XXIII
Als Valerius erwachte, blickte er geradewegs in
ein Feuer und hörte das Geräusch von grasenden Pferden. Über ihm am
Himmel funkelten Sterne, und neben ihm lag der Hund, drückte sich
gegen Valerius’ verletzte Rippen. Das leise, eindringliche Winseln
des Tieres hinderte Valerius daran, wieder einzuschlafen.
Er hatte schon ganz vergessen, wie es sich
anfühlte, steif und übersät von Wunden aufzuwachen; sich davor zu
fürchten, mit der Bestandsaufnahme seiner Verletzungen zu beginnen.
Sein Leben als Schmied auf Hibernia war so friedvoll gewesen und so
angenehm frei von jeglichen Kampfeswunden.
Doch er hatte eine bestimmte Vorgehensweise, die in
der Vergangenheit stets funktioniert hatte, und auch jetzt war sie
zumindest einen Versuch wert. Er atmete tief ein, hielt dann die
Luft an, überprüfte den Zustand seiner Rippen - und stellte fest,
dass keine von ihnen gebrochen war. Dann zog er die Beine an, nur
ein bisschen, und entschied, dass wahrscheinlich auch seine
Kniescheiben nicht zertrümmert waren und ebenso wenig seine
Ellenbogen oder die beiden parallel verlaufenden Knochen seiner
Unterarme. Sein Schädel schmerzte zwar fürchterlich, doch auch der
war noch unversehrt. Als Valerius seine Erkundungen schließlich
über seinen Körper hinaus ausdehnte, erkannte er, dass er Kleidung
trug und dass jemand neben ihm saß, der eine Schüssel mit nach
Schaffleisch und Lorbeer duftender Fleischbrühe in den Händen
hielt. Langsam setzte er sich auf.
Nicht weit von ihm entfernt hustete ein Mann. Ein
anderer verlagerte ein wenig das Gewicht, so dass seine Rüstung
leise klirrte. Auf diese Weise ließ Valerius’ ehemalige Truppe ihn
wissen - ohne jedoch dabei aufdringlich zu sein -, dass sie über
ihn wachte. Wenn sie sich noch immer so miteinander arrangierten,
wie er es sie gelehrt hatte, würden jetzt vier von ihnen schlafen
und die anderen vier hielten Wache, in einem Kreis verteilt und mit
dem Offizier in der Mitte, der auf das Feuer Acht gab.
Und so war es auch. Longinus saß auf einem
umgefallenen Baumstamm, die Schüssel mit der Fleischbrühe in beiden
Händen und die Hände wiederum auf die Knie gestützt. Es war nicht
ganz klar, ob auch er den Hund sehen konnte. Longinus’ Augen
jedenfalls schimmerten im Licht des Feuers geradezu gelblich. Aber
andererseits waren sie auch bei Tageslicht fast bernsteingelb; er
hatte schon immer den Blick eines Falken gehabt. Aber dieser Blick
schien nun allzu hart und durchbohrend und war dem Mann, auf den er
gerichtet war, keineswegs angenehm.
Valerius presste die Handballen auf die Augen. Erst
nachdem die Welt für ihn zunächst schwarz geworden war und
schließlich wieder weiß, nahm er die Hände fort und sprach leise:
»Sie werden dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen und dir dann
eine Kette aus deinen Augäpfeln umlegen. Priscus und die anderen
werden an deiner Seite sterben. Kein vernünftiger Offizier setzt
seine Truppe einem solchen Risiko aus.«
»Danke. Dessen bin ich mir wohl bewusst.« Longinus
lächelte noch immer nicht, und das war ein neues Verhalten an ihm;
in der Vergangenheit war er stets gut gelaunt gewesen, selbst nach
Caradocs Gefangennahme, als Valerius seine Zuflucht im Wein gesucht
hatte und das Verhältnis zwischen ihnen getrübt worden war.
