XVIII
Weder in all den von Wunschträumen erfüllten
Jahren seiner Kindheit noch in den vielen weiteren, von den
Albträumen der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit geprägten
Jahren seines Erwachsenendaseins hatte Julius Valerius - einst Bán,
Bruder der Breaca vom Stamme der Eceni - sich jemals vorgestellt,
dass er seine drei langen Nächte der Einsamkeit tatsächlich einmal
in einer Traumkammer im Herzen eines aus Steinen errichteten
Grabhügels in den wilden, unwirtlichen Gegenden Hibernias
verbringen würde. Noch dazu in der Gesellschaft eines Jagdhundes,
dessen bloße Größe allein schon ausreichte, um ihm Angst
einzujagen. Und nie hätte er geglaubt, dass in dieser Zeit die
Angst vor seinem eigenen drohenden Versagen noch schwerer auf ihm
lasten würde, als die Angst vor dem Hund.
Der Hund war von Anfang an dort gewesen. Valerius
hatte das Tier unwissentlich gestreift, als er durch den finsteren
Tunnel in die Grabkammer hineingekrochen war, und da hatte es sich
knurrend erhoben und ihm seine Nase ins Gesicht gepresst - woran
Valerius erkannt hatte, dass der Hund mindestens ebenso groß war
wie Hail, wenn nicht sogar größer, und dass er ihm die Störung
äußerst übel nahm. Zu jenem Zeitpunkt hatte er allerdings noch
nicht gewusst, wie klein die Kammer tatsächlich war; er hatte nur
gemerkt, dass sich der Tunnel endlich erweitert hatte, so dass er
sich aus seiner unbequemen, auf Ellbogen und Knien ruhenden
Körperhaltung aufrichten konnte, wofür er zumindest schon einmal
dankbar war.
Als er dann auch noch die Fingerspitzen
ausstreckte, um nach den Steinwänden zu tasten, hatte er
festgestellt, dass er sowohl beide Wände berühren, als auch den
Kopf an die Decke der Kammer drücken konnte und trotzdem noch immer
nicht vollkommen aufrecht zu stehen vermochte. Somit war also der
Grabhügel, der von außen groß genug ausgesehen hatte, um gut und
gerne die Hälfte aller Ältestenratsmitglieder von Mona zu
beherbergen, im Inneren auf einen Raum beschränkt, der nur gerade
eben groß genug war, als dass ein Kampfhund und ein Mann sich
zugleich darin aufhalten konnten.
Der Hund hatte aber nicht gewollt, dass sie sich
dort gemeinsam aufhielten. Das anfänglich noch leise, warnende
Grollen des Tiers hatte sich zu einem lauten, unüberhörbar wütenden
und äußerst drohend anmutenden Knurren gesteigert, bis Valerius
sich schließlich auf den Erdboden setzte, den Rücken gegen die
Steinwand presste und die Knie bis zur Brust hochzog. Er war
Offizier in der Kavallerie des römischen Kaisers gewesen, hatte
ganze Armeen in den Krieg geführt und zahllose Dörfer in Schutt und
Asche gelegt, und nun ließ er sich hier doch tatsächlich von einem
Hund derart ins Bockshorn jagen, dass er sich auf den Boden kauerte
und sich so klein machte, wie er nur irgend konnte.
Die Situation war so absurd, dass er am liebsten
laut darüber gelacht hätte, aber er traute sich nicht, denn das
Tier war ihm einfach zu nahe. Stattdessen hatte er auf Eceni auf
den Hund eingesprochen, so als ob dieser Hail wäre, und da hatte
der Hund sich ein klein wenig beruhigt, war ein paar Mal im Kreis
herumgetappt und hatte sich schließlich an der gegenüberliegenden
Seite der Kammer ausgestreckt.
Auf eine bestimmte Art half die Anwesenheit des
Hundes, die in einer solch engen Grabkammer unweigerlich
aufkommende Klaustrophobie halbwegs in Schach zu halten. Die
Winzigkeit des Raums ließ Valerius vor Unbehagen verstummen,
während er gleichzeitig staunend darüber nachsann, mit welchen
Mitteln die Ahnen wohl diese Masse von Stein bewegt hatten, aus der
man gut und gerne die Außenmauer des Kaiserpalasts hätte erbauen
können, und sie zu einem perfekten bienenkorbförmigen Gebilde
geformt hatten, um die Heiligkeit und Unantastbarkeit der Kammer im
Herzen des Grabhügels zu schützen.
In Ermangelung irgendwelcher anderer
Ablenkungsmöglichkeiten erforschte der Mann, der früher einmal ein
Pionier der Legionen gewesen war, durch vorsichtiges Tasten mit der
Hand jenen Ort, der nur zu leicht zu seinem Sarg werden könnte und
zum letzten Gefäß seiner Seele. Quaderförmige Steine drückten gegen
Valerius’ Rücken, noch ebenso scharfkantig wie an jenem Tag vor
unerdenklich langer Zeit, an dem sie behauen worden waren. Die
Steine, die den Fußbodenbelag bildeten, waren so dicht miteinander
verfugt, dass Valerius noch nicht einmal einen Fingernagel in die
Ritzen schieben konnte. Nur eine flache Mulde im Boden - eine
abgewetzte Stelle, die sich genau dort befand, wo er jetzt saß -
zeugte von jenen hunderten, die in den Generationen, seit die Ahnen
der Ahnen einst diesen Grabhügel erbaut hatten, ebenfalls an genau
diesem Ort hier ihre drei langen Nächte in der Einsamkeit verbracht
und dabei exakt auf dem gleichen Platz gesessen hatten.
Vermutlich hatte ein jeder seiner Vorgänger
ziemlich genau gewusst, was das war, was die Götter und die Träumer
von ihm verlangten. Valerius dagegen saß in völliger Unkenntnis da,
erfüllt von der immer stärker werdenden Angst vor seiner eigenen
Angst und seinem eigenen Mangel an Wissen. Er hatte so etwas wie
eine Unterweisung erwartet und hatte doch keine bekommen, und jetzt
gab es für ihn auch keine Möglichkeit mehr, noch darum zu
bitten.
Mac Calma hatte ihn hier hineingeschickt, und es
war die Erinnerung an mac Calmas Stimme, die die stickige Luft
erfüllte. Wenn du geträumt hast, an welche Götter hast du dich
da gewandt, an deine oder an meine?
»Ich habe keine Götter.«
Valerius hatte dies zum ersten Mal auf den Koppeln
hinter der Träumerkate auf Mona gesagt. Nun sagte er es abermals,
mit leiser Stimme, diesmal jedoch an den Hund und die wartende
Dunkelheit gewandt, und er wusste nicht, ob die Stille, die ihm
entgegenschlug, ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes. Auf
jeden Fall glaubte er zumindest, dass seine Behauptung zutraf: In
Britannien hatte Mithras einmal in einer Höhle zu ihm gesprochen,
die Götter der Eceni dagegen hatten sich ihm in Rom durch ihr
Handeln offenbart; in den fünf Jahren jedoch, seit er zum ersten
Mal einen Fuß auf irischen Boden gesetzt hatte, hatte keiner von
ihnen mehr sein Leben berührt. Valerius hatte also auch keinen
Grund zu der Annahme, dass sie es ausgerechnet jetzt wieder tun
würden. Zwar hatte er den Augenblick, in dem seine Verbindung zu
den Göttern endgültig abgerissen war, nicht bewusst wahrgenommen,
aber er hatte ihn für einen guten, befreienden Moment gehalten: In
ihrer Abwesenheit war sein Leben nämlich entschieden ruhiger und
friedlicher. Er verspürte also nicht das Verlangen, sie
zurückkehren zu sehen - das Problem war nur, dass ohne das direkte
Eingreifen der Götter der Ritus der drei langen Nächte in der
Einsamkeit zum Scheitern verurteilt war und Valerius zu einem Ende,
das noch endgültiger und unwiderruflicher war als der Tod.
