XXXVI

 
Die Tür zu ihrem Gefängnis blieb vorerst wider Erwarten geschlossen; sie ging weder am nächsten Morgen auf, noch am darauf folgenden Mittag. Sondern erst am späten Nachmittag.
Helles Tageslicht fiel in den dunklen, stickigen Raum und auf Airmid, Gunovar und Cygfa und ließ erkennen, in welchem Zustand sie die Nacht verbracht hatten: gefesselt auf dem harten Fußboden liegend, schlaflos und übersät mit schmerzhaften Prellungen. Außerdem wurden sie - ebenso wie Breaca - geradezu verzehrt von Hunger und Durst und dem verzweifelten Bedürfnis, zu urinieren, ohne sich dabei zu beschmutzen - was ein unter den gegenwärtigen Umständen wirklich belangloses Bedürfnis war und allein ihrem Stolz entsprang und sie höchstwahrscheinlich noch vor dem Ende des Tages überhaupt nicht mehr kümmern würde.
Sie leisteten einander mit Blicken Beistand und zogen es vor, nicht auf das Zittern zu achten, das bisher leider noch keineswegs nachgelassen hatte.
Die Gefangenen bekamen nichts zu essen, wurden jedoch gewaschen und erhielten die Möglichkeit, sich auf dem Misthaufen zu erleichtern und ihren Durst zu stillen, denn, so erklärte der Söldner, während er das Zeichen Nemains machte: »Ein Mensch kann erheblich länger ohne Nahrung aushalten, als man es je für möglich halten würde, aber halt deine Gefangenen knapp an Wasser, und sie sind im Handumdrehen tot.«
Das hatte er allerdings erst gesagt, nachdem Breaca getrunken hatte, sonst hätte sie das Trinken verweigert. Er hatte wissend gegrinst und dann den Rest des kostbaren Inhalts seines Wasserschlauchs in seine hohlen Handflächen gegossen, um sich das Gesicht damit zu waschen.
Draußen wurde schließlich ersichtlich, welchen Grund die Verzögerung hatte. Breaca stand auf dem freien Gelände in der Mitte der Siedlung und beobachtete, wie der untere Rand der Sonne sich allmählich der Horizontlinie näherte, während gleichzeitig zu ihrer Linken die Pfahllöcher für ein halbes Dutzend Kreuze ausgehoben, aber noch nicht gefüllt wurden. Ich musste erst noch jemanden nach Camulodunum schicken, um Holz für die Kreuze holen zu lassen.
Dafür waren bereits zwei Pfosten aus Eiche errichtet worden, gefertigt aus dem Holz, das die Männer des Prokurators beim Durchsuchen der Häuser aufgestöbert hatten. An den einen Pfosten waren Cunomar und Ardacos gefesselt, an den anderen drei der Bärinnenkrieger.
Graine aber war nicht da. Und das war das Einzige, was von Bedeutung war.
Breaca konnte sich die Szenerie nun anschauen oder aber den Blick abwenden. Sie konnte mit aller Kraft darum kämpfen, das Zittern zu unterdrücken, so dass sie nach außen hin so wirkte, als verspürte sie nicht die geringste Angst, oder aber auch jede Verstellung, jeden Versuch, die Gelassene und Unbeteiligte zu spielen, aufgeben und kreidebleich und mit weit aufgerissenen Augen einfach nur dastehen. Denn nichts von alledem wurde von ihren Bewachern registriert oder änderte auch nur das Geringste an ihrer Lage.
Der Prokurator trat aus einem Zelt, das auf der Nordseite der Siedlung errichtet worden war, und betrachtete Breaca und ihre Mitgefangenen voller Befriedigung. »Ich habe Nachricht aus Camulodunum bekommen, dass die Wagen mit dem benötigten Holz morgen bei Tagesanbruch von dort abfahren werden. Das bedeutet, dass sie am späten Vormittag hier eintreffen werden, was uns genügend Zeit verschafft, um die Bestandsaufnahme abzuschließen und all die anderen Vorbereitungen zu treffen. Da wäre in erster Linie das Problem mit den Töchtern des Königs, um das wir uns kümmern müssen; ferner müssen wir uns mit den Männern befassen, die in der Nacht Schwierigkeiten gemacht haben.«
Breaca hatte Cunomars Schrei gehört und war doch nicht in der Lage gewesen, ihm zu helfen. Dies war zwar nicht das schwerste Versäumnis auf der langen Liste ihrer Fehlschläge und Schwächen, aber auch bei weitem nicht das geringste. Die Spuren ihres Versagens fanden sich auf den Körpern und Gesichtern der Männer wieder, die bereits entkleidet worden waren, um sie auszupeitschen. Cunomars Gesicht war auf der einen Seite, wo ihm das Ohr abgeschnitten worden war, über und über mit Blut beschmiert. Ardacos’ Oberkörper war von oben bis unten mit Blutergüssen übersät, allerdings auch nicht schlimmer als nach einer Schlacht. Seine Augen waren geschwollen, die Haut blauschwarz verfärbt. Er starrte Breaca durch das eine, fast gänzlich zugeschwollene Auge an und versuchte offensichtlich, ihr etwas mitzuteilen. Doch sie schüttelte nur hilflos den Kopf. Ich kann dich nicht verstehen. Daraufhin schnitt er eine Grimasse und wandte sein Gesicht wieder dem Holzpfahl zu.