Der Thraker tauchte einen Finger in die
Fleischbrühe und leckte ihn anschließend ab. »Hast du eigentlich
tatsächlich die Höhle des Stiermörders entweiht, so wie du erzählt
hast?«
»Sie war entweiht, als ich dort ankam. Ich habe sie
wieder in den Zustand zurückversetzt, in dem sie war, als wir sie
das erste Mal sahen. So, wie sie gestern aussah, hättest du sie
nicht wiedererkannt, ganz zu schweigen davon, dass es dir gefallen
hätte.«
»Wahrscheinlich nicht, andererseits ist meine
Meinung in dieser Angelegenheit wohl kaum von Bedeutung. Hat es
denn den Gefallen des Gottes gefunden?«
»Ich denke schon, aber spätestens dem Gouverneur
wird es wohl nicht mehr gefallen, wenn er herausfindet, dass die
von ihm in Auftrag gegebenen Aufbauten alle wieder abgerissen
wurden.«
»Es könnte aber ebenso gut auch sein, dass das gar
nicht der neue Gouverneur gewesen ist, der diese ›Aufbauten‹ hat
errichten lassen, sondern dass es der Lagerpräfekt der Zwanzigsten
Legion war. Der mittlerweile übrigens tot ist.«
Valerius blinzelte. »Ich verstehe.«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob du das tatsächlich
verstehst. In dieser speziellen Legion war es nämlich der Präfekt,
der die Spione überwachte, die uns von den Ratsversammlungen der
Eingeborenen berichten; besonders den Versammlungen der Silurer.
Vor einem Monat wurde er von dreien ihrer Krieger umgebracht. Alle
drei haben sogar ihr Leben dafür gegeben, dass er stirbt.«
»Das war aber nicht mein Werk.«
»Ich habe auch nichts dergleichen behauptet. Ich
erwähne das bloß, weil der letzte der Krieger kleine Ölfläschchen
mit sich brachte, die er in den Unterkünften des Präfekten in Brand
steckte. Es dauerte einige Zeit, ehe man das Feuer wieder unter
Kontrolle bekam. Die Folge davon ist jedenfalls, dass die
Aufzeichnungen über die geheimen Mitarbeiter des Präfekten und
deren Tätigkeiten nun nicht mehr ganz so vollständig sind, wie sie
es sein sollten.«
Nun lächelte Longinus wieder, und es war das
altbekannte Lächeln, strahlend, lebendig und scharfsinnig, so dass
man ahnen konnte, dass sich hinter diesem Lächeln ein wacher
Verstand verbarg. Dieses Lächeln schmerzte Valerius nun auf eine
Weise, wie er es wahrlich nicht erwartet hatte. Er atmete langsam
ein, dann wieder aus und blies dabei sacht über die Spitzen seiner
aneinander gelegten Finger.
Schließlich sagte er: »Longinus, ich werde wegen
Verrats gesucht. Noch am gleichen Tag, als man Nero das erste Mal
als den neuen Kaiser bejubelte, hat er den Haftbefehl persönlich
unterzeichnet. Daran gibt es nichts zu rütteln. Du kannst den
Inquisitoren von mir aus erzählen, dass ich jede einzelne
Versammlung des Ältestenrats bespitzelt habe, die je seit der
Invasion auf Mona stattgefunden hat, du kannst ihnen sagen, dass
ich jede Einzelheit wortwörtlich und dem Gouverneur persönlich
übermittelt habe - trotzdem werden sie dich dafür kreuzigen, dass
du mich hast entwischen lassen.«
»Verrat?« Longinus gab sich überrascht. »Das wäre
dann aber wirklich ungerecht. Ich dachte, du wärst der Liebling
jedes Kaisers. Claudius glaubte allen Ernstes, dass in deinem
Schatten die Götter wandelten, und selbst Caligula hatte behauptet,
dass du ihm Glück brächtest. Was, um alles in der Welt, hast du
denn bloß getan, um Nero so gegen dich aufzubringen?«
Valerius grinste. Longinus hatte es von jeher
verstanden, ihn wieder aufzumuntern. Er erwiderte: »Ich habe seinem
Lieblingskurier die Kehle durchgeschnitten. Und ich habe - denn
Claudius selbst hatte mich darum gebeten - Caradoc aus Rom
rausgeschafft.«
»Ah. Dann warst du das also? Ich hatte mich schon
gefragt. Solcherlei Neuigkeiten sprechen sich nur schwer herum; die
Männer verbreiten eben nicht gerne Nachrichten, für die man sie
leicht wegen Aufwiegelei auspeitschen könnte.« Longinus tauchte
abermals einen Finger in die Fleischbrühe und saugte daran. »Bist
du so hungrig, wie du... Ja, natürlich bist du das. Hier... iss
das, und dann will ich mal sehen, ob Priscus noch immer so eitel
ist, dass er einen Spiegel mit sich herumschleppt.«
Die Fleischbrühe schmeckte genauso gut, wie sie
duftete. Valerius hatte bereits vergessen, wie es war, in der
Gesellschaft von Männern zu essen, denen er guten Gewissens sein
Leben anvertrauen konnte. Er war zerschunden, mit Wunden übersät
und des Kämpfens müde, und dennoch entspannte er sich so
vollkommen, wie er sich schon seit Jahren nicht mehr entspannt
hatte. Eine Reizbarkeit fiel von ihm ab, von der er gar nicht
gewusst hatte, dass er sie in sich trug; und dieses Gefühl war der
ersten Woge des Friedens, die er früher im Wein gefunden hatte,
nicht unähnlich. Das Elend an dieser Woge des Friedens war
allerdings stets gewesen, dass sie nie lange angehalten
hatte.
