XXI
Der Hund aus dem Grabhügel der Ahnen begleitete
Valerius sowohl auf der Schiffsreise von Hibernia nach Mona als
auch auf der anschließenden Überfahrt mit der Fähre von Mona zum
Festland, und er schaute dabei zu, wie Valerius Galle und die
Überreste seiner letzten Mahlzeit auf das Deck erbrach. Er reiste
auch mit ihm, als Valerius entlang der Hochgebirgspfade in Richtung
Südosten wanderte, und verließ ihn erst wieder, als Valerius an der
riesigen, ausgedehnten Festung der Zwanzigsten Legion
vorbeiwanderte und den Ausgangspunkt jenes Weges erreichte, der zu
Mithras’ Höhle hinaufführte. Von da an vermisste Valerius die
Gesellschaft des Hundes zwar schmerzlich, aber das Tier schien sehr
eng mit Nemain verbunden zu sein; folglich konnte Valerius wohl
kaum von ihm erwarten, dass es ihm in die Domäne eines anderen
Gottes folgte.
Zwangsläufig kam er auf seinem Weg hinauf zur Höhle
nur qualvoll langsam voran. Die Anhänger des Stiermörders gingen
nicht gerade freundlich mit jenen um, die ihre Kultstätten
entweihten, und Valerius war kein verletzter Offizier mehr, der zu
den Löwen - den Hochrangigsten unter den geweihten Jüngern des
Sonnengottes - gehörte und nun mit der Erlaubnis seines »Vater
Unter Der Sonne« genannten Priesters und Ordensvaters den langen
Marsch hinauf zur Höhle unternahm, um vor der Schlacht seine Seele
von Sünden zu reinigen. Der Weg dort hinauf war schon immer mühsam
gewesen, doch diesmal musste Valerius jeden einzelnen Schritt erst
überprüfen, ehe er ihn wagen konnte, musste sich auf jedem Meter
vorwärts erst vergewissern, dass er keinen Wachen oder
Fährtenlesern oder jugendlichen Initiierten begegnete, die
beschlossen haben könnten, eine Nacht draußen auf dem Berg zu
verbringen, und geradezu darauf brannten, ihren Wert durch die
Gefangennahme eines Abtrünnigen unter Beweis zu stellen.
Bei jedem weiteren Schritt die steile Anhöhe hinauf
trachtete Valerius danach, den Raum für die Begegnung mit den
Göttern offen zu halten, welchen Nemain in seiner Seele geschaffen
hatte. Sie hatte nicht von ihm verlangt, seinen Dienst an Mithras
aufzugeben - er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie eine
solche Forderung jemals stellen würde -, doch nachdem er in ihrer
Gegenwart sein innerstes Selbst offenbart und sich ihr
bedingungslos hingegeben hatte, schien es jetzt völlig
ausgeschlossen, dass er auch noch dem Soldatengott der Legionen
dienen könnte, den zu verehren nur einer sorgfältig ausgewählten
Elite vorbehalten war und in dessen Kreis von Jüngern nur solche
Männer aufgenommen wurden, die zu den besten und ehrgeizigsten
zählten und die sich Rom und dem Kaiserreich mit Leib und Seele
verschrieben hatten.
Valerius erreichte die Kultstätte des Gottes im
trüben Licht der Morgendämmerung und erkannte aus diesem Grunde
nicht sofort, was aus dem Ort geworden war. Bei seinem letzten und
einzigen Besuch - am Vorabend von Caradocs endgültiger Niederlage -
war der Eingang zu Mithras’ Höhle noch eine nicht weiter
gekennzeichnete Spalte in einer Felswand neben einem Wasserfall
gewesen, den man zudem nur zu leicht übersehen konnte, wären da
nicht die Opfergaben in Form von Honig und Getreide und kleinen
Goldstücken gewesen, die sorgsam auf den Vorsprüngen rings um die
Öffnung platziert waren.