Mac Calma hatte ihn über die mit dieser Prüfung
verbundenen Gefahren und Risiken nicht im Unklaren gelassen: Du
musst wissen... jedes Scheitern bedeutet den Tod, und zwar nicht
nur deines Körpers, sondern auch deiner Seele, und dass selbst ich,
der ich der Älteste von Mona bin, dich nicht davor behüten
kann.
Doch Valerius wollte schließlich auch von niemandem
behütet werden. Das Leben war nun einmal eine riskante
Angelegenheit, und es gab keine Möglichkeit, sich gegen Gefahren
abzusichern. Wer etwas anderes glaubte, gab sich kindlichen
Illusionen hin, und Valerius hatte seine Kindheit schon vor langer
Zeit endgültig hinter sich gelassen - als er seinen alten Namen und
die Götter seiner Mutter aufgegeben hatte. Er hatte also nicht die
Absicht, sich dazu verleiten zu lassen, wieder bei irgendeinem von
ihnen Zuflucht zu suchen, ganz gleich, wie groß die Gefahr auch
sein mochte.
Jedes Kind kannte jemanden, der sich den
Männlichkeitsritualen unterzogen und die Bewährungsprobe nicht
bestanden hatte, aber niemals persönlich, sondern immer nur vom
Hörensagen. Das Gerücht verbreitete sich von Generation zu
Generation, gewürzt mit Details über die vielen möglichen Wege zum
Tod. Einige Prüflinge trafen eine unglückliche Wahl, was den Ort
anging, an dem sie ihre drei langen Nächte zu verbringen gedachten,
und wurden somit von Bären getötet oder vom Blitz erschlagen oder
kamen bei unvorhergesehenen Überschwemmungen zu Tode. Andere
stießen auf Traumschöpfer - lebende Krieger, die sie zum Kampf
herausforderten, um ihre Fähigkeiten zu testen, und das immer mit
dem Befehl zu töten, wenn der Junge, der in den Kreis der
erwachsenen Männer aufgenommen werden wollte, nicht bereits mit der
Schnelligkeit eines wahren Kriegers reagierte. Und wieder andere
Prüflinge wanderten ganz einfach in die Nacht hinaus und kehrten
niemals wieder zurück. Dann suchten die Träumer die Pfade der
Traumzeit nach ihren verlorenen Seelen ab. Es kam jedoch nur selten
vor, dass sie sie auch tatsächlich fanden. Zu spät fiel Valerius
nun ein, dass er seine Seele unter gar keinen Umständen verlieren
wollte.
Nachdem er sich nun wenigstens darüber schon einmal
klar geworden war, gab es für ihn nur noch eine einzige logische
Alternative, und diese bestand darin, sich der Dunkelheit und
allem, was sie barg, zu stellen; nur, das wollte er auch
nicht.
Er hatte lebenslange Übung darin, jene Dinge zu
ignorieren, die er ganz und gar nicht sehen wollte; auf diesem
Gebiet, wenn auch vielleicht auf keinem anderen, war er zweifellos
ein Experte. Allein mit einem schlafenden Hund und jeglicher
Illusionen beraubt, hockte Julius Valerius - einstmals
Stammesmitglied der Eceni, einstmals Offizier in den Armeen Roms,
Sohn zweier Träumer und Mörder vieler weiterer Träumer - nun mit
bis zur Brust hochgezogenen Knien da und beschloss, besser nicht
darüber nachzudenken, was es letztlich eigentlich bedeutete, seine
Seele zu verlieren.
Einige Zeit später streckte er gedankenlos seine
Beine aus und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen in einem
anderen Winkel ausgerichteten Stein in der Wand. Und prompt drangen
mac Calmas letzte Worte zu ihm.
Du wirst wissen, wann es an der Zeit ist. Ich
kann dir nicht helfen.
Die Stimme des Ältesten hatte distanziert
geklungen, selbst damals schon, ganz zu Anfang. Der Tunnel, der in
die Grabkammer führte, hatte gelockt, und Valerius war ihn
entlanggekrochen; er hatte es als Erleichterung empfunden, in die
Dunkelheit einzutauchen und so dem grellen Schein des Feuers und
mac Calmas erbarmungslos scharfer, durchdringender Musterung
entrinnen zu können.
Die neun langen Monate, die er in der Gesellschaft
des Ältesten verbracht hatte, hatte er diesen forschenden Blick
aushalten müssen, und er hatte ihn und die Fragen, die dieser Blick
stets ankündigte, zu fürchten gelernt. Naiverweise hatte Valerius,
als er das Angebot seines Geburtsrechts annahm, erwartet, nun in
den Gebräuchen und Methoden der Träumer geschult zu werden.
Stattdessen hatte Luain mac Calma ihn dazu gebracht, über seine
Vergangenheit zu sprechen. Während Bellos in Efnís’ Obhut blieb, in
der sich der körperliche Zustand des Jungen, wenn auch noch nicht
sein Sehvermögen, weiterhin besserte, war Valerius unter der
Führung Luain mac Calmas über die verschlungenen Pfade seiner
Vergangenheit zurückgewandert und hatte von Menschen und
Ereignissen erzählt, die er in den hintersten Winkel seines
Bewusstseins verbannt hatte. Neun Monate hindurch hatte er Nacht
für Nacht nochmals den trügerischen Frieden der Schmiedehütte in
Irland aufgesucht, war mit Caradoc durch Rom marschiert, hatte mit
Corvus in Camulodunum, in Germanien, in Gallien exerziert - hatte
ihn geliebt und war von ihm geliebt worden.
Der Liebe seines Erwachsenendaseins beraubt, war
Valerius noch weiter durch die Zeit geschritten und bis in seine
Kindheit zurückgewandert; er hatte Hail gepflegt und am Leben
erhalten, hatte bei der Geburt eines graubraunen Stutenfohlens
geholfen, war im Heimatland der Eceni auf dem Schlachtross seines
Vaters geritten und auf der rotbraunen thessalischen
Kavalleriestute, und hatte einmal, wunderbarerweise, Amminios, den
Bruder Caradocs, in einer Partie des Kriegertanzes besiegt, mit dem
Leben eines Sklavenjungen als Gewinn.
Wie fließendes Wasser hatten Luain mac Calmas
hartnäckige Fragen ihn ausgehöhlt, waren in die Risse in dem
Gebäude seiner Selbstbeherrschung eingedrungen, bis Valerius sich
in drei von vier Nächten beim Zubettgehen grimmig geschworen hatte,
dass er gehen würde, dass er alles stehen und liegen lassen und
allein nach Irland zurückkehren würde. Und jeden Morgen war er
wieder aufgewacht und hatte trotz allem weitergemacht, so wie sie
beide von Anfang an gewusst hatten, dass er weitermachen würde, so
wie Valerius auch jetzt weitermachte - hier, in der von dem Atem
eines Hundes erwärmten Dunkelheit, wo er ganz allein mit sich
selbst war, wo es niemanden gab, der ihm zusetzte oder der ihn in
seinen Armen hielt, wenn er weinte.
Nur mac Calmas Stimme stürmte durch die Dunkelheit
auf ihn ein, ein Echo jener Realität, die in diesem von Stein
umschlossenen Raum wieder zum Leben erwachte.
