XX

 
Auf dem Frühjahrspferdemarkt herrschte ein Gedränge wie auf einem Schlachtfeld, und es ging mindestens ebenso laut dabei zu. Der umliegende Wald bildete eine Art ringförmige Mauer, die sämtliche Geräusche wieder nach innen zurückwarf; einzig die breite Schneise des Karrenpfades, der im Südosten verlief, durchbrach den Kreis von Bäumen.
Innerhalb des Waldgürtels lag ein zweiter Ring aus gesammeltem Feuerholz, und dieser wiederum umschloss einen dritten, aus den Zelten und den über Stangen drapierten Fellen und Häuten der Händler bestehenden Kreis, der sich in der Morgendämmerung wie ein Flickenteppich ausnahm. Auch die Zelte und Häute warfen das Gebrüll der Marktleute wie ein Echo zurück und empor, bis die Krähen Anstoß daran nahmen und unter entrüstetem Krächzen den Wald verließen, und selbst die Rotkehlchen, die sich gern an den Feuern niedergelassen hätten, um ein paar Brotkrumen zu ergattern, die Flucht ergriffen.
Im Inneren dieser drei Ringe hatte sich eine unübersehbar große Schar von Händlern versammelt; sie mussten zu hunderten und aberhunderten gekommen sein, wenn auch vielleicht nicht mehr zu den tausenden, die in früheren Zeiten Jahr für Jahr hierher gefunden hatten und für die der Platz ursprünglich angelegt worden war. Die Eceni waren einzeln oder paarweise von jeder der über die Territorien verstreuten Siedlungen angereist, um die Arbeitserzeugnisse eines Winters zu verkaufen; die Gallier und Bataver, die Iberer, Mauretanier, Latiner und Römer waren mit ihren gemieteten Karren und Lastwagen von den an dem großen Fluss im Süden gelegenen Seehäfen heraufgekommen, und sie hatten nur ein einziges Ziel vor Augen, nämlich ihre über den Ozean verschifften Waren so teuer zu verkaufen, wie sie nur irgend konnten - oder genauer gesagt: möglichst wenig von ihrer Ware herzugeben und möglichst viel dafür in Tausch zu nehmen.
Darüber waren sie sich alle einig, das war eine ausgemachte Sache zwischen ihnen und verlieh dem Feilschen und Handeln erst den rechten Reiz. Und immer verbrachten sie den ersten Tag des Marktes damit, sich unmögliche Ziele zu setzen, und während der nächsten beiden Tage passten sie ihre Vorstellungen dann Schritt für Schritt den tatsächlichen Gegebenheiten an, bis sie sich schließlich Preisgeboten näherten, die die Kunden möglicherweise gelten lassen würden.
Der Ort, an dem der Pferdemarkt stattfand, lag weniger als einen halben Tagesritt von Tagos’ Siedlung entfernt, aber Breaca war dennoch erst ziemlich spät eingetroffen, als fast alle Standplätze bereits vergeben gewesen waren. Während sie ihre Packpferde am Zügel durch das Getümmel führte, machte sie zweimal die Runde um die weite, offene Lichtung, bis sie endlich eine freie Stelle fand, die sich für ihre Zwecke eignete. Dort breitete sie die rotbraune Decke aus Pferdeleder aus, auf der ihre Metallarbeiten besonders vorteilhaft zur Geltung kamen, und machte sich dann daran, jene Waren auszupacken, die sie den Winter über produziert hatte.
»Hast du schon die Sklavenhändler entdeckt? Die, von denen Theophilus dir erzählt hat?«
Es war Graine, die ihr diese Frage stellte, während sie sich auf das feuchte Gras hinter der Pferdedecke niederließ. Sie pflückte gerade Gänseblümchen und Butterblumen, um ein Halsband für Stone daraus zu flechten, der dicht neben ihr lag. In Anbetracht der Tatsache, dass Cunomar verschwunden war, hatte Breaca den Hund im Laufe des Winters noch intensiver und gezielter abgerichtet, so dass er mehr denn je zuvor Graines Beschützer geworden war. Ihre Tochter war in letzter Zeit ein ganzes Stück gewachsen, hatte jetzt mehr von einer jungen Frau an sich als von einem frühreifen Kind, aber noch immer reichte ihr der Hund fast bis zur Schulter, so dass sie den Arm um ihn legen und sich an seinen breiten Rücken anlehnen konnte. In genau dieser Haltung waren sie auch zusammen durch das Marktgetümmel geschlendert und hatten sich zwischen den Zelten und Verkaufsständen umgeschaut.
Es war interessant gewesen, die beiden zu beobachten: Stone war beigebracht worden, dass jeder, der von Graine nicht als Freund vorgestellt wurde, ein potenzieller Feind war, und von denen gab es auf dem Markt jede Menge. Ganz gleich, wie fremdländisch die versammelten Händler auch sein mochten, ganz gleich, wie sonderbar ihre Sprache oder Kleidung, jeder Mann und jede Frau unter ihnen erkannte einen scharfen, auf den Mann dressierten Hund auf den ersten Blick. Und so war Graine - während überall um sie herum das Chaos herrschte und Verkaufsstände aufgebaut wurden und die ersten leidenschaftlichen Verhandlungen begannen - vollkommen unbehelligt und von einem Ring der Leere umgeben durch das Getümmel geschritten, und Trauben von eifrig feilschenden Erwachsenen hatten sich bei ihrem Herannahen schlagartig geteilt, um eine Gasse zu bilden, und sich erst dann wieder geschlossen, nachdem sie und der Hund vorbeigegangen waren.
Graine war schnurstracks zum Stand ihrer Mutter marschiert, was zwar rührend war, aber nicht unbedingt förderlich fürs Geschäft; Breaca wollte nicht, dass die Händler und Marktbesucher ihr Angebot an Speerspitzen und Messern mieden und einen großen Bogen um ihren Stand machten - aber Stone bot nun einmal selbst im Schmucke seines königlichen Halsreifs aus Gänseblümchen und Butterblumen noch immer einen derart Respekt einflößenden Anblick, dass er niemanden zum Nähertreten verlockte.
Breaca setzte sich ins Gras und kraulte den Hund im Nacken. Zu Graine sagte sie: »Ich glaube, die Männer, die hinter dir um das Feuer herumsitzen, sind die Sklavenhändler - und das ist auch der Grund, weshalb ich mich genau hier niedergelassen habe. Es wäre also vielleicht ganz gut, wenn du bei Ardacos bleiben würdest. Er ist für die Bratgruben zuständig. Du könntest ihm dort ein bisschen zur Hand gehen.«
Graine blickte stirnrunzelnd auf den gespaltenen Stängel eines Gänseblümchens. »Oder könnte ich nicht auch Stone bei Ardacos lassen und dann wieder zu dir zurückkommen?« Sie legte den Kopf schief, ähnlich einer Drossel, die eine Schnecke im Gras entdeckt hat, während sie ihre Mutter auf eine Art ansah, die diese zu deuten gelernt hatte.
»Gibt es einen speziellen Grund dafür, weshalb du hier bei mir sein solltest? Hast du vielleicht etwas geträumt, von dem ich wissen müsste?«
»Nein, ich möchte nur gerne sehen, wie du mit den Leuten handelst und deine Waren an den Mann bringst. Du hast all diese Dinge von Eburovic und Macha gelernt, als du in meinem Alter warst. Eines Tages, wenn wir das Land von den Römern gesäubert haben, werde auch ich das alles wissen müssen.«
»Und ich habe es dir nie beigebracht! Es tut mir Leid. Manchmal vergesse ich einfach, was es bedeutet, Mutter zu sein.« Breaca legte sieben Häutemesser in einer Reihe auf ihrer Decke aus. Die Sonne drang durch den Morgennebel, und das erste wässrige Licht verwandelte das Metall in Spiegel, so dass Breaca sich gleich sieben Mal hintereinander sah - zu ernst, zu fürsorglich, zu sehr darum bemüht, die Dinge recht zu machen. Ihr Vater war auch alles das gewesen, aber auf eine behutsame, zurückhaltende Art, so dass das Kind, aus dem einmal die Bodicea werden sollte, genügend Raum gehabt hatte, um zu wachsen und sich zu entwickeln.