Nun, vier Jahre später, erkannte Valerius, dass ein
anderer Vater - der dem Ort offenbar unübersehbar seinen Stempel
aufdrücken wollte - befohlen haben musste, dass in einem etwa
dreißig Zentimeter breiten Streifen um die Höhlenöffnung herum
weißer Kalk aufgetragen wurde, so dass die schwarze Narbe, welche
der Eingang der Höhle einst dargestellt hatte, mittlerweile
geradezu in das Tal hinabzubrüllen schien, damit jeder, ob er
diesem Gott nun huldigte oder nicht, wusste, wo sein wahres
spirituelles Zuhause läge.
Valerius hätte dies nicht befohlen und auch nicht,
so glaubte er zumindest, jener grau gewandete Tribun, der zu seiner
Zeit noch der Vater des Ordens gewesen war. Denn diesem Mann war es
stets lieber gewesen, es mit den Dingen auf die althergebrachte Art
und Weise zu halten, und gewiss hätte er es auch nicht nötig
gehabt, seine Gegenwart geradezu in die Welt hinauszuschreien.
Valerius fragte sich also, ob der neue Gouverneur sich wohl auch
das Brandzeichen des Stiermörders aufdrücken lassen würde: Denn
dieser Akt trug das Zeichen eines Mannes, für den die
Selbstvermarktung und die Beweihräucherung durch andere geradezu
Lebenselixiere zu sein schienen; alles Dinge, die man Suetonius
Paulinus durchaus nachsagte.
Heute jedoch, gerade heute, war die Wirkung nicht
ganz die gewünschte. Der Wind hatte aufgefrischt und spielte mit
dem Wasserfall, so dass der Anblick des weiß umrahmten Schlundes
zunächst ein wenig überlagert wurde durch den noch heller
strahlenden Sprühregen der in die Tiefe stürzenden Wassermassen und
Valerius das wahre Ausmaß des Grauens erst erkannte, als er
unmittelbar davor stand.
Es war niederschmetternd hässlich. Passend zu der
Bemalung waren auch einige pompöse Opfergaben am Eingang der Höhle
hinterlegt worden. Von einem Pflock, den man in den Fels geschlagen
hatte, hing eine Goldkette herab; daneben lag ein noch unversehrter
Weinkrug, in dessen wächserne Versiegelung Claudius’ Zeichen
geprägt worden war, damit dadurch das Alter und der Wert des
Jahrgangs noch besser zur Geltung kämen; und wie ein schimmernder
Tropfen Milch in all dem Sprühnebel baumelte von einem
Haselnussbaum, der seine Zweige über den Wasserfall hängen ließ,
eine einzelne Meeresperle herab, aufgefädelt auf einen dünnen,
goldenen Draht. Allein Letztere kam der heiligen Aura dieses Ortes
auch tatsächlich zugute. Plötzlich durchzuckte ein Schmerz
Valerius’ Backenzähne. Das war der erste Hinweis auf die
Verstimmung des Gottes.
Allerdings wollte Valerius jenem, dem er einst
gedient hatte, nicht besudelt mit dem Glanz unaufrichtig
dargebrachter Opfergaben entgegentreten. Er legte also sein
Reisebündel ab und entfernte sich wieder von der Höhle. Dann blieb
er stehen, um zu warten und zu beobachten. Als er sich sicher war,
dass weder Menschen noch Tiere seinen Aufstieg verfolgt hatten, zog
er sich aus und kletterte vorsichtig über die nassen Steine und bis
zu dem See am Fuße des Wasserfalls hinab.
Tosend umsprudelte ihn das Wasser, hell wie die
Gischt und ungezügelt. Selbst zehn Jahre Dienst im Westen
vermochten nicht die Ehrfurcht zu schmälern, die er angesichts
dieser puren Kraft eines Flusses empfand, der über einen
Felsvorsprung hinabstürzt. Ähnlich einem Kind breitete er die Arme
aus und ließ das Wasser sein Gesicht und seine Brust wie mit
kleinen Nadelstichen übersäen, ließ sich davon geradezu abhäuten,
bis er endlich ganz wach war. Das Brandmal auf seinem Brustbein
kribbelte, doch nur ein wenig; längst vorbei war die Zeit, als es
Valerius mit Schmerzen stets aufs Neue an dessen Pflichten zu
erinnern pflegte.
