Hört mir zu. Ich bin Luain mac Calma, der Reiher-Träumer, einst Bewohner Hibernias, nun Mitglied des Ältestenrats von Mona, Ratgeber und Freund von Breaca, welche die Bodicea ist, die Siegreiche. Wir leben in einer Zeit voller Gefahren; doch wer nicht die Vergangenheit versteht, der versteht auch nicht die Gegenwart, und ohne diese haben die Stämme von Britannien keine Zukunft mehr. Hier, heute Nacht, an diesem Feuer also sollt ihr nun erfahren, was sich zuvor ereignet hat. Dies ist die Geschichte derer, die wir einmal waren; und derer, die wir vielleicht wieder werden könnten, wenn wir siegen.
Es ist jetzt vierzehn Jahre her, seit Kaiser Claudius seine Legionen aussandte, um in unser Land einzufallen. Damals waren wir noch ein sehr facettenreiches Volk, wir entstammten einer Vielzahl von Einzelstämmen, hatten vielerlei Götter und waren untereinander verbunden nur durch die Achtung und Liebe für unsere Träumer: jene Männer und Frauen, die hierher kamen, auf die Insel der Götter, nach Mona, um ein Dutzend Jahre lang im Großen Versammlungshaus von den Ältesten lernen zu dürfen. Doch auch Kriegerinnen und Krieger kamen hierher, um die Künste der Ehre und des Mutes zu erlernen, die später vielleicht einmal zu Ruhmestaten im Kampf führen würden. Wir haben Scheingefechte miteinander ausgetragen, nur zur Unterhaltung und um unsere Kräfte zu messen, im Geiste aber sahen wir uns bereits in mächtigen Schlachten kämpfen.
Dann kam Rom mit seinen Legionen und seiner Kavallerie. Und die Männer Roms kämpfen nicht um die Ehre oder um im Winter ihre Namen in den Heldenliedern gepriesen zu hören. Sie kämpfen um den Sieg, und wenn sie sich ein Land einmal untertan gemacht haben, dann verlassen sie es nie wieder.
Die Geschichten darüber, wie wir gekämpft haben, wurden schon an anderer Stelle erzählt; die Schlacht der römischen Invasion erstreckte sich über zwei Tage, und an den Feuern wird man sie sich noch bis in alle Ewigkeit erzählen. Eintausend Helden kamen dabei um, und jene wenigen, die lebend entkommen konnten, vermochten dies einzig und allein durch das Opfer der anderen. Es war also zu jener Zeit, dass Breaca, ursprünglich vom Stamme der Eceni, später ranghöchste Kriegerin von Mona, die Streitmacht anführte, um Caradoc zu retten, und damit jenen Namen errang, unter dem wir sie heute kennen: Bodicea, die Siegreiche.
Breaca und Caradoc waren damals unter jenen gewesen, die auf Befehl ihrer Ältesten das Schlachtfeld wieder verlassen hatten. Sie waren diesem Befehl nur widerstrebend gefolgt, flohen nur deshalb, um den Krieg gegen Rom fortsetzen zu können und um die Kinder zu schützen, die ein wertvolleres Gut sind als alles andere. Sie brachten sie hierher, auf die Insel Mona, wo die Krieger und das Wasser das Heiligste beschützen; wo die Träumer, Sänger und Krieger vieler verschiedener Stämme zusammenkommen, um sich selbst im Angesicht der Götter zu erfahren und um dieses Wissen und die Weisheit, die das Wissen birgt, zurück zu ihrem Volk zu tragen.
Zehn Jahre lang kämpften sie von hier aus, hinderten die römischen Legionen daran, im Westen Fuß zu fassen. Und dennoch errichteten die Römer im Osten bei Camulodunum, jenem Ort, der für Caradocs Volk einmal Zufluchtsstätte und Bollwerk gewesen war, ihre erste Festung.
In den Anfangsjahren der Besatzung starben im Osten noch tausende von Kriegern und Träumern; ganze Dörfer wurden hingeschlachtet als Racheakte und Vergeltungsmaßnahmen für diverse Aufstände - ganz gleich, ob diese Auflehnung nun tatsächlich stattgefunden hatte oder ob sie nur erfunden war. Fortan jedenfalls war es jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind bei Todesstrafe verboten, eine Waffe bei sich zu tragen.
Die Legionssoldaten, die die Schwerter unserer Krieger zerbrachen, wurden von einem Offizier namens Julius Valerius angeführt, der ein auffällig geschecktes Pferd ritt. Ihn hasste man mehr noch als jeden anderen, denn er war einst einer vom Stamme der Eceni gewesen und hatte seine Seele an Rom und dessen Götter verkauft. Er kämpfte für Mithras und den Kaiser, und Letztere lebten vom Blut der Eceni.
Breaca und Caradoc hatten einen Sohn, Cunomar, und eine Tochter, Graine. Kurz nach Graines Geburt fiel Caradoc einem schnöden Verrat zum Opfer, wurde gefangen genommen und nach Rom verschleppt. Gemeinsam mit ihm war auch sein Sohn, Cunomar, in Gefangenschaft geraten sowie seine ältere Tochter, Cygfa, eine hoch geachtete Kriegerin.