Breaca drehte ein wenig den Kopf und fuhr fort: »Stone sollte besser bei einem von uns bleiben, sonst jault er nachher wieder vor Kummer. Setz dich hinter die Decke dort und behalte ihn in deiner Nähe. Wenn du mich etwas tun siehst, was du nicht verstehst, frag mich anschließend danach, nicht, während ich mit den Leuten verhandele.«
»Danke.« Vergnügt ließ Graine sich ein paar Schritte abseits des Verkaufsstandes im Gras nieder. Dann zog sie eine Hand voll schmuddeliger, aus Bernstein geschnitzter Amulette aus dem Beutel an ihrem Gürtel und begann, eines davon am Saum ihrer Tunika zu polieren. Die Amulette waren ganz eindeutig Erzeugnisse aus dem Norden, von den Kaledoniern gefertigt oder vielleicht sogar von einem Stamm, der noch näher am Dach der Welt siedelte: liebevoll geschnitzte Hirsche mit einem Menschengesicht unterhalb des Geweihs; Pferde, die stehen blieben, wenn man sie auf die Füße stellte, und Eulen, die gegen die dunklen Ängste der Nacht beschützen sollten. Bestimmt hatte Airmid Graine die Amulette überlassen, oder vielleicht war es auch Ardacos gewesen; jeder der beiden würde erkannt haben, dass das Mädchen etwas lernen musste und dass seine Mutter möglicherweise nichts mitgebracht hatte, was sich als Übungsmaterial eignete.
»Wenn du die da verkaufen möchtest«, erbot Breaca sich, »dann können wir sie ja auf der Decke arrangieren.«
Das war es, was von ihr erwartet wurde, und sie hatte ihre Rolle gespielt. Graine grinste ein wenig bedauernd, so als ob sie zwar eine Wette verloren, stattdessen aber ihren Willen bekommen hätte, und arrangierte ihre Stücke sorgfältig neben den Messern ihrer Mutter.
»Hat Airmid gemeint, ich würde dich nicht hier bleiben lassen?«, wollte Breaca wissen.
»Nein. Das hat Ardacos gesagt. Er hat mit mir gewettet, dass ich wieder bei seinen Bratgruben sein würde, noch bevor das Feilschen losginge.«
»Was hast du gewonnen?«
Graine grinste und war in diesem kurzen Moment der älteren Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten. »Einen Morgen lang mit dir zusammen Geschäfte machen?«, erwiderte sie.
 
Ihre geschäftliche Verbindung währte erheblich länger als nur einen Vormittag. Drei Tage lang lehrte Breaca von den Eceni, Metallschmiedin und Speermacherin, ihre Tochter, wie man den Wert einer Ware auf den ersten Blick veranschlagte; wie man mit den braunhäutigen Männern und Frauen aus Iberien und Gallien verhandelte, die ihr Emaillegeschirr und ihre Roheisenbarren feilboten; was man bei den Verhandlungen mit den verbittert dreinblickenden Latinern beachten musste, die exquisit gefertigten Goldschmuck und gegerbtes Leder mitgebracht hatten, eingefärbt in Farben, wie man sie in Britannien noch nie gesehen hatte; wie man mit den im Norden lebenden Belgern und den germanischen Stammesangehörigen feilschte, die Pferde zum Verkauf anboten, welche lange nicht so gut waren wie die der Eceni, die dafür aber gute Jagdhunde hatten und im Austausch dafür silberne Spiegel haben wollten oder die von Breaca geschmiedeten Messer mit dem Heft aus Ulmenholz und dem Zeichen des Hasen auf der Klinge.
Graine war ein außergewöhnliches Verkaufstalent. Diese Entdeckung versetzte sie beide gleichermaßen in Erstaunen. Als hätte sie im Getümmel der Schlacht ganz unerwartet einen neuen Kampfgefährten gefunden, fühlte Breaca, wie eine Tür sich schloss, durch die zu lange der Wind gezogen hatte, und wie sie ein plötzliches Gefühl der Sicherheit überkam, von dem sie ganz vergessen hatte, dass sie es vermisst hatte.
Auch hatte sie vergessen, wie bezaubernd schön ihre Tochter war; in der Abgeschiedenheit der Siedlung war es leicht, sie bloß als eine von vielen Heranwachsenden zu sehen, als eines jener schlaksigen, ungelenken Geschöpfe, die ständig eine neue, längere Tunika brauchten. Die Händlerinnen und Händler dagegen, die gänzlich unvorbereitet auf Graine trafen, waren von der Frische ihrer Züge und dem Ozean ihrer Augen mindestens ebenso sehr eingenommen wie von den kunstvoll gearbeiteten Speeren und Broschen und dem wieder aufgefüllten Vorrat an Bernsteinamuletten, die auf dem Verkaufstisch ihrer Mutter ausgebreitet lagen.
Innerhalb kürzester Zeit lernte Graine zu erkennen, wen man mit einem bloßen Lächeln herumkriegen konnte. In diesen Fällen schenkte sie ihrer Mutter stets einen flehentlichen Seitenblick, mit dem sie um die Erlaubnis bat, die Verhandlungen zum - angeblich - allerersten Mal allein führen zu dürfen. Und bei jedem dieser allerersten Male knieten der Mann oder die Frau, ganz gleich, wie fremdländisch sie auch sein mochten, ganz gleich, wie andersartig ihre Sprache, vor dem Tisch mit den Waren nieder und unterbreiteten übertrieben hohe Angebote für einen in Bernstein geschnitzten Hirsch oder, später, für eine Speerspitze oder ein Messer mit einem Heft aus Horn. Sie alle machten bei Graine - solange Stone nur auf Abstand blieb - mit Sicherheit ganz bewusst ein schlechtes Geschäft; freuten sich dafür beim Weggehen jedoch über das angenehme Gefühl, Graine zum Lächeln gebracht zu haben.
Gegen Ende des dritten Tages hatte Breaca ihren gesamten Vorrat an Messern und Speerspitzen eingetauscht, und auf dem Platz hinter ihrem nun leeren Verkaufstisch türmten sich - streng bewacht von Stone - Säcke mit Salz und gemälzter Gerste, Blöcke aus Bienenwachs und aus Roheisen, gegerbte Häute und winzige Platten belgischer Emaillemasse in Blau und Rot und Gelb, Harnische und bronzenes Pferdegeschirr, sowie versilberte Spiegel, die sich gut als Geschenk für die im Exil lebenden Eceni-Träumer eignen würden, falls diese denn jemals von Mona zurückkehrten. Beim Schlafplatz, bewacht von Airmid, warteten außerdem noch drei neue Jagdhunde und ein zusammenpassendes Paar einjähriger kastanienbrauner Hengstfohlen, von denen mindestens eines das Zeug dazu hatte, gute Schlachtrösser zu zeugen.
Graine wiederum besaß nun zwei neue Gürtel mit Bronzeschnallen und eine Halskette aus unbearbeitetem, auf eine Schnur aus Elchleder aufgezogenem Bernstein, die mehr wert war als ihr gesamter Vorrat an Amuletten, ferner ein Häutemesser, das sie eigentlich gar nicht brauchte, sowie eine dunkel gescheckte, trächtige Jagdhündin, die so kurz vor der Geburt ihrer Jungen stand, dass man die ungeborenen Welpen in ihrem Bauch schon gegen ihre Flanke treten sehen konnte.
Besser noch als jedes erfolgreiche Tauschgeschäft war jedoch, dass Breaca die acht stillen, wachsamen Männer durchschaut hatte, die um das einzelne, unweit von ihrem Stand brennende Feuer herum saßen.
Die latinischen Sklavenhändler, vor denen Theophilus sie gewarnt hatte, waren wahrlich ziemlich auffallend in ihrer Selbstgefälligkeit. Drei von den acht trugen Kurzschwerter von der Größe und Machart, wie sie bei den Legionen üblich waren, und zwei der Männer trugen Kettenpanzer, die dick genug waren, um einen geschleuderten Speer am Ende seiner Flugbahn abprallen zu lassen und in eine andere Richtung umzulenken.
Die Übrigen dagegen waren weder bewaffnet, noch trugen sie Kettenhemden. Hätten sie sich mit derart unzureichendem Schutz in die Gebiete westlich der hohen Berge vorgewagt, so hätten sie mit Sicherheit nicht mehr lange zu leben gehabt; einer nach dem anderen wären sie zwischen Sonnenuntergang und Mondaufgang, noch ehe es vollkommen dunkel geworden wäre, ermordet worden. Hier dagegen, in den Niederungen des Ostens, wo die Vergeltungsmaßnahmen für den Tod eines jeden unter der Schirmherrschaft Roms stehenden Mannes ganze Familien auslöschen würden, lebten sie in so großer Sicherheit, wie die Legionen sie ihnen nur irgend verleihen konnten.