Wieder etwas vorsichtiger trat er dann von dem
letzten Stein hinab und in das Wasser. Im Gegensatz zu dem Strom,
der an der Traumkammer vorbeifloss, verschlug ihm das Wasser hier
nicht den Atem; dieses Mal vermochte er noch zu denken, konnte sich
nicht mehr selbst verlieren. Dankbar für diesen Umstand tauchte er
den Kopf unter und ließ die reißende Strömung auch den Rest seiner
Haut reinigen.
Mit der körperlichen Reinheit ging auch ein neues
Bewusstsein einher. Er war auf Mona nicht willkommen gewesen, und
der Schmerz darüber begleitete Valerius noch immer. Selbst jetzt
schwand er nicht, und dennoch war Valerius noch am Leben, dennoch
stand es ihm frei, die beißende Luft und das kristallklare Wasser
in sich aufzunehmen, den geradezu stechend blauen Himmel und den
Schrei des einjährigen Bussards, der, vom Winter zerzaust und zu
hungrig, um zu warten, bis es richtig hell war, bereits jetzt auf
die Jagd ging. Valerius spürte den Schmerz des Vogels, doch auf
eine angenehme Art und Weise. Und er stellte fest, dass er den
Blick nach vorn und in die Zukunft des Tieres zu richten vermochte,
in eine Zeit, wenn dessen Schmerz gelindert würde durch Futter und
Ruhe und das spielerische Dahingleiten auf den hoch unter dem
Himmelszelt brausenden Winden. Und das überraschte Valerius; er
hatte nicht gewusst, dass die Öffnung seiner Seele durch Nemain ihm
tatsächlich erlauben würde, in die Zukunft zu schauen, und schon
gar nicht in die eines ungeduldigen Vogels. Erneut entdeckte er die
Gegenwart Nemains also als ein wahres Geschenk, und er badete
darin, so wie er in dem Wasser badete.
Später, abgetrocknet und wieder angekleidet,
sammelte er das Gold und den Wein vor dem Eingang der Höhle ein und
warf alles in den Fluss. Das war zwar nicht länger seine Pflicht,
doch er wünschte Mithras auch nichts Böses, und dies war eine
Gefälligkeit, die allein er dem Gott erweisen konnte. Jegliches aus
der Erde entspringende Quellwasser war zwar eigentlich Nemain
geweiht, doch Nemain bildete auch das Tor zu den anderen Göttern;
sie allein konnte derlei Dinge also unbeschadet vernichten. Der
Stiermörder vermochte das nicht. Als der See schließlich die letzte
schimmernde Kette in sich aufnahm, ließ auch der Schmerz in
Valerius’ Zähnen wieder nach. Die Perle hingegen ließ er an Ort und
Stelle. Denn sie war in ganz anderer Absicht in den Haselnussbaum
gehängt worden und von jemandem, der die Liebe des Gottes zu allem
Schönen verstand.
Nun gab es nichts mehr, das Valerius noch davon
abhielt, in die Höhle einzutreten. Darauf bedacht, wachen
Verstandes zu bleiben, entzündete er eine der Talgkerzen, die er
mitgebracht hatte, und zwängte sich durch den weiß angemalten
Höhlenmund, während er sich innerlich gefasst machte auf die
mühselige Kriechpartie auf dem Bauch durch einen finsteren, immer
enger werdenden Tunnel, der ihn schließlich dem Gott zuführen
würde.