Longinus kehrte wieder zurück, ein kleines, rundes,
bronzenes Plättchen in der Hand.
Valerius hielt mit einem Löffel voller Fleischbrühe
auf halbem Wege zu seinem Mund inne. »Ich nehme mal an, das ist
Priscus’ Spiegel. Aber mal abgesehen davon, um meine Verletzungen
zu bewundern, wozu sollte ich den brauchen?«
»Weil ich denke, dass du in letzter Zeit wohl
keinen mehr zur Hand genommen hast. Komm näher an das Feuer heran
und sieh, ob du überhaupt noch erkennst, was du siehst.«
Valerius hatte sich zum ersten Mal selbst gesehen,
als er noch ein Kind gewesen war und der Händler Arosted einen
silbernen Spiegel für Valerius’ Mutter mitgebracht hatte. Der
Spiegel sollte den Visionen als Tor dienen, wie die meisten
Spiegel, doch der dreijährige Bán hatte dennoch einen kurzen Blick
hinein erhaschen können und war mit dem, was er gesehen hatte,
recht zufrieden gewesen; er hatte nämlich große Ähnlichkeit mit
seiner Mutter gehabt. Er dachte damals, seine Augen sähen genauso
aus wie die ihren, und auch sein Haar war genauso schwarz gewesen,
was gut so war, und selbst die Form seines Gesichts hatte dem
seiner Mutter stärker geähnelt, als es bei seiner Schwester jemals
der Fall gewesen war.
Noch Monate später hatte er sich seiner Mutter
dadurch näher gefühlt, wenngleich der Spiegel schon längst wieder
unter ihren geheimen Sachen versteckt worden war und er sein
Spiegelbild nicht eher wiedergesehen hatte, bis er als Sklave in
einer Villa in Gallien gearbeitet hatte. Diese Villa hatte einem
Mann gehört, der berühmt gewesen war für seine Eitelkeit und dessen
Wohnsitz wiederum Bekanntheit erlangte wegen der Anzahl und der
Qualität seiner Spiegel, von denen allerdings keiner das Tor zu
einer Vision gewesen war.
Damals war Valerius um ein Vielfaches gealtert,
mehr als um die Summe seiner Jahre; er hatte sich zu oft gesehen,
ohne sich eigentlich sehen zu wollen. Zu jener Zeit war er noch
schlanker gewesen, und die scharfen Bögen seiner Wangenknochen
waren durch die dunklen Ringe der Erschöpfung und der Verzweiflung
unter seinen Augen nur noch stärker hervorgetreten. Und doch war
noch eine Art Unschuld an ihm gewesen, so als ob er noch immer
geglaubt hätte, dass die Götter und das Schicksal ihn letztendlich
doch wieder mit Gnade behandeln würden.
Kaiser Claudius dagegen waren Spiegel nicht allzu
lieb gewesen, und auch keinem der Gouverneure, der Gesandten oder
der Tribune, unter denen Valerius gedient hatte. Als Valerius sich
das nächste Mal gesehen hatte, war das in einer Taverne in Gallien
gewesen, und allein an dem scharfen Schnitt seines Gesichts und dem
bläulich schwarzen Ton seiner Haare hatte er den Mann erkannt, der
ihm da aus dem schmierigen, schlecht polierten und von Schlieren
überzogenen Metall entgegenstarrte. Damals hatte er bereits jede
Unschuld verloren.
Und eindeutig hatte er sie noch immer nicht
wiedererlangt. Priscus’ Spiegel war auch nicht schlechter als der
in der Taverne, und seine Oberfläche war alles andere als eben,
aber zumindest war er nicht von Fliegenkot beschmutzt. Valerius’
Augen blickten noch härter, als er sie in Erinnerung gehabt hatte;
er erwartete eben nicht mehr länger, dass die Götter sein Leben
schon noch richten würden. Die langsam dunkler werdenden Prellungen
und Schwielen in seinem Gesicht machten es unmöglich, noch
irgendetwas anderes zu erkennen, das darüber hinaus von Bedeutung
hätte sein können.