Die Sklavenhändler entfachten ihr eigenes Feuer, als der letzte Tag des Marktes zur Neige ging und allmählich Ruhe einkehrte, und auch ihr Essen kochten sie für sich alleine. Überall sonst wurden, als die Sonne den westlichen Horizont berührte, die großen Bratgruben geöffnet. Langsam breiteten sich die sich miteinander vermischenden Wohlgerüche von Hase, Schwein und Wild in der windstillen Abendluft aus und zogen von Westen nach Osten, so dass die Gruppen und Grüppchen lebhaft schwatzender Männer und Frauen ringsumher nach und nach in Schweigen verfielen, während die Geschichten über die einzigartigen Schnäppchen und Gelegenheitskäufe des Tages in den Hintergrund traten und der Genuss des Essens den Vorrang gewann.
Breacas Marktstand befand sich am östlichsten Rand des Platzes, wo eine leichte Brise wehte, die die köstlichen Bratendüfte fern hielt. Sie saß mit dem Rücken zu den Sklavenhändlern und schaute zu, wie andere sich ihren Weg zu Ardacos’ Bratgruben bahnten. Ein schlanker Mann, dessen beide Unterarme bis hinauf zu den Ellenbogen mit den eingebrannten Echsenzeichen der Coritani-Krieger bedeckt waren, blieb hinter den anderen zurück und kratzte sich so auffallend lange und ausgiebig am Kopf, wie es wahrscheinlich selbst bei Läusebefall nicht nötig gewesen wäre. Nach einer Weile, als scheinbar niemand auf ihn achtete, schlenderte er zum Waldrand hinüber und blieb dort stehen, um gegen einen Baum zu urinieren. Einige Augenblicke später trat er hinter den Baum und kehrte nicht wieder zurück.
Die acht Sklavenhändler, die um das kümmerliche Feuer herumsaßen, sahen sich durch sein Verschwinden ganz offenbar genötigt, ihre Mahlzeit in aller Eile zu beenden. Der größte von ihnen, der eine Brosche in Form eines springenden Lachses an seiner Tunika trug, wischte sich die Hände am Gras ab und kippte dann einen Beutel mit Goldmünzen aus, um sie zu zählen.
Breaca kehrte dem Mann den Rücken zu und griff nach drei Zäumen mit Gebissstangen aus Eisen, die in ihrer Nähe lagen. Sie reichte Graine das Zaumzeug und sagte - nicht übertrieben laut, aber doch immer noch deutlich genug, um am Nachbarfeuer gehört zu werden: »Könntest du das hier zu Airmid bringen? Sie braucht es, um das neue Stutenfohlen in einigem Abstand von den Hengstfohlen anzubinden.«
Doch es gab überhaupt kein neues Stutenfohlen. Graine öffnete denn auch prompt den Mund, um ihren Einwand laut kundzutun, klappte ihn dann, als sie begriff, jedoch sofort wieder zu. Es kostete sie eine solche Anstrengung, nicht über ihre Schulter zu den Sklavenhändlern hinüberzuschielen, dass sie die Augen weit aufriss. »Soll ich Stone mitnehmen?«, fragte sie. »Oder wirst du ihn brauchen?«
Breaca grinste. Für einige letzte Augenblicke waren sie und ihre Tochter wieder die gewitzten Händlerinnen von zuvor, die sich in Hörweite anderer mittels einer Geheimsprache verständigten, und das Gefühl war beinahe so viel wert wie ein gewonnener Kampf. »Nimm du ihn mit«, sagte sie. »Ich glaube, auf mich wird wohl irgendwo draußen im Wald Hilfe warten.«
Zwar war sie sich dessen nicht sicher, doch der Gesang der Speere auf ihrer Verkaufsdecke hatte, während das Tageslicht langsam verlöschte, eine neue, beinahe vertraute Klangfarbe angenommen, und in ihrer Seele spürte sie ein altbekanntes Ziehen.
Graine hob also die Zäume auf und ließ die daran befestigten Zügel durch das vom Abendtau benetzte Gras schleifen, so dass sich das Leder von der Feuchtigkeit dunkel färbte. »Du hast Recht, es wartet tatsächlich Hilfe auf dich«, erklärte sie. »Er ist schon seit vier Tagen hier, aber ich musste ihm versprechen, dir nichts davon zu sagen. Er hat mir die Amulette gegeben. Ich glaube, er hat sie selbst geschnitzt.«
Ihre Kinder waren ihr wieder einmal um eine Nasenlänge voraus gewesen, wie immer. Eigentlich hätte Breaca sich über die Mitteilung ihrer Tochter freuen sollen. Und sie war auch froh, nur dass diese Empfindung unter einem ganzen Schwall von anderen, weniger freundlichen Gefühlen unterging. Rasch griff sie nach einem kleinen irdenen Topf mit Honig und warf ihn Graine leichthändig zu.
»Dann bewahr den hier für ihn auf, als ein Geschenk von mir. Ihr könnt ihn ja gemeinsam essen, wenn er sich dazu entschließt, danach mit uns nach Hause zu kommen.«
 
Die hereinbrechende Dunkelheit schien den Himmel von Osten her bis in den Westen hinauf aufzuzehren. Breaca wartete neben ihrem Feuer und beobachtete dabei die Sklavenhändler, die ihrerseits wiederum die Stelle beobachteten, an der der mit Eidechsensymbolen gezeichnete Krieger der Coritani die Lichtung verlassen hatte. In jenem gewissen Augenblick, als die acht um das Feuer hockenden Gestalten eine dunklere Tönung anzunehmen schienen als ihre eigenen, von den flackernden Flammen erzeugten Schatten, erhob Breaca sich unauffällig und schlich zum Rand des Lagers, fort von den zahlreichen Lichtquellen.
Der Gesang der Speere begleitete sie auf ihrem Weg. Und sie entfernte sich nicht nur von den Sklavenhändlern, sondern auch von der Frau von den nördlichen Eceni, die alle achtzehn von Breacas mit dem eingeritzten Bild des Hasen geschmückten Speerspitzen genommen und ihr als Gegenwert dafür zwei gute Messer und eine rehbraune Hündin mit rauem Fell und samtweichen schwarzen Ringen um die Augen gegeben hatte. Aber dieses Tauschgeschäft hatte lediglich zum Schein stattgefunden. Auch war Graine nicht daran beteiligt gewesen, obgleich die Hündin ein schönes Tier war und gut zu Stone passen würde.
Die Speerspitzen waren von einer Länge, wie sie gewöhnlich nur für die Jagd verwendet wurden; doch die Frau verstand sich darauf, den Gesang ihrer Seelen wahrzunehmen, und sie hatte Gefährtinnen und Gefährten, die von ihr lernen würden, ihn ebenfalls zu hören. Still und unauffällig - ohne all jene, die sie belauerten und beobachteten, in Alarmzustand zu versetzen - rüstete die Bodicea die ersten Mannschaften ihres zukünftigen Kriegsheeres mit Waffen aus.
Am Rande des Marktgeländes, dort, wo heimlich Krieg geführt wurde von jenen Männern, die den Wert anderer Menschenleben in Gold maßen, bahnte Breaca sich einen Weg durch Reihen von zurückgeschnittenen Haselnusssträuchern, wo man das dichte Unterholz nach oben hatte wachsen lassen, um biegsame Ruten für Körbe und die Einzäunung von Schafspferchen zu gewinnen. Die abgefallenen Blätter unter ihren Füßen waren noch feucht von dem am Nachmittag gefallenen Regen, sie bewegte sich also vollkommen lautlos.
Der Gesang der Speere, den sie schon den ganzen Nachmittag über vernommen hatte, schlängelte sich stetig weiter durch die Gänge und Korridore ihres Geistes und wurde mit jedem ihrer Schritte lauter. Sie drang noch tiefer in den Wald ein, folgte dem Singen, so wie ein Hund einer Fährte folgt, bis sich jenes eine, besondere Lied als eine einzigartig reine, makellose Melodie klar und strahlend über all die vielen anderen erhob und sie es zu seiner Quelle zurückverfolgen konnte.
Der Speer, ebenso wie derjenige, der ihn trug, warteten gut versteckt im dunkelsten Teil des Waldes. Breaca ging so nahe an die Stelle heran, wie sie es nur wagte, und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen den hohlen Stumpf eines schon vor langer Zeit abgestorbenen Haselnussbaums. In der Zwischenzeit war der Mond aufgegangen, doch er stand noch nicht hoch genug am Himmel, um Licht in den Wald zu werfen. Allein das trübe Sternenlicht erlaubte Breaca, irgendetwas zu sehen, und was sie sah, war bloß verschwommen zu erkennen.