Der Zugang zumindest erfolgte noch auf dem
althergebrachten Wege. Wie schon einmal erreichte er auch jetzt
wieder jene Biegung des Tunnels, wo der Boden in einer steilen
Schräge abfiel und wo die einzige Möglichkeit, noch weiter
voranzukommen, darin bestand, die Arme vor sich auszustrecken und
den Körper an den Fels anzuschmiegen. Dann, für einige lange
Augenblicke, schien es, als käme er nicht mehr vor und auch nicht
mehr zurück, und gewaltsam musste Valerius den Impuls, in Panik
auszubrechen, niederringen. Als er schließlich doch an der Öffnung
anlangte, die in die Höhle führte, erschien ihm diese wie eine
segensreiche Erleichterung; eine Erleichterung, die er noch ebenso
deutlich vom letzten Mal her in Erinnerung hatte, wie er sie nun
erneut empfand.
Er war nicht mehr der Mann, der er einst gewesen
war; er wusste diesen Ort nun noch mehr zu würdigen. Die
Ahnenträumer der Hibernier hatten die Traumkammer, in der Valerius
seine langen Nächte der Einsamkeit verlebt hatte, aus schlichtem
Stein gebaut und sie bewusst so gestaltet, dass keinerlei Licht
eindrang. Hier dagegen hatten die Götter - und ohne die Hilfe
irgendwelcher Träumer - mitten in einem Berg, der so hoch war, dass
er bis an die Wolken heranzureichen schien, ein sich nach oben
emporschwingendes Gewölbe geschaffen. Und in dieses Gewölbe hatten
sie einen See gebettet, über den sich ein zarter Schleier aus
winzigen Wassertröpfchen spannte, und sie beide waren, wenn das
Licht einer Kerze sie berührte, so schön, dass einem schier das
Herz zerspringen mochte. Niemals hatte Valerius etwas ähnlich
Schönes gesehen.
Schon einmal hatte die innere Erschütterung
angesichts dieses Glanzes ihn zu Mithras geführt, und er hoffte,
dass es auch dieses Mal wieder so sein würde. Tastend entzündete er
die zweite seiner drei Kerzen und stellte sie auf einen Felsblock.
Dann schloss er die Augen und wartete einen Moment, ehe er zu jener
Stelle hinüberblickte, wo der See gelegen hatte und die
hinabtropfenden Juwelen aus Wasser schwebten, die zitternd und wie
aus Gold gezogene Tränen des Gottes von der Decke geregnet
waren.
Scharf, doch zu spät kehrte der Schmerz in
Valerius’ Zähne zurück, und ohnehin war er bereits viel zu sehr
gefangen von seinen Erwartungen, als dass er die Bedeutung dieses
Zeichens noch begriffen hätte.
Und doch hätte er es wissen müssen; ein Mann, der
den Eingang einer Höhle weiß anstreichen ließ, drückte auch dem
Allerheiligsten in ihrem Inneren noch seinen Stempel auf. Der See
war von Eisen umschlossen, von einem Ring aus schlanken
Eisenstangen. Stangen, wie die Legionen sie am Rande ihrer
Nachtlager aufstellten, abgesehen von der Tatsache, dass diese hier
nicht aus Holz waren, sondern dass sie geschmiedet, gezogen und von
Hand ausgehämmert waren und an ihren Enden das Punzzeichen des
Raben prangte, genau jenes Zeichen, das auch auf Valerius’ Brust
eingebrannt war. Und wo die Legionäre ihre Begrenzungspfeiler mit
einem einzigen Hieb in den Boden rammen konnten, hatten hier Männer
tagelang mit Meißeln und Mörtel arbeiten müssen, um die Streben in
das Felsgestein einzupassen, das den Boden der Höhle bildete.
Es war ein Sakrileg, begangen im Namen des Gottes,
und Valerius’ sämtliche Sinne schrien bei diesem Anblick laut auf.
Er wandte sich um und entdeckte im hinteren Teil der Höhle einen
marmornen Altar, und jener kleine Teil seines Bewusstseins, der
noch denken konnte, versuchte sich bereits auszumalen, wie man den
wohl durch den Tunnel gezwängt hatte. Der Rest seiner selbst
musterte einfach nur die in Stein geritzten Zeichen, die den Altar
umschlossen, die Goldverzierungen und die aufgemalten
Symbolfiguren, und auch all dies schien Valerius ein einziges
Sakrileg.
