XXXV
Graine war auf dem Weg zu einem Ort, wo sie in
Sicherheit sein würde; um sie brauchte Breaca sich keine Sorgen
mehr zu machen. Das war das einzig Gute.
Die anderen Hiobsbotschaften dagegen erreichten
Breaca und die ihren stückchenweise, während der Abend seinen
Fortgang nahm und die in Gruppen eingeteilten Söldner nacheinander
zu dem Prokurator kamen, um diesem Bericht zu erstatten oder um ihm
ganz einfach zu zeigen, was sie gefunden hatten. Diejenigen, die
Anweisung hatten, die Siedlung zu durchsuchen, gingen dabei ebenso
vor wie jene Durchsuchungskommandos, die Valerius einst angeführt
hatte: brutal und schonungslos, indem sie alles, worin sich
möglicherweise eine Waffe verbarg, kurzerhand zerstörten. Und sie
fanden auch die unter den Reetdächern verborgenen Schilde - was
allerdings von Anfang an klar gewesen war -, sowie einen Speer, der
schon vor langer Zeit versteckt worden und dann völlig in
Vergessenheit geraten war und daher mittlerweile eine derart dicke
Schicht Rost angesetzt hatte, dass man ihn nicht mehr gebrauchen
konnte.
Der Kundschafter vom Stamme der Coritani half den
außerhalb der Siedlung suchenden Söldnern, die Spuren zu finden,
die zum Großen Versammlungshaus führten, und dort stießen sie dann
auch prompt auf das geheime Lager mit Roheisen - etwas, von dem
Breaca inständig gehofft hatte, dass es nicht passieren möge, und
das doch gleichsam unvermeidlich war. Als sie sich im Anschluss
daran noch gründlicher auf dem Gelände umschauten, entdeckten sie
schließlich auch die Spuren, die vom Versammlungshaus fortführten,
doch Krieger oder Kinder fanden sie keine, und da sich mittlerweile
die nächtliche Dunkelheit herabzusenken begann, wagten sie es auch
nicht, Fährtenleser auszuschicken, um nach den Flüchtigen suchen zu
lassen.
Mit Ausnahme von Cunomar und Ardacos, die als
gefährlich galten und daher von den anderen getrennt gehalten
wurden, wurde die Familie des verstorbenen Königs über Nacht in
dessen Schlafgemach eingesperrt, nachdem zuvor das Bett sowie die
Truhe, die einmal Geld enthalten hatte, hinausgeschafft und
verbrannt worden waren. In einer Ecke der Kammer lag noch eine
kleine Bronzefigur in Form eines Pferdes, die wohl keiner hatte
haben wollen oder die bei der Durchsuchung vielleicht einfach
übersehen worden war.
Noch niemals zuvor war Breaca gefangen gehalten
worden. Doch war die Gefahr, den Römern in die Hände zu fallen,
stets gegenwärtig gewesen, und stets hatte Breaca im Stillen
bereits damit gerechnet. Daher hatte sie sich vor jedem der
nächtlichen Überfälle, die sie damals im Westen verübt hatte, vor
jeder Schlacht dazu gezwungen, sich die Gefangenschaft vorzustellen
- die Gefangenschaft und das, was zwangsläufig darauf folgen
würde.
Dennoch war die Realität unendlich viel härter, als
sie es sich jemals hätte ausmalen können; nicht unerträglich, aber
doch beinahe. Breacas Respekt vor Cygfa und Cunomar, die damals in
Rom etliche Monate im Gefängnis ausgehalten hatten - noch dazu
stets mit dem wartenden Tod vor Augen -, wurde von Augenblick zu
Augenblick größer.
Da in Tagos’ Schlafkammer kein Feuer brannte, war
es dunkel und stickig in dem Raum. Breaca hatte sich zunächst eine
Weile gegen die Wand gelehnt, dann setzte sie sich auf den Fußboden
und zog die Knie bis zur Brust hoch, damit ihre Füße nicht gegen
die eines ihrer Mitgefangenen stießen und ihn störten.