Sie hätte als Erste das Wort ergreifen können, entschied sich aber dagegen; es stand einfach zu viel auf dem Spiel, und es gab so vieles, was sie noch nicht wusste. Es genügte also, wenn sie sich einfach nur so sehen ließ, wie sie war: allein und lediglich leicht bewaffnet. Mehr wagte sie nicht zu riskieren.
Nach einem Moment ertönte von ihrer Rechten her Cunomars leise Stimme. »Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«, fragte er. »Hat Graine es dir gesagt?« In den dreizehn langen Monaten seiner Abwesenheit war die Stimme ihres Sohnes um einiges tiefer und dunkler geworden. Sie war jetzt volltönend, besaß eine Bestimmtheit, die sehr an seinen Vater erinnerte. Cunomar hörte sich neugierig an und leicht amüsiert, nicht etwa verdrießlich und abwehrbereit.
»Nein. Deine Schwester hütet ihre Geheimnisse gut. Ich habe deinen neuen Speer singen gehört und habe den Gesang aus einem Traum wiedererkannt, den ich im Frühjahr hatte, als ich dich den verwundeten Bären töten sah. Das war wirklich gute Arbeit.« Breaca gab sich höflich, so wie sie es auch bei einer Ratsversammlung tun würde, wenn sie sich einem Krieger gegenübersähe, den sie nicht sonderlich gut kannte.
Ihr Sohn legte den Kopf schief, um sie noch direkter anschauen zu können. Das fahle Licht der Sterne ließ sein helles Haar gräulich erscheinen. »Bist du in der Zeit, in der ich fort war, etwa eine Träumerin geworden?«
»Ganz und gar nicht, obwohl ich mich hin und wieder gefragt habe, ob du vielleicht Träumer geworden wärst. Manchmal können die mächtigsten der Träumer ihre Träume nämlich auch anderen menschen schicken. Wenn es um etwas geht, was von großer Bedeutung ist.«
Letzteres war eine Frage. Von ihrer Beantwortung hing mehr ab, als jeder der beiden sich je hätte anmerken lassen. Mit Graine konnte Breaca ganz offen über ihre Besorgnis und ihre verzweifelte Furcht sprechen und wie sich die eine mit der anderen verwob; mit Cunomar dagegen konnte sie das noch nicht und würde es vielleicht auch niemals können.
Während Cunomar sich seine Antwort überlegte, fuhr sein neuer Speer leise in seinem Lied fort. Die Melodie brachte den Duft von Moos mit sich und Bilder von hohen Bergen, rauschenden Wasserfällen und den eisenbitteren Geschmack von Bärenblut. Etwas unterschwelliger und nicht ganz so deutlich waren die in dem Lied mitschwingenden Stimmen von Männern zu erkennen, die in der Sprache der Kaledonier Bittgebete an die Götter der Felsen und des Waldes sprachen. Und Cunomar war einer von ihnen.
Im Wald der Eceni betrachtete Breacas Sohn nun für einen Moment schweigend seine Hände, dann hob er den Kopf und blickte seiner Mutter zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder direkt in die Augen. Er war nicht nackt, so wie er es in ihren Träumen gewesen war, dennoch konnte sie in ihm lesen und ihn durchschauen, als ob er vollkommen entblößt wäre, und genau das tat sie auch. Dabei fühlte Breaca eine Hoffnung in sich aufwallen, die sie kaum zu benennen wagte. Cunomar war nicht größer als sein Vater, aber er war breiter und kräftiger, als Caradoc es jemals gewesen war, selbst auf dem Höhepunkt seiner Kampfzeit. Er trug eine ärmellose Tunika, und auf den Rundungen beider Schultern war eine große Anzahl weißer Narben zu erkennen, ganz so, als ob er von einem Bären malträtiert worden wäre. Außer dass die Narben in zu gleichmäßigem Abstand voneinander entfernt lagen, um von Bärenklauen stammen zu können. Linien aus blauen Punkten, die sich jeweils zu beiden Seiten der Narben entlangzogen, bestätigten Breacas Vermutung; auf diese Weise kennzeichneten die Träumer der Kaledonier ihre Bären-Tänzer, indem sie mit heißen Messern in sein Fleisch schnitten und anschließend Rosshaar in die Wunde legten, damit die Narbe wulstiger wurde.
Cunomar ertrug Breacas prüfenden Blick eine ganze Weile lang ruhig und schweigend, dann sagte er: »Zum Zeitpunkt der Jagd war es für mich wichtiger als alles andere, dir zu zeigen, was ich getan hatte. Ich hatte keine Ahnung davon, dass ich dir den Traum sandte, aber ich betete zu Nemain und zu dem gehörnten Gott des Waldes, dass du sehen mögest, was ich vollbracht hatte. Wenn die Götter die Vision zu dir getragen haben, dann war es wohl als Antwort auf mein inständiges Gebet, im Verein mit drei Tagen Fasten, um ihm noch mehr Kraft zu verleihen. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal dazu fähig wäre. Denn eines steht fest: Die Ältesten der Kaledonier haben mich in dem Jahr, in dem ich bei ihnen war, nicht in ihre Methoden des Träumens eingeweiht, sie haben mir nur beigebracht, wie man zum Mann wird.«
Nur. Breaca sehnte sich schmerzlich danach, ihren Sohn in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken, doch diese Geste durfte nicht von ihr kommen. Sie trat einen Schritt von dem Baum fort, zog das Messer aus ihrem Gürtel und hielt es Cunomar hin. »Ich habe das hier für dich und außerdem eine Jagdhündin, die von Efnís’ Schwester gezüchtet wurde und die bei der Jagd ebenso geschickt und tüchtig sein wird wie Stone.«
Das Messer lag auf ihrer flachen, ausgestreckten Hand, stumpf und glanzlos in der Dunkelheit. Bei Tageslicht hatten ein Dutzend verschiedener Händler versucht, um die Waffe zu feilschen. Die Klinge war schlicht und schmucklos; sie besaß nur eine Schneide, hatte die maximale, gerade noch erlaubte Länge und wies am hinteren Rand eine leichte Krümmung auf, so dass sie sich ebenso gut zum Töten wie zum Abbalgen eignete. Das Heft des Messers war keineswegs kunstvoll verziert, sondern schlicht in Bronze gegossen, und zwar in der Form eines jagenden Bären, der auf der Rückseite leicht abgerundet war, so dass die Hand mühelos darüber gleiten konnte, wobei der Kopf des Bären den Knauf bildete. An der Stelle, wo normalerweise das Herz des Bären saß, war ein Stück Obsidian, das in Form einer Speerklinge geschnitzt war, in das Metall eingebettet. Wenn das Licht des Feuers in einem bestimmten Winkel auf das Messerheft fiel, leuchtete der Obsidian rot, ähnlich wie eine frisch zugefügte Wunde.
Die Sterne aber vermochten den Obsidian nicht zum Leuchten zu bringen, doch immerhin verliehen sie dem Heft einen weichen Silberschimmer. Endlich trat Cunomar fort von dem Baum, in dessen Schutz er die ganze Zeit über gestanden hatte. Vorsichtig, beinahe ehrfürchtig nahm er das Messer aus Breacas Hand.
»Du hast das hier für mich angefertigt, nachdem du mich im Traum auf der Jagd gesehen hattest?«
»Ja.«
»Allmächtige Götter...« Als Kind hatte er Schönheit nie um ihrer selbst willen zu schätzen gewusst, sondern immer nur auf Grund dessen, was sie ihm geben konnte. Jetzt flüsterte er so ehrfurchtsvoll, wie Eneit es damals getan hatte, als er zum ersten Mal das Seelenlied des Speers vernommen hatte. Den Gesang eines Messers zu hören war noch um einiges schwieriger.
Cunomar hörte ihn. Mit der Behutsamkeit eines Menschen, der das Heilige bewacht, kniete Cunomar nieder und legte das Messer auf die Blätterschicht auf dem Boden. Sehr viel weniger behutsam sprang er wieder auf und schlang die Arme um seine Mutter.
Er war größer und kräftiger geworden, aber seine Entwicklung hatte sich nicht nur auf das Körperliche beschränkt; vielmehr schien er in anderer Beziehung noch umso reifer geworden zu sein. Sein Griff war fest, aber dennoch voller Rücksichtnahme, so als wüsste er genau, wo er selbst aufhörte und Breaca begann, und als respektierte er sie beide. Breaca spürte eine Wärme an ihrem Hals, die sie zuerst für Cunomars Atem hielt und erst einen Moment später als das erkannte, was sie wirklich war.