Voller Abscheu fragte er: »Kennen sie dich denn
überhaupt nicht?«
Sie glauben auf jeden Fall, mich zu kennen.
Und bist du denn tatsächlich so viel anders als sie?
Wesentlich langsamer, als er sich vorhin von dem
Wasser weggedreht hatte, wandte Valerius sich ihm nun wieder zu.
Nemain war ihm noch nie in einer Vision erschienen, auch hatte sie
noch nie laut zu Valerius gesprochen, so dass ihre Stimme von den
wie mit Juwelen aus Wasser geschmückten Felsen prallte und Valerius
selbst dort, wo er stand, noch am ganzen Körper erbeben ließ.
Mithras dagegen tat beides. Allerdings kniete der
Gott dieses Mal nicht inmitten seiner Flammen, so wie er es zuvor
schon einmal getan hatte, und auch lag kein Stier zu seinen Füßen,
weder tot noch lebendig. Dafür stand jener Hund an Mithras’ Seite,
der stets gemeinsam mit ihm dargestellt wurde - in den
Wandmalereien und Friesen der Kellergewölbe, die sich unter den
römischen Festungen erstreckten. Allerdings war der Kopf dieses
Hundes hier etwa auf Höhe des Oberschenkels von Mithras; auf den
Bildern dagegen war das Tier immer recht klein und hatte hängende
Ohren, ein Jagdhund mit kurzem, glattem Fell, der aus den heißen
Wüsten stammte, die auch Mithras’ Geburtsstätte waren.
Hier, in der Höhle des Lichtgottes unter den Bergen
Britanniens, war der Hund jedenfalls sehr groß, hatte spitze,
aufrecht stehende Ohren und ein drahtiges, geflecktes Fell, und
über sein Nackenfell zogen sich weiße Sprenkel, ganz so, als ob das
Tier gerade noch mitten in einem Schneegestöber gestanden hätte. Es
war der Hund aus der Traumkammer der Ahnen, der Valerius am Fuße
des Gottesberges verlassen hatte, und zugleich war er auch Hail,
der doch eigentlich tot und Briga übergeben worden war. In jedem
Fall aber hätte er nicht an der Seite irgendeines fremden Gottes
erscheinen sollen, vor allem nicht an der Seite eines Gottes, der
so eng im Zusammenhang mit den Legionen stand.
Valerius öffnete den Mund, schloss ihn aber
sogleich wieder. Nemain beobachtete ihn dabei und bot ihm doch
keinerlei Hilfe an.
Belustigt sprach Mithras: Ich frage dich noch
einmal. Kennst du mich, Julius Valerius, Schmied aus
Hibernia?
Valerius fand seine Stimme wieder, was ihn
insgeheim überraschte. »Das zu behaupten würde ich mir niemals
anmaßen. Habe ich mir auch nie angemaßt.«
Und dennoch entfernst du die falschen
Opfergaben vom Eingang meiner Höhle und verspürst Kummer über die
Einfriedung meines Sees.
»Ich möchte dich einfach nicht leiden
sehen.«
Das also verstehst du immerhin schon. Ich
will die Frage noch einmal anders stellen. Kennst du mich, Bán von
den Eceni?
»Nein.«
Valerius sprach, ohne nachzudenken und aus jenem
sich zusammenkrampfenden Ort in seiner Brust heraus, wo sich noch
immer ein uralter Schmerz verbarg. Vier Jahre zuvor wäre es bei
diesem einen Wort geblieben. Nun aber und aus jener Freiheit
heraus, in die erst Nemain ihn geführt hatte, fuhr er fort: »Als
Julius Valerius, Dekurio der Kavallerie und Diener des Kaisers,
hätte ich dein Wesen eines Tages erfassen können. Als Bán jedoch
kann ich nur Nemain gehören.«
Aber du bist nicht Bán. Auf diesen Namen
hörst du doch in Wirklichkeit gar nicht, und auch in deinen Träumen
siehst du dich nicht als Bán. Ich frage dich abermals: Als
Valerius, wem dienst du da?