»Ihr werdet hiermit der Rebellion angeklagt, ferner des Mordes an den im Folgenden genannten Legionären...«
Dann war dies also der Strafprozess. Der Prokurator stand auf einem kleinen Podium, das aus zusammengenagelten Brettern bestand. Der geheime Vorrat an Roheisen, den die Söldner in der Schmiede neben dem Großen Versammlungshaus entdeckt hatten, war inzwischen hergebracht worden und lag nun gebündelt zu seinen Füßen. Daneben hatte man Breacas eigenes Schwert gelegt, zusammen mit Ardacos’ und Cygfas Klingen; um diese Waffen, die so überaus gut versteckt gewesen waren, zu finden, mussten die Söldner die Schmiede in Schutt und Asche gelegt haben.
Die Stimme des Prokurators verblasste mehr und mehr zu einem nichts sagenden Gemurmel und verschmolz mit den lauteren Geräuschen der Siedlung. Geistesabwesend beobachtete Breaca eine Krähe, schaute zu, wie diese einen losen Halm aus dem demolierten Reetdach jener Hütte zupfte, die sie einst gemeinsam mit Airmid bewohnt hatte, und damit zu der von einem Blitz getroffenen Eiche auf der unteren Pferdekoppel flog. Der Sonnenhund hatte seine auf Abwege geratenen Träumer damals erst ausgepeitscht und sie dann an Bäumen wie jener Eiche dort aufgehängt. Nur Rom musste erst einen Baum töten, um einen Menschen zu töten.
»...oder aber wir könnten deine Tochter fragen. Die jüngere. Wäre dir das lieber?«
Airmid lehnte sich gegen ihre Schulter, versuchte auf diese Weise, Breaca aus ihren Gedanken zu reißen und wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Der Mund des Prokurators bewegte sich unablässig, und allmählich drang seine Stimme wieder an Breacas Ohr. Einen Augenblick später begriff sie endlich, was er sagte.
»Sie fragen? Was denn?«, gab Breaca zurück. Wieder blickte sie sich suchend um. Graine war nicht da. Der schmerzende Raum in ihrem Inneren, in dem ihre Tochter hätte sein sollen, war leer und war auch nicht wieder gefüllt worden.
»Wo ist die Armee, für die dieses Eisen hier zu Waffen hätte geschmiedet werden sollen?«, wollte der Prokurator wissen. Er stellte seine Frage langsam, zog die Worte bewusst in die Länge.
Breaca blickte ihn an. Er war ein Schreiber, ein wichtigtuerischer Beamter; von Kriegsführung hatte er keine Ahnung. »Diese Armee existiert noch gar nicht«, antwortete sie. »Das Wetter hat es bisher nicht zugelassen.«
»Du lügst.«
»Nein. Denn wenn jede dieser Eisenstangen tatsächlich zu einer Waffe verarbeitet worden wäre und es zu jeder Waffe auch noch einen Krieger gäbe, der sie zu schwingen im Stande wäre, würden wir dann jetzt etwa hier stehen? Ihr habt drei Zenturien zur Verfügung. Wir dagegen hätten mühelos doppelt so viele Krieger bewaffnen können. Und wenn sie hier wären, hätten wir das auch getan. Aber es gibt keine Armee. Jene, die sich bereits versammelt hatten, werden sich inzwischen längst zerstreut haben; sie werden sich in den Norden zurückgezogen haben, wo sie in Sicherheit sind, oder wieder in ihre Siedlungen zurückgekehrt sein. Und wenn wir nicht mehr da sind, werden sie sich ohnehin nie wieder versammeln.«
»Ach, tatsächlich? Wer hätte sie denn angeführt?«
»Ich«, antwortete Cunomar, ehe Breaca sich dazu äußern konnte. »Ich war der Sohn des Königs und schloss mich für eine Weile den Bärinnenkriegern in den nördlichen Wäldern an, um so viel von ihnen zu lernen, dass ich dann später im Süden ein Kriegsheer aufstellen könnte.«
Der Prokurator ließ sich Zeit damit, seinen Blick von Breaca zu ihrem Sohn schweifen zu lassen. Und selbst dann ließ er ihn nicht auf Cunomar ruhen, sondern starrte gleich wieder an diesem vorbei auf Ardacos. »Und dieser Mann da, ist er dein leiblicher Vater?«
»Nein. Mein Vater lebt im Exil in Gallien.« Cunomar hatte die vergangene Nacht um einiges besser überstanden als die anderen; er trug den Kopf noch immer hoch erhoben, war noch immer voller Feuer und erfüllt von der Arroganz der Jugend oder vielleicht ja auch vom Geist der Bärin. Breaca konnte es nur hoffen, während sie stumm darum betete, dass Schmerz und Verzweiflung ihn nicht wieder in jenen Menschen zurückverwandelt hatten, der er früher einmal gewesen war.
Beschwörend blickte sie ihren Sohn an, ganz so, wie Airmid sie zuvor angesehen hatte, und versuchte, ihm in Gedanken eine Warnung zukommen zu lassen. Cunomar, Cunomar, verrate ihnen nichts, was sie noch zu weiteren Schlussfolgerungen führen könnte.