Um Eneit hatte er nicht so geweint wie jetzt um sie.
 
Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, hatten sich Wolken vor die Sterne am Himmel geschoben. Beiden fiel es schwer zu sprechen, beide brauchten einen Moment, um sich wieder zu fassen. Schließlich sagte Breaca: »Es gibt noch so viel zu sagen, aber wir haben jetzt nicht die Zeit, um uns in aller Ruhe zu unterhalten. Weißt du, warum ich hier bin?«
»Natürlich.« Cunomar grinste; das eine Jahr bei den Kaledoniern hatte seine Freude über seine eigenen Leistungen nicht zu dämpfen vermocht - und das hätte es auch nicht gedurft. »Ich bin schon seit mehr als drei Tagen hier. Die Sklavenhändler sollen sich mit einem von Berikos’ Männern treffen - einem lahmen Krieger von den Coritani, der gegen dich kämpfte, bevor die Römer kamen. Er trägt die eingebrannten Zeichen der Feuerechse auf beiden Armen, zum Beweis dafür, dass er im Krieg sowohl getötet, als auch Verwundungen davongetragen hat. Er klopft jedes Mal mit einem Messer gegen den hohlen Haselstumpf, um zu signalisieren, dass er hier ist. Der Lärm, den das Messer macht, schallt weiter, als man meinen würde, und einer von den Latinern spitzt immer die Ohren und horcht auf das verabredete Zeichen. Wenn sie es hören, kommt der Große mit der Schulterbrosche in Form des springenden Fisches, um sich mit ihm zu treffen.«
»Der Echsen-Mann von den Coritani verließ die Lichtung, als es dunkel wurde. Wenn er noch nicht hier gewesen ist, dann deshalb, weil er auf jemanden wartet.«
»Auf dich vielleicht? Hatte er irgendwie gemerkt, dass du ihn beobachtest?«
»Schon möglich.«
Breaca wirbelte herum und lauschte auf die nächtlichen Geräusche des Waldes. Irgendwo in der Ferne bewegten sich Männer in Rüstung schwerfällig zwischen den Bäumen hindurch. Ein mattes Licht leuchtete, das heller war als die Lagerfeuer und schwächer als der Mond. »Bleiben die beiden Sklavenhändler mit den Kettenpanzern immer dicht bei dem Fischbroschen-Mann?«, wollte Breaca wissen.
Auch Cunomar hatte gehört, was sie vernommen hatte. Er ging in die Hocke und hob das Messer mit dem Bärenheft auf. »Nur einer von ihnen kommt derart weit mit in den Wald hinein«, erklärte er. »Der andere wartet in der Nähe des Marktgeländes, um Vorübergehende fern zu halten.«
»Für alle Fälle, damit sie nicht dahinterkommen, dass die Coritani dazu übergegangen sind, Menschenleben für Gold zu verkaufen, und dass ein Latiner, der eine Fischbrosche trägt, sie kauft.« Breaca zog nun auch ihr eigenes Messer aus dem Gürtel. »Sie sind unterwegs. Sie haben Fackeln dabei, ausgerechnet, aber der grelle Lichtschein müsste sie eigentlich blind machen für alles, was sich nicht in ihrer Reichweite befindet. Gut. Wir zwei sollten uns jetzt besser in den Hintergrund verziehen...«
Sie wichen ein Stück zurück, und der Raum um sie herum war pechschwarz im Vergleich zu dem Licht der Harzfackeln, die die Sklavenhändler mitbrachten; und jedes etwaige Geräusch, das Breaca und Cunomar verursachen mochten, ging unter in dem Getrampel und Gepolter von Männern, die nicht gelernt hatten, einen nächtlichen Wald lautlos zu durchpirschen.
Der latinische Händler erschien als Erster, begleitet von dem kettenpanzerbewehrten Exlegionär, der als sein Leibwächter fungierte. Der mit Juwelen besetzte Fisch an seiner Tunika glitzerte hell im Licht der Fackel. Der Coritani-Krieger ließ sich mit seiner Ankunft Zeit, und er kam ohne Licht und bewegte sich vollkommen geräuschlos durch den Wald; er war einst ein Jäger gewesen, hatte sowohl auf Tiere als auch auf Menschen Jagd gemacht. Er sprach Lateinisch mit einem gallischen Akzent, und sein Gegenüber antwortete in derselben Sprache, wobei Losungsworte ausgetauscht wurden, die beide Seiten kannten. Wenn der Coritani wusste, dass er beobachtet wurde, so ließ er sich zumindest nichts davon anmerken.
Beide Männer waren es gewohnt, Bedingungen auszuhandeln und Tauschgeschäfte abzuwickeln, und sie machten keine Konzessionen; der Handel ging glatt und problemlos vonstatten, so als ob sie einen für den Kampf dressierten Junghengst gegen eine Wagenladung Häute tauschten. Breaca lauschte den Verhandlungen, achtete dabei aber weniger auf die Details als auf den Ton. Es war kein neues Unternehmen, und es war auch nicht das erste Treffen, sondern lediglich das jüngste in einer ganzen Reihe von knallhart kalkulierten Geschäften.
Neben ihr stützte Cunomar sich auf ein Knie, und seine eine Hand ruhte auf seinem Speer, während seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Männer konzentriert war. Er zitterte leicht am ganzen Körper, ganz ähnlich wie Stone, wenn dieser auf der Jagd war und wie gebannt einen Hasen beobachtete. Die gleiche äußerste Angespanntheit und Konzentration hatte Breaca auch schon bei Ardacos beobachtet, unmittelbar vor einer Schlacht, wenn der Geist der Bärin ihn am stärksten erfüllte. Sie wünschte sich so sehr, dass Ardacos Cunomar jetzt sehen könnte.
Die Abmachung war getroffen: Ein Dutzend fast erwachsene Jugendliche sollten in den Seehafen unmittelbar südlich von Camulodunum geliefert werden, gegen Zahlung von dreißig Flaschen guten Weins, die mit dem Siegel des Kaisers gekennzeichnet waren, drei Deckelkrügen mit Oliven und einer nicht näher genannten Summe in Gold, die auf der Stelle den Besitzer wechselte und als Sicherheit diente. Der Echsen-Krieger zählte die Münzen und verstaute sie dann in seinem Gürtelsack. Sie klirrten gedämpft, wenn der Beutel gegen seinen Schenkel schlug.
Auf ein Zeichen des Latiners mit der Fischbrosche hin trennten sich die Geschäftspartner wieder. Der Sklavenhändler und sein Leibwächter ergriffen ihre Fackeln und machten sich erneut auf den Weg durch den Wald und zurück zu ihrem Lagerfeuer. Der Echsen-Mann der Coritani entfernte sich nicht gleich, sondern wartete noch eine Weile, den Rücken dem Haselnussstumpf zugekehrt. Zu seiner Zeit war er ein guter Krieger gewesen, das konnte man an den Echsen-Brandzeichen erkennen; folglich wusste er sicher, dass er beobachtet wurde. Er blickte sich nach allen Seiten um, wachsam und misstrauisch, aber ohne jede Furcht.
Breaca fühlte eine leichte Berührung an ihrer Schulter. Und so leise, dass seine Stimme bloß unterschwellig in ihr Bewusstsein drang, ganz so, wie es bei dem Gesang des Speers der Fall gewesen war, sagte Cunomar: »Wir können die Latiner nicht beseitigen; ihr Tod würde Vergeltungsmaßnahmen gegenüber sämtlichen Marktteilnehmern zur Folge haben. Aber wenn ein Echsen-Krieger der Coritani im Wald von einem Bären getötet wird, dann wird Rom das nicht kümmern.«
»Oder wenn er in den Fluss fällt und ertrinkt?« Breaca hatte genau den gleichen Gedanken gehabt. Ein vages Gefühl der Gefahr überlief sie und hinterließ auf ihren Armen eine Gänsehaut. Der Coritani-Krieger konnte die Bedrohung ebenso deutlich spüren wie sie. Er hatte sein Messer gezogen und wich nun langsam und Schritt für Schritt weiter in das Innere des Waldes zurück, wobei er die Bäume sicherheitshalber im Rücken behielt.