Ich biete dir dein Geburtsrecht an.
Es war das, wonach sich seine Seele im Grunde schon
sein ganzes Erwachsenenleben lang gesehnt hatte, und es hatte
keinen Zweck, dies abzustreiten.
Es war einzig und allein diese Verheißung gewesen,
die Valerius während der schrecklichen Überfahrt von Mona nach
Irland aufrechterhalten hatte und die ihn bewogen hatte, den Mund
zu halten, zumindest vorläufig, als sie gegen Mitte des Sommers die
Nachricht von dem langsamen und qualvollen Tod des Gouverneurs von
Britannien erreichte. Es ging das Gerücht um, die Träumer hätten
ihn getötet, um sich an ihm für den Tod eines Jungen zu rächen, so
wie sie seinerzeit auch schon den Amtsvorgänger des Gouverneurs,
Scapula, ermordet hatten.
Auf dieses Thema angesprochen, hatte mac Calma
jedoch nur gelächelt und abgewiegelt: »Das waren nicht wir. Scapula
wurde auf Airmids eindringliche Bitte hin von der Träumerin der
Ahnen getötet. Und den Gouverneur hat deine Schwester ganz allein
ins Jenseits befördert, mit etwas Hilfe von den Bärinnenkriegern
der Kaledonier und dank ihrer einzigartigen Verständigung mit den
Göttern natürlich.«
Seine Schwester, Breaca, deren Name nicht erwähnt
wurde und auch niemals erwähnt worden war.
Vor diesem Gedanken war Valerius’ Geist bislang
stets zurückgeschreckt, und mac Calma hatte ihn auch zu nichts
gezwungen, obgleich sich der Älteste noch niemals zuvor so offen
über die Wege der Götter und der Träumer geäußert hatte und über
die Art und Weise, auf die die einen zu den anderen sprechen
könnten. Ebenso hatte Valerius sich jedoch vor jenem rätselhaften
Satz gescheut, den mac Calma vorgebracht hatte, als Valerius
bereits dabei gewesen war, sich vor der Welt zu verschließen.
Du wirst wissen, wann es an der Zeit
ist.
Hier aber existierten Zeit und Raum gar nicht mehr,
dafür war es in der Traumkammer der Ahnen zu finster. Da keinerlei
Licht in den Grabhügel eindrang, hatte Valerius jedes Zeitgefühl
verloren. Und da er keinen Begriff mehr von der Zeit hatte, hatte
er sich schließlich verloren - eine verirrte Seele, die in ihrer
eigenen Gesellschaft gefangen war -, schier erdrückt von einer ihn
plötzlich wieder viel zu leibhaftig umschließenden Vergangenheit;
das alles hatten die neun Monate des Erzählens bewirkt.
Während er gegen eine wachsende Panik ankämpfte,
versuchte Valerius, Zuflucht in der Gegenwart zu suchen, und
erkannte zu spät, dass es dort nichts mehr gab, was ihm noch Halt
bieten könnte - nichts außer dem langsamen, beruhigend
gleichmäßigen Atem eines Hundes und dem unaufhörlichen Echo von mac
Calmas Stimme, die in Rätseln sprach, für die Valerius keine
Lösungen wusste.
Du wirst wissen, wann es an der Zeit
ist.
Zeit, um was zu tun?
Ich biete dir dein Geburtsrecht an.
Und ich akzeptiere das Angebot. Du musst mir nur
sagen, was ich tun muss.
Ich kann dir nicht helfen.
Wer sonst, wenn nicht du?
Hätte es irgendetwas genützt, dann hätte Valerius
jetzt geweint. Selbst in den von Verzweiflung erfüllten Tagträumen,
die ihn als Erwachsenen gepeinigt hatten, hatte er sich niemals
derart vollständig und auf ganzer Linie versagen sehen. Der Junge,
der Bán war, hatte von seinen drei langen Nächten in der Einsamkeit
geträumt, sicher und geborgen in der Obhut seiner Mutter, die ihn
nicht scheitern lassen würde. Jetzt aber war er drauf und dran zu
scheitern und konnte doch nicht das Geringste dagegen tun.
Du wirst es wissen.
Er wusste nichts, gar nichts und hatte auch keine
Möglichkeit, die Dinge, die er eigentlich wissen sollte, nun noch
in Erfahrung zu bringen. In seiner grenzenlosen Verzweiflung drehte
Valerius sich zur Seite, legte sich auf den Boden und krümmte sich
zusammen, bis sein Rücken sicher in dem Bogen geborgen war, den der
Hund mit seinem Körper beschrieb, und der schwere, warme Atem des
Tieres seinen Nacken schützte. Und als er so dalag, wie er in
seiner Kindheit oft dagelegen hatte - dicht an den tröstlich warmen
Körper eines Hundes geschmiegt -, schloss Julius Valerius die Augen
und suchte die Freiheit des Schlafes.
An welche Götter hast du dich gewandt?
»Ich habe keine Götter.«
Seine eigene Stimme weckte ihn, schien viel zu laut
in der Dunkelheit. Mac Calmas Frage schwebte vor Valerius’ Antwort
durch den Raum, so als ob sie erst kürzlich gestellt worden
wäre.
Die rachsüchtigen Götter lachten und ließen Bellos
erneut erblinden, töteten ein Fohlen, um sich selbst ein Blutopfer
darzubringen. Mithras ging über Feuer und Wasser, und das Blut
eines geschlachteten Stiers füllte die Grabkammer der Ahnen und
wurde mit der Flut wieder fortgeschwemmt.
»Du hast zu viele Götter. Du kannst sie nicht alle
behalten. Für welchen entscheidest du dich?«
Die Stimme war Valerius’ eigene, doch sie kam nicht
aus seinem Mund. Sie kam aus der trockenen Luft und dem noch
trockeneren Stein und klopfte an Valerius’ Knochen.
Ein halbes Dutzend Antworten drängten sich ihm auf
und rangen miteinander. Wenn er sich in Gesellschaft befunden hätte
- wenn es mac Calma oder Theophilus oder Corvus gewesen wäre, der
ihm eine solche Frage stellte -, dann hätte Valerius die Antwort
ausgewählt, mit der er sich den Fragesteller am besten vom Leibe
halten konnte. Da er aber ganz allein war, starrte er nur
schweigend in die Dunkelheit und wartete darauf, dass das Getöse,
welches ihm daraus entgegenschallte, wieder erstarb. Er hatte nicht
die Absicht, mit einem Verstand, der ohnehin bereits erschüttert
war und nicht mehr ganz fest in sich selbst ruhte, auch noch
Scherze zu treiben. Zu oft in seinem Leben war es ihm schon
passiert, dass er sich mit Geistern und Wachträumen hatte
herumquälen müssen, mit Hirngespinsten, die aus Schmerz und
Einsamkeit geboren worden waren. Er wünschte sich eine reale
Bewährungsprobe, eine, die mit wirklichen, greifbaren, von außen
kommenden Gefahren verbunden war, oder aber gar keine.
Als endlich Stille herrschte und Valerius sich
seiner selbst wieder sicher war, sagte er laut und deutlich: »Geh
weg!«
Die Dunkelheit verfiel in Schweigen. Die Zeit
verstrich, und sein Wunsch wurde ihm erfüllt: Die Luft sprach nicht
wieder zu ihm. Tonnenschwer wie ein Berg lastete das Schweigen auf
ihm.