In Gegenwart eines Gottes sollte man ohne
gründliche Überlegung besser nicht zweimal das Gleiche antworten.
Valerius stand in der Mitte der Höhle und beobachtete, wie das
Licht seiner Kerze durch die Lücken zwischen den eisernen Stangen
sickerte. Einst hätte das Licht dieser einen Kerze ausgereicht, um
ein Feuer auf dem See zu entfachen und den Ort wieder zum Leben zu
erwecken; jetzt aber vermochte es dies nicht mehr. Der Gott stand
auf völlig regungslosem Wasser, während verdorrte Flammen kaum mehr
an seine Füße heranreichten. Valerius ließ seinen Geist sich
ausdehnen, bis er die Flammen berührte, und tastete dort nach einer
möglichen Antwort.
Drei Jahre lang hatte er auf Hibernia einfach nur
als Valerius gelebt und gedacht, er wäre gottlos. Nun wusste er
zwar, dass er eben doch einem Gott angehörte, hatte aber immer noch
nicht herausgefunden, wer er selbst eigentlich war; abgesehen
davon, dass er nicht Bán von den Eceni war und auch nicht länger
Julius Valerius, Bürger Roms und Dekurio der thrakischen
Kavallerie.
Zu Füßen des Stiergottes neigte der Hund den Kopf
und trank von dem Licht des Feuers. Sein Nackenpelz schien ein
wenig verfilzt an jener Stelle, wo einst die tödliche Wunde
gesessen hatte, an der er verblutet war - doch vielleicht schien
das nur hier so, an diesem Ort. Er reckte schnüffelnd die Nase in
die Luft, stellte die Ohren auf, trottete ein Stück vorwärts und
übersprang die Eisenstangen, als ob sie lediglich Stöckchen wären,
die flach auf dem Boden lagen. Als er bei Valerius ankam, drückte
er die Nase in dessen schlaff herabhängende Hand, und abermals, wie
schon in der Kammer der Ahnen, empfand Valerius ihre Wärme und ihre
Nässe als so real, als ob es eine echte Hundeschnauze wäre.
In der Gegenwart der Götter geschah nichts aus
bloßem Zufall. Valerius kniete sich nieder, wie auch Mithras einst
gekniet hatte, und kraulte den Traumhund hinter den Ohren. Er ließ
den Blick hinaus über das Wasser schweifen und fragte: »Ist dies
mein Hund oder deiner?«
Wenn du mir huldigst, dann ist, was mein ist,
auch dein.
Wenn… Bebend überspannte dieses eine
Wörtchen die Luft zwischen dem Mann und dem Gott, öffnete Türen,
die Valerius lange für verschlossen gehalten hatte.
Wenn… Der Gott schritt durch Alleen aus
Feuer. Sein Gesicht war das eines Jünglings, seine Augen so alt wie
die Ewigkeit. Sein Haar war von der Farbe der Morgensonne, und in
seinem Lächeln lagen die Schönheit und die wilde Kraft eines jeden
Sonnenaufgangs, den die Welt jemals gesehen hatte. Kein Mann konnte
diesem Gott gegenübertreten, ohne Liebe für ihn zu empfinden, und
keiner konnte ihn wieder verlassen, ohne darüber tiefes Bedauern zu
verspüren.
Fünfzehn Jahre lang hatte Valerius diesem Gott
gedient; fünfzehn Jahre, in denen er nie eine solche Begegnung
erlebt hatte, und damit auch fünfzehn Jahre des Dienstes ohne echte
Liebe. Nun aber fühlte er sich von einem Verlust erdrückt, der so
schwer wog wie ein ganzer Berg.
Voller Qual erwiderte er: »Aber ich kann nicht mehr
der sein, der ich einmal war. Ich kann nicht mehr zurück.«
Möchtest du denn wieder zurückkehren?