»Vielleicht warten ja noch mehr von ihnen im Wald«, gab Breaca zu bedenken. »Es wäre doch dumm von ihm, allein herzukommen.«
Cunomar bedachte seine Mutter mit einem kurzen, grimmig aufblitzenden Lächeln. Der Mond war inzwischen weit genug am Himmel emporgestiegen, um Cunomars goldenes Haar zum Leuchten zu bringen. Seine Augen waren bernsteingelb und von der prickelnden Erregung der Nacht erfüllt. Er sagte: »Ich glaube nicht, dass er dumm ist. Tatsächlich warten noch mindestens drei andere Krieger am Waldrand. Aber wir beide sind die Bodicea und ihr Sohn, welcher der Bär ist. Für uns sind vier Männer doch eine Kleinigkeit.« Seine Stimme war klangvoll und tief und voller Verheißung. »Willst du mit mir jagen, siegreiche Bodicea?«
 
Während der fünf Jahre, die sie in den Bergen des Westens verbracht hatte, hatte Breaca auch nach dem offiziellen Ende der jeweiligen Kampfsaison stets unbeirrbar weitergemacht und die Zeit bis zum Beginn der nächsten dazu genutzt, um ihren Kampf gegen den Feind im Alleingang fortzusetzen.
Sie hatte dies freiwillig getan, obwohl es genügend andere gab, die sie auf ihrer Jagd hätten begleiten und die das Risiko und die Hochstimmung nach jeder gelungenen Tötung mit ihr hätten teilen können. Ardacos und Cygfa, Gwyddhien und Braint - sie alle hatten ihr immer wieder und auf unterschiedliche Weise angeboten, gemeinsam mit ihr zum Festland hinüberzufahren, doch Breaca hatte ihr Angebot jedes Mal ausgeschlagen, hatte sie jedes Mal mit Plattitüden abgespeist. Nie hatte sie ihnen gesagt, dass sie die Monate der Einsamkeit, die Freiheit des eigenständigen Vorgehens jedes Jahr aufs Neue genoss.
All die Jahre über hatte Breaca gedacht, dass sie diese Erfahrung nur mit Caradoc hätte teilen können, und der Schmerz über diesen Verlust hatte sich wie ein Mantel um den noch größeren Schmerz gelegt - jenen Schmerz, der sich im Laufe der Jahre so weit erschöpfte, bis er ganz einfach zu einem Teil ihres innersten Selbst wurde.
In jener Nacht aber, in der sie in Gesellschaft ihres Sohnes, Cunomar, Jagd auf die Echsen-Krieger der Coritani machte, erfuhr Breaca zum ersten Mal, wie es hätte sein können, mit seinem Vater zu jagen. Die Freude, die sie dabei empfand, konnte sich durchaus mit dem Schmerz messen, und beide wurden noch übertroffen von der reinen, fließenden Schönheit der Jagd.
Der Feind bestand aus einer fünfköpfigen Gruppe: aus dem Sklavenverkäufer von den Coritani sowie den zwei Männern und zwei Frauen seiner Ehrengarde. Alle trugen das Symbol der Echse zum Zeichen dafür, dass sie in der Schlacht getötet, aber auch Verwundungen davongetragen hatten, und mit ihnen fertig zu werden war keineswegs »eine Kleinigkeit«, wie Cunomar es ausgedrückt hatte.
Das blasse Licht der Sterne und der von Wolkenschleiern verhüllte Mond machten den Wald zu einem Ort sich ständig verändernder Grau- und Schwarznuancen. Der Ranghöchste der Feinde, derjenige, der das Gold von den Sklavenhändlern angenommen hatte, entfernte sich von dem Treffpunkt und verriet sich dabei durch ein flüchtiges Aufblitzen seiner eisernen Dolchklinge, obwohl die Vernunft ihm hätte sagen müssen, dass er sich besser still verhalten hätte.
Der Gesang von Cunomars Messer verschmolz mit dem Lied der Speere, und ihrer aller Stimmen verbanden sich mit dem Wispern und Raunen eines Waldes bei Nacht. Cunomar tippte sich mit zwei Fingern auf seinen Unterarm und wies mit einer wortlosen Kopfbewegung gen Westen. Sie befanden sich auf Eceni-Territorium, in Eceni-Jagdrevieren; Cunomar kannte sich in dem Wald ebenso gut aus wie Breaca; nicht aber die Echsen-Kämpfer der Coritani. Breaca nickte und machte ihr eigenes Zeichen, indem sie mit dem Handballen Richtung Osten zeigte.
Daraufhin trennten sich Mutter und Sohn, verschmolzen lautlos mit einem Wald, der sie geradezu willkommen hieß, und als sie sich schließlich wieder trafen, befanden sie sich mitten zwischen dem Sklavenverkäufer der Coritani und den vier Kriegern seiner Ehrengarde.
Sie töteten ihn aber noch nicht sogleich; die Jagdehre verlangte, dass er der Letzte sein sollte. Breaca hob einen Stein von der Größe ihrer Faust auf und ließ ihn links von sich über den Waldboden rollen. Alte, vertrocknete Blätter und kleine Zweige knackten unter seinem Gewicht, während er davonkullerte. Der Sklavenverkäufer erstarrte, fuhr herum und zwängte sich zwischen den Stamm einer Rotbuche und das peitschende Gestrüpp, welches den Baum umgab. In einiger Entfernung vor ihm trennten sich zwei der Mitglieder seiner Ehrengarde voneinander und waren somit nicht länger im Stande, sich gegenseitig als Schutzschild zu dienen.
Breaca hatte nicht genug Platz, um ihre Steinschleuder zu benutzen, und für den Einsatz eines Messers bestand noch keine Notwendigkeit. Sie brach jenem Krieger, der nun ihren Pfad entlangkam, also kurzerhand das Genick, indem sie unvermittelt aus der Dunkelheit heraustrat, von hinten sein Kinn umfasste und seinen Kopf mit einer heftigen, ruckartigen Bewegung nach oben, nach hinten und zur Seite riss. Einen Feind zu töten war so viel leichter, als ihr einst der Gedanke an Graines Tötung erschienen war - selbst wenn Letzteres allein aus Barmherzigkeit heraus geschehen wäre. Erst als sie den leblosen Körper zu Boden sinken ließ, stellte Breaca fest, dass es sich um eine Frau handelte, und empfand tiefes Bedauern.
Gleich darauf stieß Cunomar zu ihr. Er hatte in der Zwischenzeit sein Wams abgelegt, und die Nacht ließ seine Bärennarben, die sich in langen, überkreuz verlaufenden, rippenartigen Erhöhungen von seinen Schultern bis zu seiner Taille hinunterzogen, wie einen Harnisch erscheinen. Sein Messer glänzte feucht-schwarz. Das Singen der Klinge war intensiver geworden, hatte sich zu jenem vollen Tönen gesteigert, das Breaca einst in der Schmiede vernommen hatte, und diesen Klang würde die Klinge beibehalten, bis sie zerbrach und ihr Lied für immer verstummte.
Cunomar kniete sich nieder, um in den Körper der Frau, die durch Rom zur Sklavenhändlerin geworden war, Kratzer und Schnitte zu ritzen, die den Eindruck erwecken könnten, als sei sie von einem Bären angefallen und getötet worden. Plötzlich war die Nacht durchdrungen von dem Übelkeit erregenden Gestank frischen Blutes und eines aufgeschlitzten Magens.
Der Wald hielt den Atem an, so dass selbst die jagenden Wiesel für einen Moment reglos verharrten. Ein Stück weiter voraus röhrte ein Hirsch in der Dunkelheit, und dahinter noch ein zweiter. Kein Hirsch röhrte bei Nacht. Sie kannten einander nun also: Jäger und Gejagte; zwei gegen drei.
Cunomar erhob sich wieder und stellte sich dicht neben seine Mutter. Jetzt grinste er nicht mehr wie zuvor; sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, eine reglose Maske höchster Konzentration und Entschlossenheit. Breaca und Cunomar waren nicht mehr länger auf Worte oder auf die Klopfzeichen der Bärinnenkrieger angewiesen, um sich miteinander zu verständigen; für die Dauer dieser Jagd wurden die Bodicea und ihr Sohn zu einer untrennbaren Einheit, zu zwei Klingen ein und derselben Waffe. Seine Augen waren die ihren, ihre Gedanken die seinen - von der Scham darüber, eine Frau der Stämme getötet zu haben, bis hin zu dem Stolz über die meisterhafte Art der Tötung. Und als er beinahe den Tod gefunden hätte, wäre auch sie fast gestorben.