Ungestörtheit war wichtig, wie Breaca bald herausfand, bildete sie
doch die einzige, noch halbwegs ausgleichende Kraft zu dem schier
erdrückenden Gefühl der räumlichen Enge und der fehlenden
Möglichkeit, sich zurückziehen zu können.
Auch ohne zu fragen wusste Breaca genau, wo um sie
herum sich die anderen befanden. Airmid hockte dicht neben ihr, so
dass jede von ihnen den Herzschlag der anderen spüren konnte; in
diesem Fall spielte die fehlende Distanz keine Rolle. Breaca direkt
gegenüber wiederum saß Cygfa, und links von Cygfa, in einigem
Abstand, saß Gunovar; beide schwiegen, denn nur so ließ sich die
Angst verbergen und noch ein letzter Rest von innerer
Widerstandskraft bewahren. Nur indem sie nicht miteinander
sprachen, konnten sie die Illusion der Furchtlosigkeit
aufrechterhalten. Erst wenn sie einander berührten oder wenn sie zu
sprechen versuchten, würde offensichtlich werden, dass ein jeder
von ihnen am ganzen Körper zitterte - ein kleiner, unaufhörlicher
Tremor, den man nicht vollkommen unterdrücken konnte, sondern nur
erdulden und einigermaßen in Grenzen halten, so dass man ihn bis
zum kommenden Morgen vielleicht so weit unter Kontrolle hatte, dass
die anderen nichts davon bemerkten.
An den kommenden Morgen zu denken, half jedoch auch
nicht; ganz im Gegenteil. Breaca drückte ihr Rückgrat fest gegen
das Holz und zwang sich, ihre Gedanken von der Zukunft abzuwenden.
Stattdessen dachte sie an Essen und an Wasser, an das dringende
Bedürfnis zu urinieren, an die Kälte der Wand und an das Gewicht
des Torques der Ahnen um ihren Hals. Mittlerweile bedauerte sie es,
den Reif nicht doch Dubornos gegeben zu haben, damit dieser ihn für
Graine und für die Zukunft verwahren könnte, ganz gleich, wie sehr
die Ahnin auch dagegen gewettert haben mochte. Nun würde der
Prokurator den kostbaren Reif an sich nehmen - vor oder nach ihrem
Tod. Eingeschmolzen und zu Goldmünzen verarbeitet würde der Torques
so viel einbringen, dass man davon ein halbes Jahr lang eine halbe
Zenturie bezahlen konnte. Oder eine komplette Zenturie für ein
Vierteljahr. Oder eine achtköpfige Zeltbelegung für...
»Warum sollten sie sich eigentlich überhaupt noch
die Mühe machen, ein Gerichtsverfahren gegen uns einzuleiten?«
Diese Frage kam von Gunovar. Irgendwo unweit von Breaca ertönte
ihre Stimme aus der Dunkelheit, und sie klang durchaus fest.
»Nur fürs Protokoll, um der Sache wenigstens noch
einen Anschein von Rechtmäßigkeit zu verleihen«, erklärte Breaca.