Cunomar sah jedoch nicht seine Mutter an, sondern den Kundschafter der Coritani, der inmitten der versammelten Söldner stand. Cunomars Blick war eine einzige Herausforderung. »Wenn Euer Gouverneur seinen Krieg im Westen endlich verloren hat«, erklärte er, »wird mein Vater aus dem Exil zurückkehren und die Krieger von Mona gen Osten führen, um Camulodunum zu erobern. Dann wird das Eisen, das meine Mutter gesammelt hat, zu Schwertern verarbeitet. Und diese Schwerter werden von all jenen geschwungen, die die Ehre und den Mut besitzen, damit zu kämpfen.«
»Deine Mutter hat die hier angefertigt?« Der Blick des Prokurators schweifte wieder zurück zu Breaca. »Du bist Schmiedin?«
»Ja.«
»Und du hast die hier geschmiedet. Natürlich, natürlich...« Der Prokurator trat mit dem Fuß nach einem Bündel Speerspitzen. Laut scheppernd fielen sie auf den Boden und rutschten aus der Umschnürung aus Rohleder heraus, mit der sie zusammengebunden gewesen waren. »Eine Frau vom Stamme der Eceni, die Speere schmiedet und diese vielleicht sogar auch noch schleudert.« Er trat auf Breaca zu, umfasste ihr Kinn und zwang sie auf diese Weise, ihn anzusehen. »Warst du es, die den Gouverneur mit ihren Hexen-Speeren tötete?«
Nein, das hat Airmid getan. Es ist der Träumer, der den Krieger ausmacht, nicht umgekehrt.
»Ja«, erklärte Breaca.
Der Prokurator betrachtete sie mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. »Du weißt, welche Strafe darauf steht, ein Träumer zu sein?«
»Es ist ziemlich genau die gleiche Strafe, glaube ich, die auch auf Aufruhr und Rebellion steht.«
»Nicht ganz. Der Rebell wird erst noch ausgepeitscht, bevor er gehängt wird, der Träumer häufig nicht. Du gibst in jedem Fall beides zu?«
Sie hatte diese Farce von einer Gerichtsverhandlung und das ganze Drum und Dran restlos satt. Im Grunde hätte sie ihm abermals ins Gesicht spucken sollen oder gegen den Einfall seines Volkes in ihr Land wettern. Stattdessen erwiderte sie müde: »Warum sollte ich es abstreiten? Ich bin ganz einfach das, was die Götter aus mir gemacht haben. Und es sind allein Eure Gesetze, nicht die ihren oder die meinen, nach denen ich irgendein Unrecht begangen haben soll.«
 
Sie peitschten Cunomar, Ardacos und die drei Bärinnenkrieger aus, die jeder einen Söldner getötet hatten. Und die Sache wurde gründlich gemacht, von Männern, welche während ihrer fünfundzwanzigjährigen Dienstzeit in den Legionen selbst bereits etliche Male ausgepeitscht worden waren. Es war nicht leicht zu ertragen, bei der brutalen Misshandlung zugegen zu sein, das Ganze miterleben zu müssen, aber auch nicht vollkommen unmöglich.
Wenn Breaca die Sonne betrachtete und der Krähe zuschaute, die trotz des Lärms weiterhin ungerührt Halme aus dem Reetdach zupfte und zu der Eiche hinübertrug, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf die Kolonne von Ameisen konzentrierte, die über den festgetretenen Erdboden der Siedlung krabbelten, wenn sie ihren Geist im Netz des Torques der Ahnen ruhen ließ, obgleich dieser schwieg, so als ob er auf etwas wartete - dann war es möglich, Zeuge des grauenvollen Geschehens zu sein, dann war es möglich, den Mut der Gefolterten anzuerkennen und nicht an die Schmerzen zu denken, die sie litten. Und doch waren diese nicht unbedingt schlimmer als jene Schmerzen, die auch eine schwere Kampfverletzung erzeugte, und alle Wunden, die sie jetzt bei der Auspeitschung davontrugen, würden später den Tod beschleunigen, was letztendlich nicht schlecht war.
Nach einer Weile wandte Breaca ihre Aufmerksamkeit Cygfa zu, die am ganzen Körper zitterte, und sie versuchte angestrengt, sich etwas einfallen zu lassen, womit sie ihr helfen könnte. »Vielleicht sind sie bewaffnet«, sagte sie leise. »Es müsste doch irgendwie möglich sein, sich eines ihrer Messer zu schnappen und es einwärts zu drehen.«
Mit erschreckender Gewissheit erwiderte Cygfa: »Sie werden mit Sicherheit nicht bewaffnet sein. Sie machen das hier schließlich nicht zum ersten Mal. Sie werden auf keinen Fall irgendein Risiko eingehen.«
»Es tut mir Leid.«
Daraufhin gab es nichts mehr zu sagen, und Breaca blieb nichts anderes übrig, als wieder auf den Boden zu starren, die Ameisen zu beobachten und sich abermals an die schweigende Ahnin zu wenden und sie zu fragen, warum jeder Teil ihrer Vision nun derart brutal und unwiederbringlich ausgelöscht wurde, wenn es doch einst so viel gegeben hatte, worauf sie hatten hoffen dürfen.
Schließlich endete die Auspeitschung der männlichen Gefangenen, denn jeder Spaß hat einmal ein Ende, und es sollte ja noch mehr kommen, etwas, das noch sehr viel unterhaltsamer und vergnüglicher zu werden versprach.
Und dann war es Breaca plötzlich unmöglich, noch länger die Ameisen zu beobachten, denn mit einem Mal erschien Graine; stumm, wie benommen und mit zitternden Beinen wurde sie aus der Kate hinausgestoßen, die früher einmal Airmid bewohnt hatte und wo die Krähen noch immer lose Halme aus dem Reetdach zupften.
Das Kind war gewaschen worden, man hatte ihm etwas zu essen gegeben, und es hatte das Essen wieder erbrochen, doch auch von diesem Schmutz hatte man es wieder gesäubert; jemand - möge Briga ihn verstümmeln und ihm ewige Qualen bescheren - hatte Braine das Haar gekämmt, ihr einen Kranz aus Eichenlaub auf den Kopf gesetzt und ihren Hals mit einem Reif aus dünnem Golddraht geschmückt, so dass ihre Schönheit wahrlich nicht mehr zu verkennen war - ebenso wie ihre Unberührtheit.