Von einem Gefühl der Benommenheit erfasst, rollte
Valerius sich herum und setzte sich auf. Der Hund erhob sich mit
ihm, langsam und gemächlich. Sie hatten den Schlaf miteinander
geteilt, und nun empfand Valerius die Anwesenheit des Tiers und
dessen schiere Größe nicht mehr länger als Bedrohung. Dem Hund
stand es frei zu gehen, Valerius hingegen nicht. Dass der Hund es
trotzdem vorzog zu bleiben, war ein Geschenk und wurde von Valerius
auch als solches anerkannt. Dann stand das Tier auf, reckte und
streckte sich in der beengten Kammer, drehte sich herum, ließ sich
wieder neben Valerius nieder und legte ihm schließlich sein Kinn
auf den Schenkel. In genau der gleichen Haltung hatte auch Hail
immer neben ihm gelegen, damals, in den vergnügten, sorglosen Tagen
ihrer beider Jugend.
Dieser Hund hier war allerdings noch größer als
Hail, beinahe so groß, wie Hail ihm früher erschienen war, als er
selbst noch klein gewesen war und die verzerrten Maßstäbe der
Kindheit jeden Hund hatten riesig erscheinen lassen und Hail am
riesigsten von allen. Das Fell des Tiers fühlte sich ebenso lang
und rau an, wie Hails es gewesen war, und in der Dunkelheit stand
es Valerius frei, sich die weißen Sprenkel auf scheckigem Grau
vorzustellen, denen sein erster Hund, der beste und liebste aller
Hunde, seinen Namen - »Hagel« - verdankt hatte. Er vergrub sein
Gesicht in der wilden, zotteligen Krause am Hals des Tiers. Der aus
dem Fell aufsteigende Geruch überwältigte ihn regelrecht; es war
die nur allzu vertraute Mischung nach Hund und Holzrauch und
erlegtem Hasen, die unweigerlich Erinnerungen in ihm heraufbeschwor
- Erinnerungen an Lagerfeuer und Hasenjagden und Familie und Heimat
und all die anderen Dinge, die er verloren hatte.
Der Mann, der er früher gewesen war, wäre diesen
Erinnerungen eher ausgewichen, hätte sie sofort wieder in den
hintersten Winkel seines Bewusstseins zurückgedrängt, statt sie
zuzulassen. Der Mann, zu dem Valerius inzwischen geworden war -
Produkt der Dunkelheit, der Götter und der Unwissenheit -, begab
sich dagegen bereitwillig in den Sumpf seiner Vergangenheit und
flehte ihn geradezu an, die Stimme Luain mac Calmas zu
übertönen.
Es funktionierte für eine Weile, möglicherweise
sogar über Tage - Valerius hatte keine Möglichkeit, den Ablauf der
Zeit zu messen -, aber es konnte nicht bis in alle Ewigkeit so
bleiben. Luain mac Calma griff aus der jüngsten Vergangenheit nach
Valerius und vereitelte somit jede weitere Flucht in noch länger
zurückliegende Zeiten. Und seine Stimme klang jetzt fester denn je
zuvor, so als ob er direkt aus dem steinernen Fundament der Kammer
spräche.
Jedes Scheitern bedeutet den Tod, und zwar
nicht nur deines Körpers, sondern auch deiner Seele.
Scheitern.
Die Finsternis stank förmlich danach, und der
Geruch wollte sich auch nicht vertreiben lassen.
Konfrontiert mit der Tatsache, dass ihm keine
andere Wahl mehr blieb, schob Julius Valerius, der früher einmal
Bán von den Eceni gewesen war, den Kopf des Hundes von seinem
Schenkel, zog zum zweiten Mal die Knie bis zur Brust hoch und
begann nun endlich, gründlich darüber nachzudenken, was es für ihn
bedeuten könnte, seine Seele zu verlieren.
Die Prozedur war nicht angenehm oder würdevoll. Um
sich den Verlust seiner Seele vorzustellen, musste er sie zuerst
einmal entdecken, musste ihre Grenzen, ihre Konturen und Strukturen
erfassen und sich über die vielerlei Arten klar werden, auf die er
entgegen der wahren Bestimmung seiner Seele gelebt hatte. Er hatte
sich in seiner eigenen Unredlichkeit doch stets für redlich
gehalten, besessen von einer Integrität, die - auch wenn sie nach
den Maßstäben seiner Familie, seines Stammes und seiner Freunde
verzerrt war - sich dennoch selbst treu blieb. Jeder Schritt, den
er jemals unternommen hatte, jede seiner Handlungen war anhand der
oftmals zu scharfen Waffe seines eigenen Urteils überprüft worden.
Allein darauf hatte das Gefüge seines Lebens basiert.
Mit einer Ehrlichkeit, die jede geheime Empfindung
schonungslos entblößte, machte Valerius sich nun daran, erneut die
Richtigkeit all seines früheren Handelns zu prüfen. Erheblich
weiter, als Luain mac Calma von ihm verlangt hatte, ging er bis zu
den frühesten Erinnerungen seines Lebens zurück und wanderte von
dort aus durch die Monate und Jahre hindurch wieder vorwärts, um
für sich selbst und die abwesenden Götter peinlich genau jeden
Mangel an Integrität, jede Selbstlüge, jeden Augenblick
menschlicher Schwäche aufzulisten.
Wenn er eine Schätzung hätte vornehmen sollen, dann
hätte er gesagt, dass gut und gerne ein weiterer Tag und außerdem
noch ein Teil der Nacht verstrichen sein mochten, während er
langsam und methodisch die Fehler und Schwachstellen seines Lebens
analysierte. Der Hund verschwand zwischendurch, kehrte dann nach
einer Weile aber wieder zurück, wobei er nach frischem Blut roch
und - weniger stark - nach Urin. Er brachte kein Fleisch für
Valerius mit, doch es war ohnehin fraglich, ob Valerius zu jenem
Zeitpunkt überhaupt einen Bissen hätte essen können; dafür war er
zu sehr mit der Demontage seiner selbst beschäftigt.
Er rechnete damit, dass die Geister der Toten
wieder erscheinen würden, fauchend vor Wut und an seinem Verstand
saugend, bestrebt, seine geistige Gesundheit zu untergraben, um
sich an ihm zu rächen, so wie sie es auch damals getan hatten, als
ihr Tod erst kurze Zeit zurückgelegen hatte. Sie kamen jedoch
nicht, und ihr Fernbleiben löste seltsamerweise ein Gefühl der
Leere in Valerius aus; in dem Unbehagen, das ihr Zorn ihm
verursachte, hatte für ihn doch auch stets ein gewisser Trost
gelegen. Er bat nicht um die Hilfe der Götter, und da sie nicht
angerufen wurden, reagierten sie auch nicht. Er machte jeden
einzelnen Schritt allein, ohne Hilfe, und durch die Abwesenheit der
Götter erkannte Valerius schließlich widerwillig in allem, was
zuvor geschehen war, ihre Gegenwart. Ob es ihm nun gefiel oder
nicht - jeder Teil seines Lebens war innerhalb der schützenden Arme
der ungenannten Götter gestaltet worden.
Selbst jetzt. Selbst hier. Valerius durchlebte
seine allerletzte Erinnerung und kam dann schließlich in der
Gegenwart zur Ruhe, und er war nicht allein. Um ihn herum waren die
Götter seiner Vergangenheit versammelt: Briga und Mithras, Nemain
und Jupiter und Manannan, Herr der Meere und der Wellen, der
Valerius zwar stets krank werden ließ, ihn jedoch nie tötete. Die
winzige Grabkammer war geradezu übervoll von ihrer aller Gegenwart,
und sie alle beobachteten Valerius und warteten darauf, dass er
handelte. Auch der Hund spürte die Nähe der Götter; er winselte
leise und leckte mit seiner warmen Zunge über Valerius’ Handgelenk,
wie um sie beide zu beruhigen und ihnen Mut zu machen.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte Valerius
laut.