Als sie nun am Rand einer kleinen Lichtung entlangschlich, die von moosüberwucherten Steinen und tellergroßen, im Mondlicht schimmernden Pilzen gesäumt war, roch Breaca plötzlich Blut und hörte den röchelnd verlöschenden Atem eines tödlich Getroffenen. Allein die bei tausend vorangegangenen Jagden dieser Art gewonnene Weitsicht und Erfahrung veranlassten Breaca, sich von dem flüchtigen Aufblitzen von Eisen abzuwenden, das Cunomars Tod hätte sein können oder aber auch der Tod seines Gegners. Stattdessen trat sie dem fremden Krieger, der sie anderenfalls niedergemetzelt hätte, mitten in den Weg und konnte sich somit gerade noch rechtzeitig ducken und dem tödlichen Hieb mit einem raschen Sprung zur Seite ausweichen - und ihren eigenen Hieb gegen ihn führen. Dennoch schnitt seine Klinge ein halbmondförmiges Stück Fleisch aus ihrer Schulter, und zwar in der Nähe der Narben, die die alte, einst so heftig eiternde Speerwunde hinterlassen hatte. Ihre Klinge dagegen traf ihn auf äußerst schmerzhafte Weise an der Wange und grub sich in sein Auge.
Er war ein ausgezeichneter Kämpfer. Ein Geringerer hätte laut aufgeschrien, dem Schmerz nachgegeben und auf diese Weise sein Leben eingebüßt. Dieser Krieger dagegen verlagerte sein Messer in die linke Hand und umkreiste Breaca lauernd, obwohl das Blut in Strömen über seine rechte Gesichtshälfte rann.
Laut - denn es kam nun nicht mehr darauf an, still zu sein - sagte Breaca: »Wenn Krieger wie wir gemeinsam kämpfen würden und nicht gegeneinander, wäre Rom schon längst aus unserem Land verbannt worden.«
Er lachte sie aus, völlig außer Atem. »Sie sind einfach zu viele... Rom wird siegen, und wir werden ihre Verbündeten sein... besser das, denn als Feind bezwungen zu werden.«
Die Steine am Rand der Lichtung verbargen eine kleine Quelle. Breaca trieb ihren Gegner auf diese Quelle zu, nutzte dabei den Vorteil von zwei Augen gegenüber bloß einem aus. Als der Coritani auf einen der Steine trat und das Gleichgewicht verlor, tötete sie ihn, indem sie sich blitzschnell unter seiner Messerhand hindurchduckte und ihm ihre Klinge in die Brust stieß. Er starb unter einem heftigen Erstickungsanfall, während er sich an seinem eigenen Blut verschluckte.
Cunomar war gegen einen Baum zurückgedrängt worden und hatte diverse blutende Schnittwunden auf der Brust. Auf einem Pfad, der von der Lichtung wegführte, sah er sich gleich zwei Gegnern auf einmal gegenüber: dem Ranghöchsten der Sklavenverkäufer mit den Echsenzeichen auf beiden Unterarmen und einem anderen, älteren und weniger auffällig markierten Krieger, der sein Haar zu einem Knoten auf dem Hinterkopf aufgetürmt trug und mit Greifvogelfedern geschmückt hatte.
Der Ältere war der Klügere. Als er hörte, wie Breacas Widersacher tödlich getroffen zusammenbrach, drehte er sich blitzschnell um und stellte sich mit dem Rücken zu seinem Kampfgefährten auf, so dass auch diese beiden zu einer Einheit zusammengeschweißt wurden.
Lautlos wich Breaca wieder in die Dunkelheit zurück. Im Licht des Mondes sah sie ihren Sohn, wie er sich gegen die glatte Rinde einer Ulme stemmte und sein Messer stoßbereit vor sich hielt, sah seine angespannte Miene und den Ausdruck seiner Augen, die verrieten, dass er auch jetzt, im Angesicht des Todes, noch ebenso konzentriert war, wie er es in den ersten Augenblicken der Jagd gewesen war. Die Ältesten der Kaledonier hatten ihn gut geschult. Und doch hatten sie nicht - so wie die Bodicea - fünf Jahre lang allein innerhalb der feindlichen Linien gejagt, wo zum Überleben noch einiges mehr dazu gehört hatte als die Fähigkeit, dem Tod furchtlos ins Auge zu blicken.
Um hier und jetzt am Leben zu bleiben, um es auch und vor allem ihrem Sohn zu ermöglichen, am Leben zu bleiben, waren also absolute Ruhe, eiserne Selbstbeherrschung, unerschütterliche Nerven und lebenslange Erfahrung im Umgang mit Menschen erforderlich.
Jeder Mensch spürt es irgendwann instinktiv, wenn die Augen anderer auf ihm ruhen. Ein Krieger, der mit einem Angriff rechnet, spürt es jedoch am ehesten und am verlässlichsten. Folglich beobachtete Breaca nicht den älteren der beiden Krieger, den mit der kräftigen Nase und den hohen Wangenknochen und den Greifvogelfedern im Haar, sondern achtete ausschließlich und überaus wachsam auf seinen Gefährten, der sich Cunomars Messer gegenübersah und der seine Aufmerksamkeit nicht von der Waffe abwenden konnte, ohne den Tod zu riskieren.
Ein Weißdorndickicht kratzte sie im Rücken. Über ihr tropfte es von Ästen herab, die noch nass vom letzten Regen waren. Dichtes Unterholz teilte sich vor ihr, und der Waldboden federte unter jedem ihrer behutsam gesetzten Schritte, als Breaca sich langsam, ganz langsam und von der Seite her an die beiden Rücken an Rücken stehenden Coritani-Krieger anpirschte.
Eine Ewigkeit verstrich, während sie sich lautlos durch das Dickicht vorarbeitete und rings um sie her die Düfte und Gerüche eines regenfeuchten Waldes aufstiegen. Und dann trennten sie nur noch wenige Äste von den beiden Kriegern. Sie waren zwei Köpfe, zwei blasse Ohren mit dahinter zurückgebundenem Haar, zwei bloße Hälse, die ungeschützt geblieben waren, denn kein Krieger der Stämme trug einen Helm oder einen Genickschutz, wenn er jagen ging.
Weiche Moospolster federten unter Breacas Füßen. Ein Blatt streifte ihre Wange. Und plötzlich fühlte der Sklavenverkäufer der Coritani, der ihre, Breacas, Kinder gegen römisches Gold eintauschen würde, die Last ihrer Aufmerksamkeit auf sich.
Mit scharfer Stimme sagte er: »Vorsicht, rechts von dir!«, und der Krieger des Roten Milan drehte den Kopf und fluchte lästerlich. Die Bodicea war nicht einmal mehr eine Armeslänge von ihm entfernt, ein blutbespritztes Gesicht, umrahmt von regenfeuchten Ästen, obwohl er doch geglaubt hatte, dass ebenjenes dichte, scheinbar undurchdringliche Dickicht sein Schutz sei.
Er war schnell, aber Breaca hatte sich ihm von rechts hinten genähert, in einem Winkel, in dem ein Rechtshänder nur unter größten Schwierigkeiten zustoßen kann, es sei denn, er kann seine Klinge noch rechtzeitig umdrehen. Der Krieger versuchte es und verpasste dadurch die Chance, sich fallen zu lassen und wegzurollen, womit er sich vielleicht noch hätte retten können. Dennoch duckte er sich hastig seitwärts, und infolgedessen traf ihn der Messerstoß, der ursprünglich auf seine Brust zielte, in den Unterleib - verletzte ihn jedoch auch dort lebensgefährlich. Selbst in diesem Moment, da er bereits an der Schwelle des Todes stand, war der Coritani noch immer im Stande, anzugreifen, und genau das tat er auch. Er erwischte Breaca an der Wade, ehe es ihr gelang, ihr Messer umzudrehen, ihm mit dem Heft einen harten Schlag gegen die Schläfe zu versetzen und ihm dann die Kehle bis zu den Nackenwirbeln aufzuschlitzen.
Der Sklavenverkäufer mit den eingebrannten Echsenzeichen starb rascher, gefangen zwischen der Bodicea und ihrem Sohn. Breaca packte von hinten den Messerarm des Mannes, und Cunomar stieß ihm seine Klinge in die Brust und dann in die Kehle, so dass der Körper, den Breaca festhielt, zuerst starr wurde, dann erschlaffte und sie ihn zu Boden sinken lassen konnte.
Breaca holte keuchend Luft und beschloss, lieber nicht dabei zuzuschauen, wie die Totenseelen eine nach der anderen ins Jenseits entschwebten. Stattdessen betrachtete sie Cunomar, der einmal tief durchatmete und dann plötzlich auf die Knie fiel und sich erbrach.