»Wir sind schließlich die Familie eines Königs. Sie werden also
wollen, dass es nach außen hin so aussieht, als ob wir vollkommen
gesetzeskonform verurteilt worden wären. Unbedeutende Menschen mit
unbedeutenden Göttern tun nur selten etwas, was nicht
nachvollziehbar ist. Cygfa, war es damals in Rom auch so wie
jetzt?«
»Wenn man den halben Monat unberücksichtigt lässt,
den wir auf der Reise dorthin im Rumpf eines Schiffes eingekerkert
waren; und die Ärzte, die im Anschluss daran darauf bestanden, uns
einer mehr als eingehenden Untersuchung zu unterziehen; und die
zwei Monate des Wartens, während der sie Caradoc und Dubornos
mehrfach folterten...Wenn man alles das nicht mitzählt, ja, dann
war es ziemlich genauso wie jetzt auch. In Rom gaben sie uns
allerdings zu essen, und sie gaben uns Wasser. Sonst wären wir
gestorben.« Cygfa brachte es trotz allem irgendwie fertig, trocken
amüsiert zu klingen. »Auch das Zittern hört schließlich irgendwann
wieder auf, ungefähr nach dem zweiten Monat. Ein Mensch kann eben
nur ein begrenztes Maß an panischer Angst aushalten. Danach nimmt
man die Panik einfach nur noch zur Kenntnis, reagiert aber nicht
mehr körperlich darauf.«
Es schien ganz so, als könnte es entgegen Breacas
ursprünglicher Vermutung doch nicht schaden, wenn sie miteinander
sprachen, sich über ihre derzeitige Lage und ihre Gedanken und
Gefühle austauschten. Eine Angst, die man offen bekennen konnte,
wurde zumindest ein wenig erträglicher. Breaca meinte: »Mit etwas
Glück sollten wir aber eigentlich schon lange vorher zu den in
Brigas Obhut weilenden Großmüttern eingegangen sein.«
Cygfa schnaubte leicht belustigt. »Das können wir
nur hoffen. Denn Julius Cäsar hielt beispielsweise Vercingetorix,
den Kriegsherrn der Gallier, volle sieben Jahre lang im Kerker
gefangen, ehe er ihn schließlich hinrichten ließ. Doch ich glaube
nicht, dass unser Prokurator derart viel Geduld besitzt.«
»Oder sein Kaiser.«
»In der Tat«, stimmte Gunovar zu. »Obgleich es
besser wäre, wenn er nicht herausfände, dass du die Bodicea bist.
Dann nämlich bestände die Gefahr, dass seine Geduld plötzlich doch
noch sehr viel größer würde und dass damit du - und folglich auch
wir - noch sehr viel länger leben würden.«
Einen kurzen Moment lang herrschte entsetztes
Schweigen. Schließlich entgegnete Breaca: »Danke. Vergessen wir
also einfach, wer ich bin. Überhaupt gehe ich davon aus, dass sie
uns keine Fragen stellen werden, es sei denn, sie glauben, wir
hätten Antworten zu verbergen.«
»Und wenn sie uns doch verhören«, fügte Gunovar an,
»dann sucht den Tod in der Art und Weise ihres Verhörs. Euer Körper
wird zwar danach trachten, am Leben zu bleiben, aber gleichwohl
werden euch auch die Wege zum Tod offen stehen - wenn ihr die Kraft
besitzt, sie einzuschlagen.«
»Wir können es zumindest versuchen.«
Nun hatten sie das Schlimmste laut beim Namen
genannt, und es ging ihnen dadurch keineswegs schlechter.
Anschließend sprachen sie über Rom, und Gunovar erzählte von ihrem
Aufenthalt in der Festung der Zweiten Legion im Südwesten und von
den Verhören, denen sie damals unterzogen worden war; und es lag
ein eigenartiger Trost in der Erinnerung an Schmerzen, die vorbei
und ausgestanden waren, in dem Gedanken daran, dass einfach alles
mit der Zeit verging; wenn bloß das Warten nicht so quälend
wäre.
Die Einzige, die sich nicht an der Unterhaltung
beteiligte, war Airmid. Sie saß so dicht neben Breaca, dass diese
fühlen konnte, wie sich Airmids Brust bei jedem Atemzug hob und
senkte. Ihr Atem ging langsamer als im Schlafzustand und schneller
als im Sterben, aber auch nur gerade eben, was bedeutete, dass
Airmid gerade in einen Traum versunken war, und das war gut so;
jede Flucht vor der Gegenwart war gut.