Die Götter gaben keine Antwort. Ihr Schweigen
zermürbte ihn. Und dennoch trieb ihr stummes Warten ihn letzten
Endes dazu, aktiv zu werden.
Stundenlang, tagelang versuchte Valerius es mit
jeder Methode des Träumens und Visionierens, die er sich jemals
ausgedacht hatte - und scheiterte doch jedes Mal kläglich. Er
beschwor Bilder in der Dunkelheit herauf, doch prompt lösten sie
sich wieder auf. Er versetzte sich in Geschichten hinein, die mac
Calma ihm einst erzählt hatte, doch ihre Helden wollten nicht
lebendig werden. Er nannte die tausend Geister seiner Toten beim
Namen, doch sie wanderten nur stumm und in schier endlos langen
Reihen an ihm vorbei, bis nichts außer der Erinnerung an ihre
Schatten zurückblieb. Er nahm sich jedes einzelne Teilchen seines
Lebens vor, um es gründlich in Augenschein zu nehmen und nochmals
zu überprüfen und dann wieder abzulegen, er suchte die Pfade und
Korridore seiner Seele ab, bis der Wind durch sie hindurchpfiff und
alle Gedanken und Empfindungen mit sich trug. Die Götter schauten
schweigend zu und warteten und halfen nicht.
Du bemühst dich zu sehr. Aus dem noch am
wenigsten gefährlichen Abschnitt von Valerius’ Vergangenheit
meldete Bellos sich zu Wort.
»Ich weiß«, entgegnete Valerius. »Ich weiß aber
nicht, was ich sonst machen soll.«
Der Hund kam und setzte sich vor ihn hin. In seiner
Erinnerung waren Hails Augen bernsteingelb gewesen. Er beschloss,
sich die Augen dieses Hundes hier in der gleichen Farbe
vorzustellen. Er nahm den großen Kopf des Tiers zwischen seine
beiden Hände und sprach: »Mein Freund, es tut mir Leid. Du hast den
falschen Mann vor Gefahren beschützt, die nicht von außen kommen.
Ich wünsche dir viel Glück bei den anderen, die nach mir hier
erscheinen werden.«
Er gab nicht etwa aus Selbstmitleid auf oder aus
Bitterkeit, sondern einzig und allein deshalb, weil er keine andere
Möglichkeit mehr sah, weil es nichts mehr gab, was er sonst noch
hätte tun können. Schließlich stemmte Valerius sich hoch und
richtete sich entgegen den Protesten seiner vom langen Sitzen
völlig verkrampften und verspannten Muskeln und Gelenke auf, bis er
mit dem Kopf gegen die Decke der Grabkammer stieß. Dann streckte er
beide Hände aus und legte seine Handflächen an die steinernen Wände
rechts und links von ihm. Der Hund drückte ihm seine Schnauze gegen
den Schenkel. Hätte er ein anderes Leben geführt, wäre es eine
Freude für ihn gewesen, mit einem solchen Tier an seiner Seite in
eine Schlacht zu reiten.
Valerius verneigte sich leicht vor der wartenden
Dunkelheit. »Ich habe es nicht geschafft. Ich bitte um Verzeihung.
Womöglich hätte ich ja stets versagt, ganz gleich, wann ich mich
der Prüfung unterzogen hätte. Ich danke euch dafür, dass ihr mich
so lange davor bewahrt habt, dies zu erkennen, so dass ich das
Leben führen konnte, das ich bis jetzt geführt habe. Trotz all
seiner Fehler, trotz der Toten und der Verluste und der
Seelenqualen, die ich gelitten habe, ist es doch ein so gutes und
erfülltes Leben gewesen, wie es mir überhaupt nur hätte beschieden
sein können, und dafür danke ich euch aus tiefstem Herzen.«
Er erwartete keine Antwort und bekam auch keine.
Vorsichtig tastete er sich an den Wänden der Kammer entlang und
gelangte so wieder zu dem Tunnel zurück, den einst die Ahnen erbaut
hatten. Als er hineingekrochen war, voller Hoffnung und Erwartung,
hatte er den Ort als eine Art Mutterleib empfunden, und er hatte
sich ausgemalt, wie er nach seinen drei langen Nächten wieder
daraus hervorkommen würde - als ein Wiedergeborener, der zum
zweiten Mal das Licht der Welt erblickte, ein Mann, der mit sich
und seinen Göttern im Einklang lebte und Erbe des Vermächtnisses
der Träumer von Mona war. Und allein um dieses Hochmuts willen
hatte er bereits verdient, was nun auf ihn zukam - was immer das
auch sein mochte. Als Valerius nun also an den spiralförmigen, in
Stein eingeritzten Zeichen der Ahnen vorbei Richtung Ausgang kroch,
versuchte er erneut, sich daran zu erinnern, wie diejenigen, die in
ihren drei langen Nächten versagt und vorzeitig aufgegeben hatten,
eigentlich zu Tode gekommen waren. Doch selbst das gelang ihm
nicht.
Als Valerius aus dem Inneren des Grabhügels
auftauchte, herrschte Nacht um ihn herum; es war eine mondlose
Nacht mit nur wenigen Sternen am Himmel, doch ihm erschien sie
hell.
Da er mit dem Tod rechnete oder zumindest schon
einmal mit den langsamen Anfängen des Sterbens, krabbelte er mit so
viel Würde, wie er unter diesen Umständen nur irgend aufbringen
konnte, über den als Schutzvorrichtung dienenden Stein am Eingang
des Tunnels hinweg. Auf dem Weg in den Hügel hinein hatte sich das
Licht von mac Calmas Feuer über die Zeichen auf der Oberfläche des
Felsblocks ergossen und die von den Ahnen eingemeißelten
Himmelskörper und Kreise plastisch hervortreten lassen. Jetzt
empfing Valerius keinerlei Licht, sondern nur ein milder Winterwind
und die silbrig schimmernden Grautöne einer Landschaft, die sich
selbst für schwarz hielt.
Der Hund folgte ihm nicht nach draußen. Valerius
dachte daran, ihn zu rufen, entschied sich dann aber doch dagegen;
das Tier war besser dran, wenn es blieb, wo es war, damit es nicht
auch noch in das verwickelt wurde, was nun auf ihn, Valerius,
zukam, was immer das auch sein mochte. Valerius legte seine Hände
trichterförmig an den Mund und schickte seine Stimme in die Nacht
hinaus, fort von dem Traumhügel.
»Hallo?«
Er kam sich albern vor, und das umso mehr, als
niemand auf sein Rufen reagierte. Er fror erbärmlich, und sein
leerer Magen krampfte sich vor Hunger schmerzhaft zusammen, aber es
kam niemand - keine Träumer, die schon auf ihn gewartet hatten,
keine Messer, keine Stricke, um ihn zu fesseln, während sie ihm bei
lebendigem Leibe die Haut von der Brust abzogen und den Bauch
aufschlitzten, damit sich die Krähen über seine Eingeweide
hermachen konnten. Der Kreis von mac Calmas Feuer war wieder mit
Grassoden bedeckt worden. Hätte Valerius nicht eine ganze Nacht
lang davor gesessen, um auf die Morgendämmerung zu warten und in
die Traumkammer hineingehen zu können, so hätte er die Stelle, an
der das Feuer gewesen war, nun nicht mehr wiedergefunden.