Sie war klein, allein, völlig verängstigt und außer Stande, noch länger an ihrer früheren Tapferkeit festzuhalten. Ihr Blick suchte den ihrer Mutter und fand doch keinerlei Trost darin. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, und schloss ihn wieder. Tränen strömten unaufhaltsam über ihre Wangen; sie hatte bereits die ganze Zeit über geweint und würde bis in alle Ewigkeit weinen, und es gab nichts, gar nichts, was Breaca hätte tun können, um ihrem Kind zu helfen.
In Gedanken sprach sie nur immer wieder stumm: Graine, es tut mir so Leid, so unendlich Leid, und hörte die Stimme ihrer Tochter, ernst und verzweifelt, antworten: Es ist alles meine Schuld, Dubornos war eingeschlafen...
Cygfa fluchte lästerlich, stieß einen langen, nicht enden wollenden Schwall von Verwünschungen aus und beschwor sämtliche Briga und Nemain innewohnenden dunklen Kräfte, ihr zu helfen und die Männer zu vernichten, die kamen, um nun sie zu holen. Doch die lachten nur, schlugen Cygfa und stopften ihr den Mund mit einem Lumpen. Cygfa brauchte ja nicht hübsch auszusehen.
Dann begann der Albtraum, und es war unmöglich, Zeuge des Geschehens zu sein und nicht den Verstand zu verlieren.
Zu Anfang musste Breaca sich prompt übergeben, krampfhaft würgte sie Galle und Speichel heraus, bis wirklich nichts mehr kam und ihr Magen sich anfühlte, als ob sein Innerstes nach außen gestülpt worden wäre. Niemand kam, um sie zu säubern. Airmid lehnte sich gegen Breacas Schulter, Gunovar ebenso, und gemeinsam hielten die beiden Frauen Breaca aufrecht.
»Schau nicht hin«, riet Airmid ihr, und Breaca schaute auch nicht mehr hin, aber es war unmöglich, die Ohren gegen das Grauen zu verschließen, unmöglich, nicht zu hören, wie Graine zerstört wurde, das bezaubernde, empfindsame Kind, dem ihr ganzes Herz gehörte, und wie das Gleiche mit Cygfa geschah, die doch die Wiedergeburt Caradocs in Frauengestalt war und daher umso verletzlicher, während die Wachen des Prokurators über sie herfielen und ein Mann nach dem anderen - zuerst bei Tageslicht und später im Schein des Feuers - absolut zweifelsfrei sicherstellte, dass keine der beiden mehr unberührt war und dass ihre Hinrichtung am folgenden Morgen somit keine Beleidigung der römischen Götter mehr darstellte oder gegen die Gesetze Roms verstieß.
Und das ganze unerträgliche Geschehen über blieb der Torques stumm und leer; selbst die Träumerin der Ahnen bot keinerlei Hilfe an, und Breaca konnte sie nicht erreichen, um sie um ihre Unterstützung anzuflehen, sonst hätte sie es gewiss getan, wenn auch nur für sich selbst. Denn Graine und Cygfa konnte ohnehin niemand mehr helfen. Es gab einfach nichts, kein Mittel der Welt, das im Stande wäre, den Schaden an Leib und Seele, den die beiden davontrugen, jemals wieder gutzumachen.
 
Cunomar lag zusammengekrümmt auf der Seite in dem mit Blut vermischten Schmutz, dort, wo die Söldner ihn zurückgelassen hatten. Der Raum, in dem er sich befand, war einmal sein eigener gewesen. Einst hatte er ihn mit Eneit geteilt, nun mit Ardacos und den drei Bärinnenkriegern.
Auch in der vergangenen Nacht waren sie bereits hier gefangen gehalten worden und hatten daraufhin in einer Ecke eine behelfsmäßige Latrine gescharrt und darin ihre Notdurft verrichtet, da sie nicht damit gerechnet hatten, jemals wieder hierher zurückzukehren. Jetzt vermischte sich der Gestank mit dem hämmernden Schmerz an der Seite seines Kopfes, wo einmal sein Ohr gesessen hatte, mit dem Stechen in seinem Rücken, von dem die Haut in Fetzen herabhing, und mit dem qualvollen Ziehen in seinen Armen und Schultern, wo die Muskeln und Sehnen vom langen Hängen an dem Pfahl überdehnt und gerissen waren.
Es war einfach unmöglich, eine auch nur halbwegs erträgliche Körperhaltung zu finden, bei der der Schmerz nicht wie ein Feuerstrahl durch seinen Körper schoss, und folglich war auch an Schlaf nicht zu denken. So lag Cunomar hellwach in der Dunkelheit und fühlte dabei Ardacos’ Schulter gegen seine Ferse drücken; eine feste, verlässliche Präsenz, die mehr Trost spendete, als Worte es vermocht hätten. Die drei Bärinnenkrieger lagen um ihn herum, krampfhaft darum bemüht, ruhig und gleichmäßig zu atmen, so wie auch er es versuchte. Denn das war das Einzige, was er nun noch tun konnte: an sich zu halten und nicht der Verzweiflung nachzugeben und in Tränen der Hilflosigkeit auszubrechen, während er in seinem Kopf nichts anderes hörte als das schon gar nicht mehr menschlich klingende Gewimmer Graines, die unentwegt schrie und dann auf einmal verstummte, was noch schlimmer war.
