dir hiermit die von mir
geschmiedete Klinge, damit du sie an dich nimmst und sie bewahrst,
so lange, bis ich dich auffordere, sie an einen anderen
weiterzureichen.
»Aber was ist mit den anderen? Nicht alle
fünf Klingen hast du selbst geschmiedet.«
Nein, doch auch sie sind gute Klingen. Nimm
sie. Sie werden gebraucht werden in dem Krieg, der nun heraufzieht.
Viel zu wenige sind noch übrig von denen, die das Wohlwollen der
Toten in sich tragen.
»Valerius, wir sollten...« Longinus, obwohl
er lebte, schien weniger greifbar als die Toten.
Der Geist war nunmehr der Mittelpunkt der Erde,
allmächtig und allwissend, ganz so, wie Eburovic einst auch dem
Kind namens Bán erschienen war, welches heranwuchs, um zu Valerius
zu werden. Der Geist entbot Valerius jenen Gruß, den ein Krieger
dem anderen entbot, und dann den Gruß des Kriegers gegenüber dem
Träumer. Mit der linken Hand bildete er den Halbmond Nemains,
welcher zugleich die Hörner des Stieres darstellen könnte.
Bitte, bat der Geist Valerius aufrichtig. Ich erbitte
dies von dir als derjenige, der dein Vater war, in allem, nur nicht
dem Blute nach. Nicht nur dein Leben hängt davon ab.
Kein Geist hatte Valerius jemals um etwas gebeten.
Man hatte ihn bedroht, ihn niedergeschrien, hatte ihm den Tod
versprochen sowie, später und im Land jenseits des Lebens, die ewig
währende Rache jener anderen Seelen, die ihn verfolgten, doch noch
niemals zuvor hatte irgendeiner von ihnen Valerius um einen
Gefallen gebeten.
Die Neuartigkeit dieser Bitte sowie die damit
einhergehende, plötzliche Klarheit, als ob gleichsam mit dem
Sonnenaufgang auch ein Nebel sich endlich lichtete, versetzten
Valerius geradezu einen Schock; dieses eine Mal in seinem Leben
begriff er genau, was er zu tun hatte - und er hatte auch die Kraft
dazu, es zu tun.
»Longinus«, sagte er, »wenn du mir auch nur ein
bisschen vertraust, dann hilf mir jetzt, die Klingen
hinauszutragen. Such dir die aus, die dir am besten gefällt, außer
der einen hier, und behalte sie. Die anderen werden wir in unseren
Reisesäcken verstauen. Tu es jetzt und ohne nachzudenken. Oder,
wenn du unbedingt denken musst, dann denk an das Krähenpferd und
was für ein Gefühl es war, es zu reiten, aber denk nicht an die
Schatten, sie würden dich ins Verderben stürzen. Denk an das
Krähenpferd, denk daran, wie es sich anfühlt, wenn es ungezügelt
dahergaloppiert... Sehr gut, gut gemacht! Und jetzt folg mir wieder
nach draußen. Wenn du rennen kannst, werden wir rennen. Wenn nicht,
werden wir eben gehen. Solange wir nur vor Tagesanbruch wieder beim
Feuer ankommen, sind wir in Sicherheit.
»Ich kann rennen.« Longinus war direkt hinter ihm.
»Du würdest nicht glauben, wie schnell ich rennen kann.«