Cygfa hatte gerade angefangen, von der Prozession
durch Rom zu berichten, die angeführt worden war von Valerius, der
früher einmal Bán geheißen hatte, und davon, wie die Geister seiner
Vergangenheit über ihn hergefallen waren, auch wenn sie für die
Legionen unsichtbar blieben, als Airmid plötzlich keuchend nach
Luft schnappte und den Atem dann ebenso abrupt und hörbar wieder
ausstieß.
»Sie kommt!«
»Wer?«
»Jetzt. Sie bringen sie gerade hierher. Hast du
noch das Messer?«
Es war eindeutig die schlimmste aller denkbaren
Vorwarnungen und zugleich doch auch die beste, die es überhaupt
geben konnte, welche Airmid ihr da gerade aus dem tiefsten Inneren
des Traums sandte. Und sie verschaffte Breaca die nötige Zeit, um
sich aus dem gähnenden Loch herauszuhieven, das plötzlich in ihre
Brust gerissen worden war, und um eine unbeteiligte Miene
aufzusetzen, sich vom Fußboden zu erheben und vollkommen ruhig und
gelassen zu erscheinen, während das Trampeln von Stiefeln näher kam
und das Licht einer brennenden Fackel zuerst die Ritzen des
Türrahmens erhellte und dann den Eingang. Schließlich wurde die Tür
aufgestoßen, um eine Gestalt mit Haar von der Farbe von Ochsenblut
zu enthüllen, mittlerweile zottelig und verklebt von menschlichem
Blut und Schweiß und stramm mit einem Tuch zusammengebunden, das
auch den kleinen Mund verhüllte, damit sie nicht hatte schreien
können, um ihre Mutter zu warnen.
Graine war also doch nicht in Sicherheit.
Vielmehr stürzte sie in genau diesem Moment auf den
Boden von Prasutagos’ Schlafkammer und wand sich verzweifelt, um
nicht mit dem Gesicht im Dreck zu landen. Ihre Hände waren hinter
ihrem Rücken zusammengebunden, und ihre Tunika war schmutzig, mit
einem dreieckigen Riss an jener Stelle, wo man ihr die
Schlangenspeer-Brosche abgerissen hatte.
»Deine eigene Tochter ist ja im vergangenen Winter
gestorben.« Der Prokurator stand in der offenen Tür. »Demnach wirst
du also sicherlich nichts dagegen einzuwenden haben, wenn wir
dieses Kind hier morgen früh foltern, um herauszufinden, wer seine
Eltern sind und wo sie sich versteckt haben.«
»Dies ist meine Tochter.« Breaca weinte jetzt, doch
es kümmerte sie nicht. Wozu sich noch verstellen, wozu noch die
Gelassene spielen? Es hatte ja doch alles keinen Zweck mehr. Der
Torques um ihren Hals schien plötzlich enger geworden zu sein, oder
vielleicht war auch bloß ihre Kehle vor lauter Kummer und Schmerz
angeschwollen. Durch einen Schleier von Tränen und Angstschweiß
erklärte sie: »Ich habe gelogen. Es ist ganz eindeutig so, dass
meine Tochter nicht gestorben ist. Ich kann Euch diejenigen unter
Euren Männern zeigen, die uns beide bei der Unterzeichnung des
Testaments des verstorbenen Königs sahen und die dies bezeugen
können. Wenn Euch dadurch also Unannehmlichkeiten entstanden sind,
so ist das allein meine Schuld.«
Breaca kniete sich auf den Boden, hob ihre Tochter,
Sonne ihres Herzens, an ihre Brust und zog ihr den Knebel aus dem
Mund. Graine vergrub ihr Gesicht in der Halsbeuge ihrer Mutter und
benetzte deren Haut mit ihren Tränen und dem aus ihrer Nase
rinnenden Schleim.