»Es tut mir Leid.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wenn du gar nichts empfinden würdest, das wäre schlimm.« Sie hielt Cunomar bei den Schultern und wartete, während er von einer weiteren Woge der Übelkeit erfasst wurde. Er zitterte am ganzen Körper, so wie er es auch zuvor getan hatte, diesmal jedoch von der Anstrengung und der beinahe übermenschlichen inneren Anspannung und der erschreckenden Nähe des Todes. Von der ersten Hinrichtung bis zur letzten war weniger Zeit verstrichen, als man zum Trinken eines Bechers Ale brauchte, dennoch hatte sich diese Zeitspanne wie eine Ewigkeit angefühlt. »Du hast schon oft an Gefechten teilgenommen, aber dies war das erste Mal, dass du als Krieger gekämpft hast. Kennst du jetzt den Unterschied?«
»Große Götter, ja!« Cunomar kniete auf allen vieren und spuckte ein letztes Mal, dann griff er sich eine Hand voll Blätter, um sich den Mund abzuwischen. »Ich dachte immer, den Bären zu erlegen wäre das Schwerste gewesen; aber es ist nicht dasselbe, als wenn man einen Krieger tötet, allein und... völlig schutzlos. Die Krieger der Bärin haben mich doch stets beschützt, damals, als wir im Westen gekämpft haben. Ich hatte ja keine Ahnung...«
Er lehnte sich auf die Fersen zurück. Er war schmutzig: An seinem Gesicht klebten Blätter und Reste von Erbrochenem, und von den Schnittwunden auf seiner Brust rann ungehindert das Blut herunter. Cunomar blickte an sich herab und machte eine entsetzte Miene.
»Sie werden erst später wehtun«, sagte Breaca. »Dann wird der Schmerz allerdings ziemlich stark sein. Airmid hat zwar eine Salbe, die verhindern wird, dass deine Wunden zu eitern anfangen, aber gegen die Schmerzen hilft leider nur wenig.« Sie ließ Cunomars Schultern los und setzte sich etwas abseits von den Leichen der beiden Coritani-Krieger auf den Boden. »Ich bin überzeugt, die Krieger der Bärin haben auch solche Salben.«
Cunomar raffte noch eine weitere Hand voll abgefallener Blätter zusammen und wischte sich damit das Blut von der Brust. »Schickst du mich etwa wieder zurück?«
»Natürlich nicht. Du bist jetzt ein erwachsener Mann. Ich bin nicht mehr dazu berechtigt, dich irgendwohin zu schicken, und ich würde mir auch ganz bestimmt nicht wünschen, dass du jetzt schon wieder gehst, wo du doch gerade erst zurückgekehrt bist. Aber du solltest es dir trotzdem einmal durch den Kopf gehen lassen. In der Siedlung hat sich nichts verändert; dort ist noch alles genauso wie zu dem Zeitpunkt, als du fortgingst. Ich habe noch kein Kriegsheer aufgestellt; ich habe vorerst nur damit begonnen, diejenigen mit Waffen auszurüsten, die sich vielleicht eines Tages mit mir zusammentun werden. Es besteht nach wie vor die Gefahr, dass wir durch Rom allesamt ausgelöscht werden oder dass wir denen hier in die Hände fallen...« Sie stieß den toten Sklavenverkäufer mit der Zehenspitze an. »Die Götter haben es so gefügt, dass wir beide, du und ich, wieder zusammengekommen sind, und dafür bin ich unendlich dankbar. Ich wäre froh und glücklich über jeden einzelnen Tag, an dem dein Licht mein Leben erhellt, aber du hast inzwischen erlebt, was wahre Freiheit ist, und bist durch diese Erfahrung um einiges reifer geworden; bist du dir wirklich sicher, dass du wieder unter dem Joch Roms leben willst?«
Cunomar hatte endlich zu zittern aufgehört. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baum, der ihm auch zuvor schon Schutz geboten hatte, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blickte nachdenklich zu den Sternen hinauf. »Die Ältesten der Kaledonier haben mich zum Bärinnenkrieger gemacht. Wenn ich möchte, darf ich wieder zu ihnen zurückkehren. Ich kann im Herbst mit der Bärin tanzen und vielleicht einer von ihren Träumer-Kriegern werden. Ich kann sie in ihren Gefechten gegen kleine Nachbarstämme unterstützen und gemeinsam mit ihnen gegen die belgischen Seefahrer kämpfen, die an ihrer Küste landen und ihre Frauen verschleppen. Oder ich könnte wieder nach Hause kommen und unter den Eceni leben und Hunger leiden, wenn sie Hunger leiden, und mit der Bodicea gegen die Römer kämpfen, wenn die Zeit zum Kämpfen gekommen ist.« Er löste seine hinter dem Kopf verschränkten Hände und wischte sich abermals einen Blutfleck von der Brust. »Was hat Eneit eigentlich gesagt, bevor er gestorben ist?«
»Dass er dich liebt, was du aber ja schon wusstest, und dass er in den Ländern jenseits des Lebens auf dich warten würde. Dass du den Mut finden solltest, von jenem Tag an weiterzuleben - was du ja auch getan hast. Und dann sagte er noch, dass du seinen Namen, der so viel wie ›Mut‹ bedeutet, in Ehren halten mögest und dass du deinen erstgeborenen Sohn nach ihm benennen solltest.«
Cunomar schwieg eine ganze Weile. Die Körper der getöteten Krieger wurden kalt, und der Blutstrom, der aus ihren tödlichen Wunden geflossen war, versiegte. Cunomar streckte eine Hand aus und zog die Greifvogelfedern aus dem hoch auf dem Hinterkopf zusammengebundenen Haar des älteren Kriegers.
»Wir sollten jene Art von Kratzern und Schnittwunden in ihre Körper ritzen, die den Anschein erwecken, als ob sie einem Bären zum Opfer gefallen wären, und sie dann dem Fluss übergeben«, sagte er gedankenverloren und fügte, als er sich erhob, hinzu: »Wenn ich denn einen Sohn haben sollte, den ich Eneit nennen soll, möchte ich, dass er unter den Eceni zur Welt kommt und unter den Eceni lebt, mit Eceni-Blut in den Adern.« Er lächelte Breaca schüchtern an, auf eine Art, die ihr schier das Herz zerriss. Cunomar hatte so viel von seinem Vater und war doch zugleich so einzigartig und unverwechselbar er selbst. »Wenn ich gerne nach Hause kommen wollte, würdest du mich dann wieder aufnehmen?«
Zuvor war er derjenige gewesen, der den ersten Schritt hatte tun müssen. Jetzt erhob Breaca sich mühsam vom Boden und stellte fest, dass sich die Schnittwunde in ihrem Bein zusammengezogen und versteift hatte, so dass sie nur noch hinken konnte. Cunomar kam ihr auf halbem Weg entgegen, und diesmal umarmten sie einander als Erwachsene; als zwei Krieger, die ihr Leben für den jeweils anderen aufs Spiel gesetzt haben; als eine Mutter und ihr erstgeborener Sohn, mit allem, was diese Tatsache mit sich bringt; als die Bodicea und der Sohn Caradocs, der als unreifer Jüngling in die Fremde gezogen und als ein so völlig anderer Mensch, als ein so reifer, verständiger und beherzter Mann zurückgekehrt war, wie sie es niemals auch nur zu hoffen gewagt hatte.
Cunomar schloss sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Und Breaca schmiegte ihren Kopf an seine Schulter und sog den Duft seiner Haut ein, so wie sie es früher getan hatte, als er noch ein Säugling gewesen war, und seitdem nie wieder. Sie hob den Kopf und blickte ihm in die Augen, die auf einer Höhe mit den ihren waren, während er geduldig wartete, so wie die Träumer der Kaledonier es ihn gelehrt hatten.
»Ohne dich würde meine Welt zusammenbrechen«, sagte sie, und es war ihr voller Ernst. Und dann - denn in dieser Nacht war alles möglich - fügte sie noch hinzu: »Wenn wir fünfhundert Krieger wie dich hätten, könnten wir den Mut und den Kampfeswillen der Eceni wieder neu entfachen. Selbst fünfzig wären zumindest schon mal ein Anfang. Willst du den Sommer hindurch mit mir auf Reisen gehen und sehen, ob wir genug Kriegerinnen und Krieger zusammentrommeln können, um deine Ehrengarde aufzustellen?«
Die Seherin der Kelten
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