Die Götter und der Hund hatten ihn verlassen, doch
Valerius glaubte nicht, dass auch Luain mac Calma gehen würde,
bevor die Sache zu Ende war. Da er aber nicht wollte, dass der
Träumer ihn dabei beobachtete, wie er nach ihm suchte, setzte
Valerius sich auf den Felsblock am Eingang des Tunnels, um zu
warten. Nach der immensen mentalen Anspannung in der Grabkammer der
Ahnen empfand er es nun als eine willkommene Erleichterung, einfach
nur dazusitzen und an gar nichts zu denken.
Nach einer Weile, als noch immer keiner gekommen
war, um ihn zu töten, erinnerte er sich wieder an den Ort, wo das
Feuerholz gelagert wurde. Als er einen Hohlraum auf der trockenen
Südseite des Hügels durchsuchte, fand er Zunder und einen
Feuertopf, randvoll gefüllt mit alter, erkalteter Glutasche. Er war
Offizier der römischen Hilfskavallerie oder war es vielmehr
gewesen; er hatte also schon mit sehr viel bescheideneren
Hilfsmitteln Feuer gemacht und war schließlich dennoch von den
Flammen gewärmt worden.
Sein Instinkt trieb ihn fort von dem Hügel und in
Richtung eines breiten, mit alten Eichen bestandenen Landstreifens,
durch dessen Mitte sich ein Fluss schlängelte. Valerius hatte lange
Zeit ohne Wasser auskommen müssen. In der Traumkammer war es ihm
nicht weiter wichtig erschienen; jetzt jedoch, mit einem schier
endlosen Strom kalten, klaren Wassers vor Augen, verging Valerius
plötzlich fast vor Durst. Er legte sich der Länge nach auf die
Erde, tauchte sein Gesicht ins Wasser und trank für eine Weile, die
sich ebenso lange hinzuziehen schien wie die Zeit, die er im
Grabhügel der Ahnen verbracht hatte.
Die Kälte ernüchterte ihn und verlieh ihm
Entschlusskraft. Er legte das Feuerholz an einer Stelle aus, an der
der Fluss eine Schleife beschrieb, so dass der Platz auf drei
Seiten von Wasser umgeben war. Sein Feuer brannte mit kleinen
Flammen. In ihrem Licht legte Valerius sich erneut bäuchlings ans
Ufer, tauchte seine Hände ins Wasser und ließ seinen Speichel auf
die Wasseroberfläche tropfen, um Winterfische anzulocken. Es gab
nur wenige, doch er war mit einer Geduld ausgestattet, die all
jene, die einst seinem Kommando unterstanden hatten, in Erstaunen
versetzt hätte, denn unter ihnen war er wegen seiner Reizbarkeit
und Ungeduld berüchtigt gewesen. Im finstersten Teil der Nacht, in
jenen Stunden unmittelbar vor der Morgendämmerung, fing Valerius
eine kleine Forelle und briet sie über seinem Feuer. Allein der
Duft war schon göttlich und der Geschmack so köstlich, dass er
keine Worte dafür fand.
Nachdem er seine Mahlzeit verzehrt hatte, setzte er
sich neben das Feuer, um zu warten. Wenn er um seine Sicherheit
besorgt gewesen wäre, hätte er sich so hingesetzt, dass er den
schützenden Fluss im Rücken gehabt hätte. Seine Sicherheit war im
Moment jedoch die geringste seiner Sorgen, und folglich setzte er
sich mit dem Gesicht Richtung Osten, so dass er zu jener Stelle
blickte, wo gerade der spät aufgehende Mond am Horizont aufstieg
und er das Wasser vor sich und rechts und links von sich hatte,
während sein Rücken ungeschützt war und somit jedem preisgegeben,
der da kommen mochte.
Es schien fast nicht möglich, dass ihm noch jemals
wieder irgendeine Nacht dunkel vorkommen würde. Die Scheibe von
Nemains Mond leuchtete so hell und strahlend wie die Mittagssonne.
Unfähig, die Göttin direkt anzusehen, betrachtete Valerius
stattdessen ihr Spiegelbild und beobachtete, wie es über den Fluss
glitt. Die Gewässer waren Nemains Reich. Als Kind hatte Valerius
geglaubt, dass die unmittelbare Nähe zu Wasser gefährlich war, dass
sie Männer um den Verstand brachte und Frauen in den Wahnsinn
trieb. Jetzt begrüßte er die Ruhe und Gelassenheit, die das Wasser
ihm schenkte.
Der Fluss war geradezu lebendig; kleine Fische
stupsten mit ihren Mäulern gegen die Oberfläche, sanft gekräuselte
Wellen brachen sich an Steinen, rollten wieder zurück und verwoben
sich miteinander, der Mond zerbrach und verstreute Millionen von
glitzernden Scherben, so dass sich die gesamte Oberfläche des
Wassers in eine einzige schäumende, brodelnde Masse von Silber
verwandelte, die schließlich eine seltsame Anziehungskraft auf
Valerius ausübte. Als sich der Glanz vom einen Ufer bis zum anderen
erstreckte, stand Valerius auf, entledigte sich seiner Kleider,
ging die Böschung hinunter und watete in den Fluss hinein, um bis
zum Hals und noch tiefer in Wasser einzutauchen, das so eisig kalt
war, dass es brannte.
So wie die Traumkammer der Ahnen seinen Geist
gereinigt hatte, so reinigte Nemains Fluss nun seine Haut. Er legte
sich zurück, bis nur noch seine Nase über der Wasseroberfläche
aufragte und dann noch nicht einmal mehr sie. Sein Haar war länger,
als es je zuvor gewesen war, und wie ein Witwenschleier trieb es
hinter ihm in der Strömung, während es seinen Kopf trug und ihn
zugleich unter Wasser zog. Seine Haut gewöhnte sich an die Kälte,
empfand sie bald sogar als äußerst angenehm, so dass das Wasser und
die glatt geschliffenen Steine des Flussbettes ihn eher liebkosten,
als dass sie scheuerten. Er schwelgte regelrecht in diesem Gefühl -
er, der fünf Jahre lang Nacht für Nacht allein geschlafen hatte und
schon gar nicht mehr gewusst hatte, wie es war, zärtlich berührt zu
werden. Er breitete Arme und Beine gegen die Strömung aus, und
langsam verwandelte sich der Fluss in einen Geliebten, ergriff ihn
mit einer Leidenschaft, die ebenso groß war wie jede, die er für
Corvus oder Longinus empfunden hatte, oder wie seine unerfüllte,
uneingestandene Sehnsucht nach Caradoc.
Zuerst kämpfte Valerius noch dagegen an; denn der
Fluss gehörte Nemain nicht nur, er war Nemain, Tochter von
Briga, Hüterin allen Lebens, Schutzgöttin der Gebärenden,
Bewahrerin der Zyklen. Sein ganzes Leben lang hatte er sich diese
Göttin wie Airmid vorgestellt, so dass die beiden in seinen Träumen
häufig eins waren. Valerius hatte Airmid nie bewusst begehrt, er
konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie - oder irgendeine
andere Frau - jemals sinnliche Begierde in ihm wecken könnte, aber
der Fluss berührte ihn auf einer anderen Gefühlsebene als der
fleischlichsinnlichen, und sein Geist war zu erschöpft, um sich
gegen die Anziehungskraft einer Göttin zu wehren. So gab er sich
ihr schließlich voll und ganz hin und erinnerte sich nur daran,
wieder zu atmen, als ihm die Wasseroberfläche entgegenkam.