Wieder einmal erkannte er den Mann, der ihm da aus
der von Feuerglanz überzogenen Bronze entgegenstarrte, nur anhand
der Farbe seines Haares, das noch ebenso bläulich schwarz und glatt
war wie in seiner Kindheit. Valerius hatte immer gedacht, das wäre
das Vermächtnis seiner Mutter an ihn gewesen; bis Luain mac Calma
behauptet hatte, sein Vater zu sein.
Im Nachhinein musste Valerius zugeben, dass er
Luain mac Calma in der Tat ähnlich sah, was, wenn es schon keine
tiefere Bedeutung besaß, doch zumindest eine ganze Anzahl von
bisher ungereimten Dingen erklärte, die sich in Valerius’
Vergangenheit ereignet hatten. Er reichte den Spiegel an Longinus
zurück.
»Und was willst du mir damit nun sagen?«, fragte
er.
»Ich will dir damit sagen, dass nur wir, die wir
hier dieses Feuer mit dir teilen, dich kennen. Denn zehn ganze
Jahre lang haben wir den Schmerz in deinen Augen gesehen, zehn
Jahre lang haben wir darauf gewartet, dass deine scheinbare
Gelassenheit endlich einmal aufbräche; wovor ein Mann sich einmal
wirklich gefürchtet hat, das erkennt er stets wieder. Nur
diejenigen von uns, die ihr halbes Leben unter den Peitschenhieben
deiner Zunge verbracht haben, konnten also auch nur die leiseste
Ahnung davon haben, dass der Gefangene, der heute Morgen
hereingebracht wurde, ausgerechnet jener Mann ist, der von Claudius
höchstpersönlich und noch in dem Monat vor seiner Ermordung wieder
nach Rom zurückbeordert worden war.
Aber selbst wenn auch die anderen von deiner
Geschichte wissen, so gibt es doch nicht mehr als drei Männer hier
in der Provinz, die dich wiedererkennen würden, die wüssten, dass
gerade du jener Mann bist, den Nero einen Verräter genannt hat. Und
keiner von ihnen lebt hier im Westen. Dein Name steht sicherlich
irgendwo in den Aufzeichnungen, aber unser neuer Gouverneur, mögen
die Götter auf seine Seele spucken, ist kein Mann, der Zeit und
Geld darauf verwendet, durch fünf Jahre alte Unterlagen zu wühlen
auf der Suche nach den Halbgeistern aus der Vergangenheit seines
Vorgängers.«
»Vier«, widersprach Valerius. »Es ist erst vier
Jahre her.«
Mit einem heftigen Fußtritt beförderte Longinus ein
Holzscheit in das Feuer. Ein wahrer Funkenregen stob auf. Und in
dieser Geste lag all die Anspannung, die er aus seiner Stimme
herauszuhalten versuchte. »Hast du eigentlich überhaupt irgendetwas
von dem verstanden, was ich dir gerade erzählt habe?«
»Ja. Du hattest Angst vor mir. Und dabei dachte
ich, dass von allen Männern gerade du mich besser gekannt
hättest.«
»Bei den Göttern, Mann, einmal hast du mich sogar
auspeitschen lassen! Hast du das etwa vergessen?«
»Ich habe dich auspeitschen lassen?« Valerius hätte
nicht gedacht, dass er tatsächlich einen so großen Teil seines
Erinnerungsvermögens an den Wein verloren hatte. Dann aber kehrte,
ganz unaufgefordert, doch eine erste Ahnung zurück, und nach ihr
folgten weitere. Valerius fand, dass das Feuer nun seine ganze
Aufmerksamkeit verlangte. Und weil es leichter war, als seinen
Erinnerungen nachzuhängen, erwiderte er: »Ich bin mir sicher, du
hattest es verdient.«
Valerius hörte, wie Longinus scharf die Luft
einsog, und er wartete auf die wahre Explosion, mit der der
Offizier den Atem nun wieder ausstoßen würde. Doch die Explosion
blieb aus. Nach einer Weile, als noch immer nichts geschah, hob
Valerius den Blick. Ihm gegenüber saß der Mann, der ein halbes
Jahrzehnt lang Valerius’ Leben geteilt hatte, sein Bett und sogar
Teile seiner Seele, und auf seinem Gesicht zeichneten sich zu
gleichen Teilen Frustration und eine verzweifelte, scharfe Ironie
ab. »Ich wiederum denke nicht, dass ich es verdient hatte«,
entgegnete Longinus schließlich.
»Willst du mir erzählen, was damals passiert
ist?«
»Nein. Es ist zu lange her, und wenn du dich
wirklich nicht daran erinnerst, sollten wir es auch dabei belassen.