Dort - zu gedämpft, als dass die Umstehenden ihre
Worte hätten verstehen können - sagte sie: »Es tut mir Leid, es ist
einzig und allein meine Schuld. Ich wollte hierher zurückkommen und
hatte zu Nemain gebetet, dass sie mir einen Weg zeigt, aber sie
wollte mir nicht helfen. Da habe ich zu der Träumerin der Ahnen
gebetet, zu der, die den Schlangenspeer hält, und dann ist Dubornos
eingeschlafen. Da habe ich sein Pferd genommen, es kannte den Weg
nach Hause. Dann bin ich runtergefallen, und jemand hat mich
gefunden. Es ist alles meine Schuld. Es tut mir so Leid!«
»Es ist nicht deine Schuld. Es ist nicht.... Ich
habe dich sehr lieb. Es ist meine Schuld. Ich hätte dich niemals
wegschicken dürfen. Es tut mir Leid, so unendlich Leid...«
Breaca sprach zuerst Eceni, fiel dann wieder zurück
in die Sprache der Ahnen, weil es nur in dieser Sprache die
entsprechenden Worte gab, um ihrem Schmerz Einhalt zu gebieten und
zu verhindern, dass er sie beide am Boden zerstörte. Fast blind vor
Tränen nahm sie daher erst jetzt wahr, dass der Prokurator noch
immer in der Tür stand und sie beide beobachtete.
Er fing ihren Blick auf und nickte. »Ein
entzückendes Kind.« Er hielt die Fackel ein wenig schräg, so dass
ihr Licht auf Mutter und Tochter zugleich fiel. »Die Söhne des
Senators hätten sich bestimmt über sie gefreut. Ich nehme mal an,
sie hat noch kein eigenes Kind zur Welt gebracht?«
»Sie ist erst acht Jahre alt!«
»Ach ja, natürlich. Der Präfekt, Corvus, erwähnte
etwas in dieser Art, als ich neulich in Camulodunum mit ihm sprach.
Er scheint die Kleine ebenfalls gern zu haben. Wirklich ein Jammer,
dass er in den Westen abkommandiert worden ist, um den Krieg des
Gouverneurs zu verstärken. Und du....« Er hob die Fackel ein
Stückchen höher, so dass ihr Licht nun auf Cygfa fiel. »Man hat mir
erzählt, dass die Eceni nicht heiraten, aber ich glaube nicht, dass
du keusch lebst. Hast du schon einmal ein Kind zur Welt
gebracht?«
Cygfa war plötzlich kreidebleich geworden, und
gelblich traten die Knöchel ihrer krampfhaft miteinander
verschränkten Finger unter ihrer Haut hervor.
Breaca, die nicht verstand, worauf der Prokurator
hinauswollte, antwortete für sie: »Nein, Cygfa hat noch keine
Kinder geboren.«
Sie ist die Tochter ihres Vaters, die
wandelnde Verkörperung von Feuer und Leidenschaft, aber sie hat
sich nie einen Geliebten genommen, denn damit hätte sie Dubornos
unsäglichen Schmerz zugefügt, und sie hängt viel zu sehr an ihm, um
ihm das antun zu können.
»Meine Mutter sagt die Wahrheit.« Sehr ruhig
und mit einer Bosheit, die aus Furcht geboren war, fügte Cygfa
hinzu: »Es steht Euch aber natürlich frei, Euren Arzt hinzuziehen,
um es Euch von ihm bestätigen zu lassen.«
Der Prokurator starrte sie einen Moment lang
schweigend an. Nachdenklich befeuchtete er seine Lippen. »Ich
glaube nicht, dass das nötig sein wird. Ich bin bereit, mich mit
der Versicherung deiner Mutter zufrieden zu geben.«
Damit schloss er die Tür, und es wurde wieder
finster.