Später fragte er sich, warum er das eigentlich
getan hatte; zu ertrinken war keineswegs die schrecklichste Art zu
sterben. Zitternd zog Valerius sich auf das Ufer hinauf. Ihm war
kalt, und er fühlte sich erschöpft, ausgelaugt und innerlich leer
auf eine Weise, wie es der Traumhügel nicht zu bewirken vermocht
hatte. Er zog sich wieder an und schürte das Feuer, so dass die
Flammen hoch aufloderten; und nun empfand er sie auf einmal nicht
mehr als zu grell, um hineinzuschauen, ebenso wenig wie den
östlichen Horizont, wo sich der feurige, glühend rote Schein der
aufgehenden Sonne wie geschmolzenes Gold über die Erde
ergoss.
Im Westen tändelte noch immer der Mond herum, eine
blasse, gespensterhaft anmutende Sichel, die von dem stärkeren
Licht der Sonne überstrahlt wurde. Valerius wandte sich zu ihr um,
ließ sich auf dem Boden nieder und saß dann für eine Weile einfach
nur da, ohne an irgendetwas zu denken.
In der Vergangenheit hatten Geister ebenso wie
Götter mit Stimmen zu ihm gesprochen, die zu laut waren, als dass
er sie hätte ignorieren können. Hier, an den Ufern des Flusses, der
für alle Zeit der Tochter Brigas geweiht war, erfuhr Valerius zum
allerersten Mal, wie es war, das Flüstern einer Göttin zu hören,
wie es war, ein Wissen zu ahnen, das über Worte hinausging, als
Nemain kam, um ihn bis in sein tiefstes Inneres mit ihrer Gegenwart
zu erfüllen.
Sie sandte ihm keine Vision von künftigem Ruhm oder
verhieß ihm ein Leben frei von Schmerz und Kummer; doch hätte er
ohnehin nicht daran geglaubt, noch hätte er um das eine oder andere
gebeten. Stattdessen entdeckte er durch den langsamen Untergang des
Mondes in sich selbst die Gesamtheit aller Freude und allen Leides
und den Sitz seiner Seele als Ausgleich dazwischen. Es war ein
Geschenk, größer als jedes, das er jemals in seinem Leben bekommen
hatte, und es schien unmöglich, dass es ihm je wieder genommen
werden könnte.
Schließlich, als das Flüstern verstummte und nichts
anderes mehr zurückblieb als die hauchzarte Berührung des
Mondlichts und eine flüchtige Erinnerung an Wasser, erhob Valerius
sich, löschte sein Feuer, vergrub die Holzreste und die Asche und
bedeckte die Stelle mit Grassoden, so dass von seinem Aufenthalt am
Fluss keine Spur mehr zu erkennen war.
Er lag gerade auf den Knien und streute welke
Blätter auf die Schnittlinien der Grassoden, als von irgendwo
hinter seiner linken Schulter plötzlich Luain mac Calma fragte: »Wo
willst du hin?«
Es kam nicht unerwartet, nur später, als Valerius
eigentlich angenommen hatte. Noch immer kniend antwortete er: »Ich
hatte eigentlich vor, nach Mona zu gehen, um Bellos zu finden und
mit ihm über seine Zukunft als Blinder im Land der Sehenden zu
sprechen. Mit der richtigen Ausbildung, so glaube ich, könnte
vielleicht noch immer ein guter Heiler aus ihm werden. Und danach,
so habe ich mir überlegt, könnte ich, sobald die Schifffahrtswege
wieder frei sind, nach Britannien hinübersegeln. Mithras ist mir
dort einmal erschienen, in einer Höhle. Falls ich am Leben bleibe,
muss ich meinen Frieden mit ihm machen.«
»Wirst du denn am Leben bleiben?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Die Morgenluft war beißend scharf vor Kälte; die
ersten Spuren des Frosts zeigten sich in Form von Raureif auf den
Eichenblättern hinter mac Calma, wodurch sein Haar im Kontrast zu
der pelzig weißen Schicht noch schwärzer als sonst erschien. Sein
Gesicht schwebte gleichsam in der Mitte zwischen der Sonne und dem
Mond, wurde jedoch von keinem der beiden Himmelskörper richtig
erhellt. Zum ersten Mal seit neun Monaten trug er wieder das
Birkenrindenband der Träumer um die Stirn, und die Schneide des
Messers in seinem Gürtel hatte eine gebogene Spitze, so dass sich
die Klinge auch zum Abhäuten eignete.
Valerius war unbewaffnet; schon seit ihrer beider
Ankunft in Irland hatte er keine Waffe mehr getragen. Als er sich
nun aufrichtete, fühlte er sich also noch nackter und schutzloser
als in dem Augenblick, in dem er in den Fluss hineingewatet war. Er
spürte, wie ihn unter der rauen Tunika eine Gänsehaut überlief.
Nemain hatte ihm weder ein langes Leben versprochen, noch dass er
keinen Schmerz erleiden würde. Das kam ihm in diesem Moment wieder
mit jäher Deutlichkeit zum Bewusstsein.
Er ließ seine Zunge über den Rand seiner Zähne
gleiten. »Was ist denn nun die Strafe für einen Mann, der
seine drei langen Nächte in der Einsamkeit abbricht und
aufgibt?«
Mac Calma wog sein Messer in der flachen Hand. »Der
Tod natürlich. Diejenigen, die sich nicht selbst die Kehle
durchschneiden oder sich Nemains Fluten ausliefern, werden rasch
und ohne viel Federlesens von demjenigen getötet, der während der
gesamten Prüfung Wache hält. Für zusätzliche Vergeltungsmaßnahmen
besteht keine Notwendigkeit. Das Scheitern allein ist im Grunde
schon Strafe genug.«
»Allerdings.« Mac Calma war also doch die ganze
Zeit über zugegen gewesen. Valerius bereute es im Nachhinein, nicht
gründlicher nach ihm gesucht zu haben. »Ich habe aber kein eigenes
Messer, mit dem ich mir die Kehle durchschneiden könnte«, sagte
er.
»Ich weiß. Und der Fluss hat dich auch nicht
genommen, obwohl du dich der Göttin voll und ganz ausgeliefert
hattest. Was also sagt dir das?«
»Dass der Mann, der behauptet, mein Vater zu sein,
es vorzieht, zu beobachten und zuzuschauen, ohne sich bemerkbar zu
machen.« Valerius spuckte auf den Boden, so wie es die
Legionssoldaten taten, und zwar ziemlich geräuschvoll und mit jeder
Menge Schleim. »Wir sollten jetzt besser tun, was getan werden
muss. Ich glaube nicht, dass es noch irgendetwas zu sagen gibt, was
nicht schon in den vergangenen neun Monaten gesagt worden wäre.
Wenn du mir dein Messer gibst, werde ich es selbst tun, damit du
nicht mit meinem Blut besudelt wirst.«
»Wirst du dich in die Klinge stürzen, so wie es bei
den Römern üblich ist? Willst du denn so unbedingt sterben?«
»Ich will überhaupt nicht sterben. Ich glaube
nämlich, die Göttin hat mich gerade zu leben gelehrt, und ich würde
es begrüßen, wenn ich die Chance zu leben wahrnehmen könnte. Wenn
es aber so ist, dass ich keine andere Wahl habe, möchte ich lieber
sauber sterben, von eigener Hand, statt durch die falsche Fürsorge
eines anderen Mannes.«
»Valerius, du hast immer eine Wahl.«
Mac Calma war der Ratsälteste von Mona; er konnte
in einem einzigen Satz mehr zum Ausdruck bringen als andere an
einem ganzen Tag, und genau das tat er denn auch. Eine Göttin und
eine Welt warteten, während sich die vielen in seinen Worten
enthaltenen Bedeutungsschichten zu entfalten begannen.