Die Familie war nach Rom verschleppt worden, um dort ganz nach der Laune des Kaisers Claudius zu sterben - wäre Airmid nicht gewesen, jene Träumerin, die die andere Hälfte von Breacas Seele bildet, und hätte sie nicht einen Weg gefunden, mit der ältesten und gefährlichsten ihrer Ahninnen einen Handel abzuschließen, womit sie den Tod von Caradoc und seiner Familie gerade noch abzuwenden vermochte und ihnen, jedoch erst sehr viel später, zudem auch die Freiheit wiederschenken konnte.
Caradoc war in Rom gefoltert worden, und man hatte ihn damit zeitlebens zum Krüppel gemacht. Er schaffte es zwar noch, seine Familie bis an die Küste von Gallien zu führen, darüber hinaus vermochten seine Kräfte ihn aber nicht mehr zu tragen. Die Rückkehr als Krieger nach Mona blieb ihm verwehrt - seine Verletzungen waren zu schwer, als dass er jemals wieder eine Waffe hätte schwingen können, wie er es vor seiner Gefangennahme so überaus erfolgreich vermocht hatte, und er wollte seinen Kriegern den Schmerz ersparen, mit ansehen zu müssen, wie Rom ihn gebrochen hatte. Also blieb er in Gallien und ließ die Nachricht verbreiten, dass er sein Leben lassen musste, als er seine Kinder verteidigte, während diese an Bord jenes Schiffes gingen, das sie zurück nach Mona bringen sollte.
Das ist inzwischen drei Jahre her. Und Breaca trauert noch immer um Caradoc, jedoch nur im Stillen. Nach außen hin hat sie sich mit Leib und Seele dem Kampf gegen Rom verschrieben. Im Sommer führt sie die Kriegerinnen und Krieger von Mona an, um die Legionen daran zu hindern, bis zu unserer Insel vorzudringen, und um sie, soweit ihr das möglich ist, von den Bergen im Westen fortzudrängen. Während des Winters macht sie allein Jagd auf den Feind, bringt ihre Opfer einzeln oder auch paarweise zur Strecke, und die Römer haben sie mittlerweile fürchten gelernt, ganz so, als ob sie ein Geist der Berge wäre, der sich von ihren Seelen ernährt.
Doch es kehrte noch jemand mit dem Schiff aus Gallien zurück, ein Mann, den niemand erwartet hatte: Julius Valerius, der einstige Eceni und spätere römische Kavallerieoffizier, der eine aktive Rolle bei der Unterdrückung seines eigenen Volkes gespielt hatte. Weil die Götter es so wollten, war er von dem kränkelnden Claudius noch einmal nach Rom zurückbeordert worden, um dort eine letzte Pflicht zu erfüllen: Caradocs Familie bis an die Küste von Gallien zu eskortieren und dort auf ein Schiff zu geleiten, das sie endlich wieder in die Freiheit befördern würde.
Claudius aber starb, ehe die Familie ihre Freiheit wiedererlangen konnte, und Nero, sein Nachfolger, befahl, dass sie auf der Stelle wieder nach Rom zurückgebracht werden sollte. Valerius konnte jedoch nicht einem Eid zuwiderhandeln, den er im Namen seines Gottes geschworen hatte, wurde folglich als Verräter abgestempelt und war gezwungen, nun ebenfalls zu fliehen.
Ich persönlich hätte ihn nach Mona gebracht, und auch andere konnten dafür gute Gründe anführen, Breaca aber verbot dies. Und sie ist nicht nur die Bodicea, deren Wort für die Krieger Befehl ist, sondern sie ist auch Breaca von den Eceni, die Schwester jenes Mannes, der einst Bán gewesen war und zu Valerius wurde, einem Offizier der Legionen.
Sie sind also diejenigen, die unsere Vergangenheit geprägt haben: Breaca, die in den Bergen von Westbritannien Legionare hetzt, und ihr Bruder Valerius, der in Hibernia im Exil lebt, wo er sich unter Mühen seinen Lebensunterhalt als Schmied verdient. Keiner der beiden kann auf ewig so fortfahren. Die Welt verändert sich, und sie müssen sich mit ihr verändern oder sterben.
In der Zwischenzeit warten die Kinder und die Träumer auf Mona, beobachten, wie die Welt von Jahr zu Jahr brutaler wird. Rom will Einnahmen aus seinen Provinzen erzielen, doch Britannien ist nicht jener Lieferant schier unerschöpflicher Gold- und Silbervorräte, für den Claudius das Land gehalten hatte. An Claudius’ statt wurde Nero zum Kaiser ernannt, und Nero wiederum wird von seinen Beratern regiert. Und das sind Männer ohne jedes Mitleid, für die ein Land und sein Volk nichts bedeuten, außer sie besitzen Gold oder eignen sich dafür, auf irgendeine andere Art und Weise ausgebeutet zu werden.
Das ist die Zukunft, die wir fürchten und gegen die wir kämpfen. Mona ist in Sicherheit, geborgen in der Obhut der Götter, doch sollte es der Wille der Götter sein, dass auch Mona nicht mehr sicher ist, dann wird alles, was heilig ist, in den Herzen und im Gedächtnis jener Menschen weiterleben, die die Linie unserer Ahnen fortführen. Diese Menschen sind wir, ihr und ich. Und nun träumt und wisset, dass im Traum eure Zukunft liegt und alles, was wir als die Wahrheit sehen.
Die Seherin der Kelten
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