»Cygfa?« Cyfga schluchzte, laut und heftig; sie
versuchte zwar krampfhaft, das Schluchzen zu unterdrücken und still
zu sein, schaffte es jedoch nicht. Gunovar, die ihr am nächsten
saß, hielt sie tröstend in den Armen, während Breaca mit den fest
verknoteten Stricken kämpfte, mit denen Graines Handgelenke noch
immer zusammengebunden waren. »Cygfa, was ist denn? Was hast
du?«
Gunovar antwortete an Cygfas statt. »Sie können
eine Jungfrau nicht hinrichten. Es ist eine Versündigung gegenüber
ihren Göttern und somit ein Verstoß gegen ihre Gesetze.«
»Was? Was für einen Unterschied macht es denn
schon, ob... Andererseits, wenn das stimmt, dürfen Graine und
Cygfa...«
»...nicht mehr unberührt sein, wenn es für sie ans
Sterben geht. Und für eine ganze Kompanie von Männern ist es
wahrhaftig keine Schwierigkeit, dafür zu sorgen, dass ein Mädchen
keine Jungfrau mehr ist, bevor sie stirbt. Sie würden es zwar
sowieso tun, nur dass sie’s in diesem Fall auch noch in
Übereinstimmung mit dem Gesetz tun.« Gunovars Stimme klang tonlos
und gepresst, bar all der Ironie, die sie für gewöhnlich so
lebendig machte. Die Worte wirkten wie Gift, und dennoch sprach sie
sie aus, denn einer musste es tun.
Mit allergrößter Kraftanstrengung zwang Cygfa sich,
ihre Tränen zurückzudrängen. Dann holte sie einmal tief Luft und
sagte: »Es tut mir Leid. Es sollte eigentlich keine Rolle mehr
spielen. Im Grunde spielt es auch tatsächlich keine Rolle mehr. Es
ist nur eine weitere Sache, die zu allem anderen noch dazukommt,
und somit letztendlich wiederum bedeutungslos. Bis morgen werde ich
seelisch darauf vorbereitet sein.«
»Cygfa?« Breaca konnte nur noch flüstern.
Zehn volle Jahre lang hatte sie geglaubt, dass Cygfa sich aus
Mitleid mit Dubornos keinen anderen Mann zum Geliebten genommen
hatte; die Wahrheit aber war noch schwerer zu glauben: dass
Caradocs Tochter drei Monate als Gefangene in Rom verbracht und
dabei Nacht für Nacht wach gelegen hatte, während sie sich
innerlich gegen einen Morgen wappnete, der unweigerlich kommen
musste.
Zwar war dieser Morgen in Rom letztendlich nie
gekommen, aber allein das Warten darauf hatte genügt, um sie
seelisch zu brechen - das und die eingehenden körperlichen
Untersuchungen durch Männer, die studiert hatten, um Kranke und
Verletzte zu heilen, stattdessen aber gezwungen gewesen waren,
Menschen zu verstümmeln. Es steht Euch aber natürlich frei,
Euren Arzt hinzuzuziehen, um es Euch von ihm bestätigen zu
lassen. Genauso, wie dies bereits die Ärzte in Rom getan
hatten.
Mit einem Mal fiel Breaca die Entscheidung sehr
leicht. Einst, in einer Höhle, hatte die Träumerin der Ahnen ihr
ein Angebot gemacht. Ich verspreche dir gar nichts. Nur dass ich
bei dir sein werde und dass ich dir, wenn du dich danach sehnst,
wenn du mich darum bittest, den Tod schenken kann - oder dich am
Leben erhalte, was dann aber möglicherweise ganz und gar
nicht nach deinem Willen sein könnte. Es war also an der Zeit,
dieses Angebot anzunehmen, und wenn auch nicht für sie selbst, so
doch auf jeden Fall für andere.
»Du wirst bis morgen nicht darauf vorbereitet sein.