Alles, was ich jetzt für dich erreichen will, ist, dass du ein
Schiff findest, das dich nach Hibernia übersetzt, wo du in
Sicherheit bist, damit ich wieder in die Festung zurückkehren und
damit fortfahren kann, meinen Platz in den Planungssitzungen des
Gouverneurs einzunehmen und in den Strategiesitzungen und den
Sitzungen der Quartiermeister und der Waffenmeister und all den
anderen gottverdammten Sitzungen, die angeblich alle unverzichtbar
sind und in denen selbst der letzte eiserne Bootsnagel und der
letzte Zapfen unserer Wurfmaschinen noch verplant werden, damit der
Einmarsch des neuen Gouverneurs auf Mona auch wirklich von Erfolg
gekrönt sein wird - bis auch der letzte Träumer auf der Insel
vernichtet ist. Und der Gouverneur will den Winter über auch nicht
nach Camulodunum zurückkehren. Welcher andere Gouverneur, von dem
du jemals gehört hast, hat denn schon die heißen Bäder und die
Marmorböden in der Kolonie ausgeschlagen, um dafür den Winter in
einer Legionsfestung zu verbringen? Er wird angreifen, sobald die
Reservetruppen vom Rhein eintreffen, und wenn er erst einmal
loslegt, wird er nicht mehr aufhören, bis ganz Mona allein ihm
gehört.«
Longinus hielt Valerius’ Blick die ganze Zeit über
fest, während er den unverfrorensten Verrat beging, den sie beide
jemals erlebt hatten - Longinus blinzelte noch nicht einmal.
Am Ende war Valerius tiefer beschämt, als er sich
einzugestehen wagte angesichts dieser bernsteingelben Augen und der
Fürsorge, die sich in ihnen spiegelte. Er senkte den Blick auf
seine Hände hinab. Die Worte schienen über ihn hereinzubrechen,
kalt und erbarmungslos wie das Meer im Winter. Und der
Gouverneur will den Winter über auch nicht nach Camulodunum
zurückkehren. Er wird angreifen... und wenn er erst einmal loslegt,
wird er nicht mehr aufhören, bis ganz Mona allein ihm gehört. Bis
auch der letzte Träumer auf der Insel vernichtet ist.
Er schloss die Augen, und plötzlich verwandelte
sich jener Ort in seinem Herzen, der allein den Göttern gehörte und
der eben noch einer überfüllten, kleinen Kammer geglichen hatte, in
ein ruhiges, spiegelglattes Meer, über das hundert kleine Boote in
die Freiheit segelten. Nemain hielt ihn umfangen, und neben seiner
Schulter stand Mithras, und beide erfüllten die Vision mit
Gewissheit - und drängten Valerius, dass Luain mac Calma unbedingt
von der Vision erfahren müsse.
Longinus jedoch war kein Gott und hatte auch nie
die Absicht gehabt, Roms Vormarsch zu unterminieren. Mit trockenem
Mund fragte Valerius also: »Warum erzählst du mir das alles?«
Das Lächeln des Thrakers war nicht zu
entschlüsseln, und wie Kupfer schimmerte sein hirschrotes Haar im
Schein des Feuers. »Weil ich dich besser kenne, als du meinst. Weil
du der sturste, eigensinnigste und starrköpfigste Mann bist, der je
gelebt hat. Weil ich auf gar keinen Fall mit dem ersten Tag des
kommenden Frühlings aus dem Meer herauswaten und auf die Landspitze
von Mona marschieren will, nur um dann festzustellen, dass ich dort
gegen dich kämpfen muss. Und im Augenblick habe ich große Angst,
dass nämlich genau das passieren wird.«
»Ich könnte dich nicht töten, Longinus. Ich bin
nicht länger dein Dekurio.«
»Nein, du Idiot, das weiß ich. Mein Dekurio hätte
sich auch nicht von vier pausbäckigen Kindern schnappen lassen, die
gerade erst ihren Windeln entwachsen sind. Du bist schlichtweg ein
Chaot, aber ich hoffe, du bist wenigstens glücklich damit.«
»Warum hast du dann...«
»Ich möchte einfach nicht einen Mann töten müssen,
den ich noch immer liebe. Also, wirst du jetzt wohl endlich den
Mund halten und deine Mahlzeit beenden, damit wir darüber
nachdenken können, wie wir dich und deinen Halbhund auf eine Art
und Weise zur Küste befördern, bei der wir alle am Leben
bleiben?«