Obgleich er seine ganze Kindheit über eifersüchtig auf seine Schwester gewesen war, sie beneidet hatte um ihre Schönheit und Feinfühligkeit, um die tiefe Zuneigung von Breaca, um ihren Platz in Airmids Herzen und in Sorchas, um ihre ruhige, unbefangene Art, mit Stone umzugehen, und um ihre wachsende Macht, so hatte Cunomar ihr doch nie den Tod gewünscht. Nun aber tat er es, leidenschaftlich und inständig. Um ihretwillen. Als er dort frierend auf dem kalten Fußboden lag, mit tauben, gefühllosen Fingern, nachdem die Fesseln um seine Handgelenke ihm die Blutzufuhr abgeschnürt hatten, und gepeinigt von schier unerträglichen Schmerzen im Kopf, im Rücken und in den Armen, da betete er voller Inbrunst zu dem Geist der namenlosen Bärin, der in seinem Inneren wohnte, Graines Schweigen möge bedeuten, dass sie Erlösung im Tod gefunden hatte.
Später, als er noch stärker fror, sehnte er das Gleiche für sich selbst und für die anderen herbei.
Noch etwas später - mittlerweile zitterte er an allen Gliedern und war drauf und dran, in Tränen auszubrechen - erinnerte er sich wieder daran, was Ardacos gesagt hatte, ehe die Qual angefangen hatte: Denk an deine Kennzeichnung als Krieger der Bärin und was sie aus dir gemacht hat. Und dann noch einmal, im Anschluss an die Auspeitschung, als man sie zu der Hütte zurückgetragen hatte: Denk an die Kennzeichnung als Bärinnenkrieger. Die war weitaus schlimmer als das hier.
Vielleicht war die Prozedur tatsächlich noch schlimmer gewesen; Cunomar konnte sich allerdings nicht mehr so recht daran erinnern. Qualen, die vorbei und ausgestanden sind, vergisst man so leicht, und zurück bleibt höchstens das Triumphgefühl angesichts der Tatsache, dass man sie überlebt hat. Ganz sicherlich aber hatte sich die Kennzeichnung als Bärinnenkrieger erheblich länger hingezogen; das Auspeitschen hatte kaum einen Nachmittag gedauert, während sich sein Aufenthalt in der Bärenhöhle in der Obhut der Ältesten der Kaledonier über vier Tage erstreckt hatte, von der Abenddämmerung des ersten bis zur Abenddämmerung des vierten und letzten Tages; und jeder Augenblick dazwischen war mit schier unerträglichem Schmerz verbunden gewesen.
Cunomar glaubte, dass sie erhitzte Feuersteinklingen verwendet hatten, um die Narben auf seinen Schultern und seinem Rücken zu erzeugen, war sich aber nie ganz sicher gewesen. Dafür war es damals in der Höhle einfach zu dunkel gewesen und er selbst zu verloren, zu sehr von dem gefangen genommen, was mit ihm geschah, zu intensiv auf jeden einzelnen Atemzug konzentriert, als dass es ihn gekümmert hätte. Und danach war es ganz einfach ein Teil des Zaubers gewesen und wichtig, eben nicht zu wissen, wie die ganze Prozedur eigentlich vor sich gegangen war.
Atme. Tauche tief in jeden einzelnen Atemzug ein. Lass dich von ihm in den Kern deines Selbst tragen, dorthin, wo deine Kraft liegt.
Das war die Beschwörungsformel gewesen, die die Ältesten gesprochen hatten, wieder und wieder, und die Zeit hatte aufgehört zu existieren, so dass es so schien, als hätte er Tage, Monate, Jahre damit zugebracht, gegen die Empfindungen seines Körpers anzukämpfen, darum zu kämpfen, nicht laut zu schreien, darum zu kämpfen, sich nicht zu wehren, sondern still unter den scharfen, sengend heißen Messern zu liegen, die tief in sein Fleisch schnitten - bis die Worte der Ältesten endlich einen Sinn ergaben und er begonnen hatte, mit jedem Atemzug tatsächlich immer weiter und tiefer in sein Innerstes einzutauchen, bis hinab zu jenem Ort, wo er schließlich den Quell seines eigenen Durchhaltevermögens fand.
Und mehr noch: Im Inneren jenes Ortes hatte sich für ihn auch ein Tor zur Unendlichkeit aufgetan. Jenseits des Schmerzes existierten Wege, Wege, die zwischen den Sternen verliefen. Dort war Cunomar mit dem Geist des Bären gewandelt, den er im Wald getötet hatte, und mit dem des Bibers, der seine erste, im Auftrag der Ältesten erlegte Jagdbeute gewesen war; und jenseits dieser Wege wiederum war er der Phalanx von Göttern begegnet: Briga und Nemain, Camul, dem Kriegsgott der Trinovanter, und Belin, dem Sonnengott. Und jeder Einzelne von ihnen hatte Cunomar einen flüchtigen Eindruck, eine schwache Ahnung davon vermittelt, was es bedeutete, ein Träumer zu sein.
Als Cunomar sich im Anschluss an die Zeremonie, gebrandmarkt mit den Zeichen der Bärin, wieder vom Boden erhoben hatte, war er um zwei Geschenke reicher gewesen; das erste und am ehesten greifbare war das Wissen um die Stärke, die er im Innersten seines Wesens besaß. Kostbarer noch als dieses Bewusstsein seiner Kraft war jedoch das andere Geschenk, das Geschenk, das seine Seele hochhielt: die Erinnerung an jenen Spalt, der sich im Firmament aufgetan hatte und durch den er - ganz so wie ein Träumer - einen Blick auf eine mögliche Zukunft hatte erhaschen können.