Das ist völlig zwecklos und außerdem auch gar nicht nötig.«
Breaca erhob sich. Die Knoten an Graines Fesseln
waren gelöst. Die Schwellung an Graines linker Schläfe, die von
Breacas Schlag mit dem Messerheft herrührte, hatte mittlerweile die
Größe eines Amseleis angenommen und fühlte sich heiß an. Die Kleine
war von einer fieberhaften Aufregung erfasst und klammerte sich mit
ihren kleinen Händen verzweifelt an ihre Mutter. Ihr hektisch
pochendes Herz schlug unregelmäßig gegen Breacas Brust, und sie
weinte derart heftig und haltlos, dass sie keinen zusammenhängenden
Satz mehr hervorzubringen vermochte, sondern immer nur ihre Worte
von zuvor wiederholen konnte: »Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Es
tut mir so Leid …«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist
gut, dass du hier bist. Ich liebe dich. Und wir sind keineswegs
machtlos.« Liebevoll strich Breaca ihrer Tochter das wirre,
verschwitzte Haar aus den Augen und küsste sie auf die Lider. Es
war stockdunkel, daher brauchte sie keine betont gelassene Miene
aufzusetzen; sie musste nur ihre Stimme unter Kontrolle bringen,
damit sie sich nicht etwa so anhörte, als wäre sie von panischer
Angst erfasst oder gar verzweifelt.
Und überhaupt empfand sie tatsächlich weder Angst
noch Verzweiflung, sondern war einfach nur müde und zermürbt von
Kummer und Schmerz, so dass es ihr ungeheuer schwer fiel, zu jenem
Ort in ihrem Inneren vorzudringen, an dem sich die Ahnin
niedergelassen hatte, und diese nun um die Kraft zu bitten, die
sie, Breaca, brauchte, um zu tun, was getan werden musste. Als sie
sich damals in Camulodunum diese letzte verzweifelte Lösung
überlegt hatte - bei hellem Tageslicht und rundherum umgeben von
Männern und Frauen und den Fassaden Roms, da war ihr die Ausführung
erheblich leichter erschienen. Damals hatte Graine sie noch davon
abgehalten, und Corvus - in aller Freundschaft - und die Träumerin
der Ahnen hatten dabei noch keine Rolle gespielt.
Nun aber ließ Breaca ihre Finger langsam am
Rückgrat ihrer Tochter hinaufgleiten und weiter zu jener Stelle
oben im Nacken, wo Wirbelsäule und Kopf aufeinander trafen, während
sie angestrengt versuchte, ruhig weiterzuatmen und vollkommen
gelassen zu erscheinen. An jenen Ort in ihrer Seele gewandt, wo der
Wind der Götter am stärksten wehte, sprach sie: Ich bitte dich
nun um deine Hilfe, so wie du wolltest, dass ich es tue. Und ich
nehme dein Angebot des Todes an.
Sie glaubte nicht, dass sie laut gesprochen hatte,
dennoch packte Airmid plötzlich ihr Handgelenk. »Breaca, du kannst
das nicht für einen anderen Menschen erbitten! Jeder von uns muss
seinen eigenen Frieden mit den Göttern schließen, wenn er sterben
möchte.«
»Selbst Graine?«
»Ganz besonders Graine. Hör auf das, was die Ahnin
sagt.«
Breaca versuchte es und hörte doch nichts außer dem
tosenden Lärm von Schmerz und Verzweiflung und der drohenden Nähe
einer Panik, wie sie sie in Schlachten niemals empfunden hatte,
noch nicht einmal an jenem Tag vor vielen Jahren, als sie die
Nachricht erreichte, dass Caradoc den Römern in die Hände gefallen
war. Breaca holte tief Luft und sagte: »Könnten wir nicht... Ach,
gütige Götter, können sie uns denn nicht endlich mal in Ruhe
lassen?«
Draußen liefen Wachen mit brennenden Fackeln hin
und her. Eine Stimme - Cunomars? - rief irgendetwas. Im nächsten
Moment flog krachend die Tür auf, und greller Fackelschein fiel in
den Raum. Auf der Türschwelle stand der Prokurator, hell
angeleuchtet von den rechts und links von ihm lodernden
Flammen.