Valerius saß auf dem Gras, an der Stelle, wo kurz
zuvor noch sein Feuer gebrannt hatte. Der letzte Rest der vom Boden
ausstrahlenden Wärme schützte seine Füße vor der eisigen Kälte. Er
blickte sich suchend nach dem Mond um; und fand die mehr und mehr
verblassende Sichel Nemains am westlichen Horizont. Ihre Gegenwart
wärmte seine Seele. Mithras hatte das nie getan, noch nicht einmal
in der Höhle.
Er runzelte die Stirn und starrte erst auf seine
Finger und dann auf das Gras. Eine ganze Reihe von Dingen wurde ihm
allmählich klar, während andere wiederum unverständlich blieben.
Nach einer Weile sagte er: »Breacas lange Nächte in der Einsamkeit
sind nicht so ausgegangen wie meine.«
Luain mac Calma legte seinen Umhang ab, faltete ihn
zusammen und ließ sich dann auf dem so entstandenen Polster nieder.
Auf seinen nackten Armen war eine Gänsehaut zu erkennen. Er stützte
das Kinn in die Hand und erklärte: »Deine Schwester war ja auch
noch ein Kind, das erst noch erfahren musste, was sie als
Erwachsene und Kriegerin werden könnte. Sie musste erst noch in den
Tiefen ihrer Seele die Realität von Leben und Tod erleben. Du
dagegen bist damals aufgrund der besonderen Umstände vor deiner
Zeit erwachsen geworden, und es gibt nichts mehr, was dich noch
irgendjemand - sei es nun Göttin oder Träumer - über das Leben und
das Sterben lehren könnte. Während andere ihre drei langen Nächte
absolvieren, um ihre Kindheit endgültig hinter sich zu lassen und
erwachsen zu werden, musstest du quasi wieder zurück in deine
Kindheit gehen, um umzulernen und dich neu zu orientieren - um das,
was du gewesen bist, aufzugeben und herauszufinden, was sonst noch
aus dir werden könnte. Hast du das getan?«
Das also war die knappe Rechtfertigung für ein sich
über neun Monate hinziehendes Verhör. Valerius dachte darüber nach,
was er war, was er früher gewesen war und was er vielleicht noch
werden könnte. Die Rettungsanker seiner Vergangenheit hatten sich
unter dem Einfluss der Traumkammer der Ahnen gelockert, und Nemain
hatte ihm die Gewissheit gegeben, dass sie bis zu seinem Tode und
noch darüber hinaus gegenwärtig sein würde. Nichts von alledem
stellte jedoch eine stabile Grundlage dar, auf der sich eine
handfeste Zukunft aufbauen ließ. Doch zunächst gab es da noch eine
spezielle Erinnerung, die ihm keine Ruhe ließ. »War der Hund
eigentlich real? Der, der in der Dunkelheit bei mir war?«
»Kam er dir denn real vor?«
»Zu jener Zeit schon.« Die Erinnerung an eine warme
Zunge auf seinem Handgelenk war noch ebenso wirklich oder auch
unwirklich, wie sie es in der Traumkammer gewesen war. »Ist der
Hund dann also mein Traum, so wie der Hase Airmids Traum ist?«,
wollte Valerius wissen. »Die ältere Großmutter nannte mich früher
oft Pferdeträumer.«
»Und Hasenjäger, wie ich mich noch gut erinnere.
Was dich aber nie davon abgehalten hat, auch Hirsche oder
Wildschweine zu jagen.«
»Oder Menschen. In der Tat. Ich wusste ja nicht,
dass man wählen kann.«
»Das können auch nur wenige. Du bist einer dieser
wenigen.«
»Danke.«
Mehr noch als jede Vision wünschte Valerius sich,
dass der Hund real war, dass er ihn dazu bringen könnte, aus der
Grabkammer herauszukommen und neben ihm herzulaufen, ihn auf der
Jagd zu begleiten und mit seinem Pferd um die Wette zu rennen, um
auf diese Weise alles das, was er verloren hatte, wieder lebendig
werden zu lassen. Die Enttäuschung führte ihn schnurstracks wieder
zum Ausgangspunkt seines gesamten Lebens zurück, zu dem Gefühl
allererster Hoffnung und dem Schmerz allerersten Verlusts.
Ich biete dir dein Geburtsrecht an.
Wie ein Kind, das nach dem Hasen verlangt, der auf
dem Mond lebt, sagte Valerius: »Du hast mich gefragt, ob ich
herausgefunden hätte, was ich vielleicht noch werden könnte. Es gab
einmal eine Zeit, da wünschte ich mir nichts sehnlicher, als
Krieger zu werden, aber das bin ich ja nun viele Jahre lang
gewesen, und ich war doch niemals voll und ganz mit dem Herzen
dabei. Wenn ich jetzt noch einmal von neuem wählen könnte, dann
würde ich gerne Träumer werden. Habe ich diese Wahl?«
»Was?« Mac Calma stieß ein kurzes, bellendes Lachen
aus. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, so dass sein
sorgfältig um die Stirn geschlungenes Birkenrindenband verrutschte,
dann zog er es wieder zurecht und kniff sich in die Nase.
Nach einer Weile sagte er, mittlerweile schon ein
wenig verzweifelt: »Du bist ein Träumer, seit du sieben Jahre alt
warst. Allein durch deine Vision hast du Hail wieder zum Leben
erweckt. Allein durch die Kraft deines Verlangens hast du die
rotbraune thessalische Stute über einen sturmgepeitschten Ozean
herbeigerufen. Du hast damals Amminios erblickt und in einem
Wachtraum die genaue Art seines späteren Verrats benannt, und das
lange bevor irgendeiner von uns etwas anderes in ihm sah als den
Sohn eines Kriegers. Weißt du denn wirklich nicht, was du
bist?«
Der Hase auf dem Mond kam näher, wollte sich aber
nicht einfangen lassen. Zu verwirrt und verblüfft, um einen klaren
Gedanken fassen zu können, entgegnete Valerius: »Aber ich weiß doch
überhaupt nicht, wie ich das mache. Ich weiß auch nicht, wie
du das machst.«
»Aber du möchtest es lernen?«
Nun weinte Valerius, doch es kümmerte ihn nicht.
Nemain hielt ihn und schenkte ihm neue Kraft und Zuversicht. »Bei
allen Göttern, ja! Ja, das möchte ich, koste es, was es wolle! Vor
allen anderen Dingen möchte ich lernen, so zu sein wie du.«
Mac Calma lächelte und wirkte plötzlich um zehn
Jahre jünger. Er erhob sich und legte sich seinen Umhang wieder um
die Schultern. »Gut. Sehr gut. In diesem Fall, denke ich, kann ich
dich unterrichten. Vorher solltest du aber noch deinen Frieden mit
Bellos und Mithras machen, so wie du es ja ohnehin bereits geplant
hattest. Ich werde so lange auf Mona auf dich warten.« Er wandte
sich dem Fluss zu, drehte sich dann aber noch einmal kurz zu
Valerius um.
»Ich glaube, wenn du dich darauf konzentrierst, den
Hund aus der Grabkammer zu rufen, dann wirst du womöglich
feststellen, dass er kommt.«