Ich möchte ein noch ruhmreicherer Krieger sein als meine Mutter und mein Vater, ein Krieger, der das Format besitzt, den Feind in die Flucht zu schlagen und die endgültige Niederlage Roms herbeizuführen. Cunomar hatte seinem Herzenswunsch laut Ausdruck verliehen, und dann hatten die Ältesten der Kaledonier ihn wieder zu seinem Volk zurückgeschickt, voller Hoffnung und Erwartung. Als Cunomar nun in dem Schmutz, dem Blut und dem Schweiß seines eigenen Scheiterns lag, erkannte er plötzlich die Ironie darin und die Selbstüberhebung und die nachträgliche Abrechnung der Götter, und diese Erkenntnis traf ihn ebenso hart wie die Schläge mit der Peitsche, die ihm der römische Veteran den ganzen Nachmittag über versetzt hatte: Ein echter Träumer hätte gesehen, was auf ihn zukam, und wäre dem ausgewichen. Zumindest aber wüsste er, wie er den Spalt zwischen den Welten wiederfände, durch den seine Seele entfliehen könnte.
Dieser Ort blieb ihm noch immer als mögliche Zuflucht. Wenn er ihn nur erreichen könnte, vielleicht würde er dann ja nicht den Verstand verlieren, sondern einen Weg finden, um den Morgen zu überleben; aber um das zu tun, musste er zuerst einen Weg durch das Gewimmer und die gequälten Schreie Graines finden, die seinen Kopf füllten.
Cunomar rollte sich herum und legte sich auf den Bauch. Atme. Tauche tief in jeden einzelnen Atemzug ein. Lass dich von ihm hinabtragen in...
»Trink. Trink das hier und dann wach auf. Nun komm endlich! Trink und wach auf! So schlimm war es nun auch wieder nicht, und es war noch nichts gegen morgen...«
Die Stimme durchbrach die schützende Mauer, die Cunomar gerade um sich herum zu errichten versuchte, und sie wollte ihn einfach nicht in Ruhe lassen. Trotz seiner heftigen Proteste zerrte sie ihn wieder empor zu dem Kummer und dem Schmerz, die er doch gerade aus seinem Bewusstsein zu verdrängen versucht hatte, und zurück zu der Erinnerung an Graines Stimme. Etwas Kaltes tröpfelte auf seine Lippen und in seinen Rachen hinein, und am liebsten hätte er gewürgt und die Flüssigkeit wieder ausgespuckt, doch eine kühle Hand hielt ihm rasch den Mund zu, und ein Daumen strich an der Seite seines Halses entlang. Er ergab sich und schluckte und hustete heftig durch die Nase.
»Cunomar. Wach auf! Hör mir zu. Du musst endlich aufwachen...«
Irgendwie kam ihm die Stimme bekannt vor. »Eneit?« Aber nein, Eneit war ja tot; war von seiner, Cunomars, Mutter auf saubere Art ins Jenseits befördert worden. Cunomar hatte das damals durchaus verstanden, und trotzdem hatte er seine Mutter dafür gehasst. Jetzt hasste er die Arroganz des Menschen, der er damals gewesen war.
Dann also nicht Eneit. Eine plötzliche, eisige Gewissheit veranlasste ihn, schließlich doch die Augen zu öffnen, und es war keineswegs zu dunkel, um noch etwas erkennen zu können. Die Tür der Hütte war nur angelehnt, und durch den schmalen Spalt fiel Licht von einem Feuer herein, hell genug, um die Federn im Haar des Coritani-Kundschafters zu zeigen, der sich nun über ihn beugte, und die weißen Narben der Brandzeichen in Form des Feuersalamanders, die sich über dessen Arm hinaufschlängelten.
Cunomar hatte ganz vergessen, wie es war, aus tiefstem Herzen zu hassen. Jetzt plötzlich erinnerte er sich wieder. Sein Hass auf den Prokurator, der im Grunde ein schwacher Mann war und nie auch nur eine Spur von Ehrgefühl gekannt hatte, war ein geradezu kümmerliches Flämmchen im Vergleich zu dem tosenden Inferno, das er für den Verräter vom Stamme der Coritani empfand, der Graine, hilflos und mutterseelenallein, auf dem Karrenpfad außerhalb der Siedlung aufgelesen und sie lebend dem Prokurator ausgeliefert hatte.
Cunomar setzte sich mühsam hin und sagte: »Die Söldner haben ausgeplaudert, dass du meine Schwester zu ihnen zurückgebracht hast, damit sie ihre Gelüste an ihr stillen konnten. Dafür werde ich in den Ländern jenseits des Lebens auf dich warten, und ich werde dich bis in alle Ewigkeit verfolgen und dafür sorgen, dass du niemals Ruhe finden wirst.« Seine Stimme klang rau und erstickt. Er brauchte seinen Atem für andere Dinge. Er hustete und musste erst warten, bis die Schmerzen wieder etwas nachgelassen hatten, bevor er weitersprechen konnte.
Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas absolut Ehrloses getan. Und es tut mir aufrichtig Leid. Aber ich wusste ja nicht, dass die Männer … dass sie das tun würden, was sie mit ihr getan haben. Die Coritani wären unter Umständen vielleicht im Stande, ein Kind, das im Krieg gefangen genommen wurde, mit dem Speer zu durchbohren oder ihm die Kehle durchzuschneiden, doch es würde in jedem Fall sauber und schnell geschehen. Das hier jedoch... das würden sie ihm niemals antun.«
Cunomar machte sich gar nicht erst die Mühe, die Verachtung, die er für den Coritani empfand, zu verbergen. »Warum bist du hier?«
»Um dir genau das zu sagen. Um mich zu entschuldigen, damit du morgen in den Tod gehen und danach in Frieden zu den Ahnen heimkehren kannst und damit du nicht mit ewigem Hass im Herzen in den Ländern jenseits des Lebens auf mich wartest. Die Bodicea und ihr Sohn haben meinen Vater ermordet; das ist allgemein bekannt, und ihr habt es ja auch nicht abgestritten. Durch euer beider Tod wird er gerächt sein, aber ich schwöre dir bei der Seele meines Vaters, dass ich das, was mit dem Kind passiert ist, niemals gewollt habe.«
»Dann unternimm etwas, um sie zu befreien.«
»Ich kann nicht. Ich habe versucht, zu ihr zu gelangen, um ihr den Frieden des Todes zu schenken, aber die Männer des Prokurators bewachen sie zu scharf, und sie haben gemerkt, wie ich in dieser Sache empfinde. Sie trauen mir nicht länger und lassen mich noch nicht einmal mehr in die Nähe des Kindes; und das Gleiche gilt für die ältere Tochter des Königs. Es tut mir wirklich Leid. Ich habe es versucht, das schwöre ich bei meiner Ehre als einer, der das Brandzeichen der Echse trägt.«
Der Kundschafter machte Anstalten, sich zu erheben. Die Bärengöttin sprach ausnahmsweise einmal klar und unmissverständlich, und Cunomar packte das Handgelenk des Coritani, womit er sie beide gleichermaßen überraschte. »Dann gib dir mehr Mühe, lass dir was anderes einfallen! Finde Corvus, den Präfekten, der mich in Camulodunum begrüßt hatte. Er kann sie zwar nicht daran hindern, uns zu hängen, schließlich haben wir die Männer des Prokurators getötet und müssen dafür sterben, aber er mag Graine, er könnte sie retten. Er ist vor kurzem damit beauftragt worden, drei Kohorten in westlicher Richtung gen Mona zu führen. Sie können noch nicht sonderlich weit marschiert sein - wenn sie überhaupt schon aufgebrochen sind. Finde ihn, berichte ihm, was passiert ist. Bring ihn hierher!«
Es folgte ein Moment des Zögerns, eine plötzliche Veränderung der Muskelspannung in dem Arm, den Cunomar festhielt, und dann: »Vielleicht. Wenn es eine Möglichkeit gibt, wenn es sich irgendwie machen lässt, vielleicht.«
Der Kundschafter erhob sich. Er überlegte einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Den anderen Namen deiner Mutter habe ich ihnen nicht verraten, und ich werde ihn auch weiterhin für mich behalten.«
Sie dürfen auf keinen Fall wissen, dass sie die Bodicea ist. Das hatte Ardacos gesagt, ganz zu Anfang, und Cunomar hatte daraufhin erwidert: Der Coritani-Kundschafter weiß es. Man kann es nur zu deutlich an seiner Miene ablesen. Er wird es ihnen verraten.
Entgegen allen Erwartungen hatte er es doch nicht getan. Widerstrebend sagte Cunomar: »Danke«, und er meinte es auch tatsächlich so.
»Es wäre unehrenhaft gewesen, ihnen das zu sagen. Was sie tun, reicht bereits vollkommen aus.« In der Tür hielt der Kundschafter noch einmal kurz inne. »Deine Mutter ist ein Mensch von Ehre. Man merkt es ihr an, und aus diesem Grund fürchten die Männer Roms sie. Morgen früh werden sie mit ihr auf die gleiche Art und Weise verfahren, wie sie heute Nachmittag mit dir verfahren sind. Versuch aber nicht, sie davon abzuhalten. Denn es wird deiner Mutter das Sterben erleichtern.«
 
Morgen früh werden sie mit ihr auf die gleiche Art und Weise verfahren, wie sie mit dir verfahren sind. Versuch aber nicht, sie davon abzuhalten.
Cunomar hätte die Männer des Prokurators so oder so nicht davon abhalten können, und er würde auch nicht seinen Stolz darauf vergeuden, es zu versuchen - um seiner Mutter willen. Er würde nur zugegen sein, so wie sie auch bei seiner Auspeitschung zugegen gewesen war, und alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr Kraft zu spenden.
Dieser Gedanke rüttelte ihn bereits in aller Frühe wach, so dass er - als die Wachen zur Tür kamen und schwere Sklavenketten von den Wagen mitbrachten, um ihn und seine Gefährten zu fesseln - schon bereit war. Vergeblich hatte er in der Nacht, nachdem der Coritani-Späher wieder gegangen war, versucht, noch einen gewissen inneren Frieden zu finden, und er glaubte auch nicht, dass einer der anderen zur Ruhe gekommen war; dafür waren die Schmerzen einfach zu stark - die Schmerzen und die Angst vor dem, was der neue Tag bringen würde.
Blinzelnd und abgehärmt, auf der einen Seite an Ardacos gekettet, auf der anderen an die Bärinnenkrieger, schlurfte Cunomar hinaus in den Morgen.
Und blieb gleich darauf abrupt wieder stehen.
Die Wagen, die das aus Camulodunum angeforderte Holz hertransportieren sollten, waren inzwischen angekommen. Die Pfahllöcher, die die Söldner ausgehoben hatten, waren gefüllt.
Sechs Kreuze zogen sich in einer von Osten nach Westen verlaufenden Reihe quer durch die Siedlung - für die Familienangehörigen des früheren Königs und jene, die ihnen besonders nahe standen. Auf die Bärinnenkrieger wiederum wartete ein Galgen, reichlich mit Stricken behangen.