Er spähte in den Raum hinein und fragte: »Noch am
Leben? Und das Kind? Gut.« Dann winkte er Männer zu sich, die mit
Stricken herbeigeeilt kamen. »Fesselt sie. Schafft das Kind raus.
Schnell!«
Es war nur ein kleiner Raum, er war zu voll, und es
geschah alles zu schnell. Und zu früh. Drei Männer stürzten sich
auf Breaca. Erbittert kämpfte sie gegen sie an, während sie
zugleich für sich selbst und für Graine den Tod suchte. Die Wege
zum Tode werden euch offen stehen, wenn ihr nur die Kraft besitzt,
sie einzuschlagen. Mit ihrem Unterarm zerquetschte sie einem
ihrer Angreifer die Luftröhre, und gerade hieb sie mit ihren
Fingernägeln nach den Augen eines anderen, als urplötzlich ein
Blitz in ihrem Schädel explodierte und alles um sie herum dunkel
wurde und der Boden und die Wände auf sie einstürzten und das
Gewicht von Graines Körper, das sie gerade eben noch gespürt hatte,
plötzlich nicht mehr da war.
Grobe, hart zupackende Hände rollten Breaca auf den
Bauch, fesselten ihr die Handgelenke auf dem Rücken und drehten sie
dann wieder herum. Neben ihrer Schulter stand der Prokurator und
blickte hinab in ihr Gesicht. »Unser Coritani-Kundschafter hat sich
wahrlich selbst übertroffen. Er hat allen Grund, dich zu hassen,
denke ich, und allen Grund, um auf Rache zu sinnen. Und die wird er
auch bekommen, das habe ich ihm versprochen. Außerdem behauptet er,
du wärst früher eine Kriegerin von hohem Ansehen gewesen?«
Es wäre besser, wenn er nicht herausfände, dass
du die Bodicea bist. Eine nach der anderen wurden die
schützenden Mauern ihres Lebens niedergerissen. Breaca spuckte den
Mann an, der nun über ihr stand.
Der Prokurator jedoch wich rasch einen Schritt
zurück, blieb auf diese Weise von dem Speichel verschont, und fuhr
fort: »Der Kundschafter war der festen Überzeugung, dass du - wenn
man dich allein ließe - das Kind töten würdest und möglicherweise
auch die anderen. Ich muss sagen, ich bin froh, nun feststellen zu
dürfen, dass du doch keine so herausragende Kriegerin bist, wie er
glaubte.«
Er trat zur Seite, um die Wachen hinauszulassen,
die Breacas Mitgefangene gefesselt und geknebelt hatten und nun
eine schreiende, tobende Graine gepackt hielten. In geradezu
liebenswürdigem Ton sagte der Prokurator: »Es wird bald vorbei
sein. Morgen. Oder vielleicht auch erst übermorgen. Ich musste erst
noch jemanden nach Camulodunum schicken, um das Holz für die Kreuze
holen zu lassen, an denen wir euch aufrichten werden. Dumm von mir.
Eigentlich hätte ich gleich daran denken können, welches
mitzubringen.«
Er trat wieder in den Gang hinaus, wischte sich
dabei die Finger an seiner Tunika ab. Die Tür fiel hinter ihm zu.
Breaca lag, nur halb bei Bewusstsein, in der beengten Dunkelheit
der Schlafkammer, hilflos dem mörderischen Schmerz in ihrem Kopf,
ihren Rippen und ihren Nieren ausgeliefert, in ihren Ohren die
gellende Stimme ihrer Tochter, die wieder und wieder voller
Verzweiflung nach ihrer Mutter schrie, und dann die jähe Stille,
als jemand Graine den Mund zuhielt.
Breaca unternahm keinerlei Versuch mehr, die Ahnin
zu erreichen. Sie bemühte sich auch nicht, nun noch einen Weg zu
finden, um Zuflucht zu einem vorzeitigen Tod zu nehmen. Denn Graine
war in Gefahr. Das war das einzig Wichtige. Alles andere spielte
keine Rolle mehr.