Cunomar konnte seine Angst noch so weit in Schach halten, dass ihm nicht übel wurde, aber einer der Bärinnenkrieger, der auf seiner Linken angekettet war, erbrach sich heftig; und gleich darauf hörte und roch Cunomar auch noch einen langen, flüssigen Furz, als ein anderer seiner Gefährten seinen Darminhalt plötzlich nicht mehr bei sich zu halten vermochte. Nur seiner Erfahrung in Rom hatte Cunomar es zu verdanken, dass er sich nun nicht auf ähnliche Weise blamierte. Dieselbe Erfahrung sagte ihm allerdings auch, dass er es irgendwann eben doch tun würde, dass ihn das dann aber in keinster Weise mehr kümmern würde.
Seine Mutter war da. Nachdem sein Blick zunächst auf die Kreuze gefallen war, sah er sie. Sie war an den Eichenpfosten in der Mitte der Siedlung gefesselt, an dem auch Cunomar am Tag zuvor festgekettet worden war; entehrt und geschändet und allein an dem Ort, an dem einmal die Verwirklichung ihres Traums hätte stattfinden sollen.
Und dennoch war sie noch immer die Bodicea; das besagte ihr Ausdruck, ihre Haltung, einfach alles an ihr. Wichtiger als alles andere war jetzt, dass der Prokurator nicht herausfand, wen er da eigentlich wirklich vor sich hatte, obwohl man sich nur schwer vorstellen konnte, wie er nicht dahinter kommen sollte, wenn es doch so klar und deutlich erkennbar von ihr ausstrahlte: von dem dichten, leuchtend kupferroten Strom ihres Haars, das die Männer des Prokurators ihr in einer Parodie auf den Kriegerknoten hoch oben auf dem Kopf zusammengebunden hatten, damit es nicht ihren Rücken verhüllte; von den Kampfnarben, die sich über jeden Teil ihres Körpers zogen; von dem Feuer in ihren Augen, gepaart mit dieser tiefen Ruhe, welche erkennen ließ, dass sie für die Männer, die sie gefangen hielten, lediglich Verachtung übrig hatte, und dass sie über ihnen stand und abseits des Geschehens.
Cunomar fühlte bei ihrem Anblick das gleiche schmerzhafte Ziehen in seinem Herzen, das er auch damals in Camulodunum empfunden hatte, als Eneit auf der Bühne erschienen war, bereit zum Sterben; und er wusste ohne jeden Zweifel, dass er seine Mutter liebte und stolz auf sie war und dass es doch zu spät war, um ihr all dies noch zu sagen. Er hätte ihr nur zu gerne all den Horror und das Grauen erspart, hätte alles das nur zu gerne auf sich genommen, damit sie davon verschont bliebe; doch er wusste nicht, wie er das anstellen sollte, wusste noch nicht einmal, wie er ihr helfen könnte, all das zu ertragen.
Das war ein ganz neuer Gedanke, und er erschreckte ihn nicht minder, als der Anblick der Kreuze es getan hatte. Breaca war nicht für die Bärengöttin bestimmt gewesen und folglich auch nicht gebrandmarkt worden; ihre drei langen Nächte der Einsamkeit waren sehr viel ruhiger verlaufen, und sie war im Anschluss daran unversehrt und ohne Narben wieder nach Hause zurückgekehrt. Trotz der vielen Schlachten, die sie bereits geschlagen hatte, trotz der vielen Zeit, die sie damit verbracht hatte, die Krieger anzuführen oder ganz allein in den Bergen Jagd auf Legionäre zu machen, war Cunomar doch nicht davon überzeugt, dass seine Mutter wusste, wie sie sich am besten schützen konnte, um angesichts dessen, was sie ihr nun antun würden, nicht den Verstand zu verlieren.
Atme! Er wollte es ihr laut zurufen und konnte es doch nicht, denn wenn sie glaubten, dass er ihr helfen wollte, würden sie ihn verletzen, und das würde es für sie nur noch schlimmer machen. Tauche auf deinem Atem hinab, lass dich von ihm nach innen tragen. Finde jenen Ort in deinem Innersten, der dir Zuflucht bietet, jenen Ort, der uneinnehmbar ist.
Sie musste etwas gehört haben, oder vielleicht hatte sie es gefühlt. Denn mit einem Mal hob sie die Stirn von dem Eichenpfosten, und ihr Blick ruhte auf Cunomar, und einen erstaunlichen, seligen Moment lang war er ihr Sohn, unversehrt und frei, und sie war die Bodicea, die sich für immer dem Sieg verschrieben hatte, und nichts konnte zwischen sie treten; sie liebte ihn, und er wusste es, und sie wiederum wusste, dass er sie liebte, und er konnte in die rastlose Liebe ihrer Seele eintauchen, darin ertrinken und einfach nur glücklich sein.
Eine der Wachen riss an den Ketten, mit denen seine Handgelenke gefesselt waren, und einem Pfeil gleich schoss der Schmerz durch Cunomars Körper, so dass er für einen Moment die Augen schließen musste, um sich auf den Beinen zu halten. Als er wieder klar sehen konnte, hatte seine Mutter ihren Blick von ihm abgewandt und sich wieder in die Betrachtung des Eichenpfahls vertieft, allein mit ihren Empfindungen und Gedanken. Gerade eben hatte der Prokurator sein Podium bestiegen.
»Dir wird zur Last gelegt, sowohl eine Träumerin als auch eine Aufrührerin zu sein. Streitest du ab, dass du beides bist?«
»Nein.« Breaca log, um Airmid zu schützen. Es war das einzige Geschenk, das sie ihr noch machen konnte, und sie würden dennoch zusammen sterben.
»Gut.« Der Prokurator nickte dem Anführer der Söldnergruppe zu, der hinter Breaca stand. »Fang an!«
Die Seherin der Kelten
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