»Nein. Man hat mir mein Geburtsrecht
geschenkt. Jetzt bin ich endlich der, der ich wirklich bin.«
Verzweifelt suchte Valerius nach Nemain, und er fand sie, und
nichts hatte sich zwischen ihnen verändert, außer dass seine Seele
langsam ihr Gleichgewicht fand und seine Verwirrung nicht unerhört
blieb. Nemain erzwang keine Entscheidung von ihm, so wie auch
Mithras nichts erzwang. Und dennoch sah Valerius keinerlei
Möglichkeit, wie ein Mann zwei so grundverschiedenen Göttern
zugleich dienen könnte, ohne dabei den Verstand zu verlieren.
Das Bild einer Flamme zitterte über den ebenen
Spiegel aus Wasser. Der Gott stand nun so dicht bei Valerius, dass
dieser ihn hätte berühren können. Leise sprach der Gott: Wer
bist du jetzt, Valerius, Wanderer zwischen den Welten? Julius
Valerius war ebenso sehr ein Mann Roms, wie auch Bán ein Kind der
Eceni war, und keiner von beiden lässt sich so einfach abtöten,
egal, wie sehr du dich auch darum bemühen magst. Musst du dich nun
also wirklich erst von dem einen lossagen, um dem anderen treu
bleiben zu können? In jedem Fall liegt die Wahl bei dir. Kein Gott
kann sie für dich treffen.
Allerdings war Valerius überhaupt nicht hierher
gekommen, um eine Wahl zu treffen, sondern um ein Ende zu finden.
Schon zu lange hatte er nichts mehr erwidert und bloß die eisernen
Stangen und die flackernde Kerze angestarrt. Dann nahm das
Schweigen eine andere Struktur an, und als Valerius den Blick
wieder zu dem Gott emporhob, floss Mithras in das Feuer hinein und
das Feuer in das Wasser.
Das Gefühl des Verlusts war verheerend. Allein
gelassen und verstoßen sank Valerius auf die Knie und weinte. Heiße
Tränen zogen in Bahnen über seine Wangen. Wie gerne wollte er dem
Gott nun doch noch seine Treue schwören, wollte sich nun doch noch
und ein für alle Mal entscheiden, und konnte es doch nicht; seine
Stimme gehorchte ihm nicht länger.
Der rauhaarige Hund wandte sich zum See um. Er
winselte einmal, leise, drehte sich dann aber wieder zu Valerius um
und stupste dessen Hand an.
Durch die von Widerhall erfüllte Kuppel der Höhle
drang sanft Mithras’ Stimme zu Valerius hinab: Erkenne, wer der
Mann ist, zu dem du geworden bist, Wanderer zwischen den Welten.
Wenn du das herausfinden kannst, dann steht dir der Friede aller
Götter offen - für immer, und nicht bloß, wenn du in dem Licht von
Nemains Mond wandelst.
Valerius war wieder allein; er kniete auf dem
Felsboden der Höhlenkammer und zitterte so stark, wie er sonst nur
während einer Ozeanüberquerung zitterte. Der Hund aber drängte
Valerius, sich wieder aufzurichten, wieder aufzustehen, und rieb
sich an seinem Bein, so dass Valerius sich geradezu gegen das Tier
stemmen musste, wenn er nicht umfallen wollte. Er hatte das
Bedürfnis, sich zu übergeben, wollte aber nicht die Höhle des
Gottes beflecken, ganz gleich, wie sehr diese auch schon geschändet
sein mochte.
Und dieser Gedanke bewegte in seinem Inneren etwas.
Er hatte keinerlei Werkzeug mit sich gebracht, glaubte aber, dass
es ihm auch mit bloßen Händen möglich wäre, zumindest das
Schlimmste von dem, was jene Männer angerichtet hatten, wieder zu
beseitigen.
Die Eisenstangen rund um den See waren noch am
einfachsten zu entfernen; die Löcher, in denen sie steckten, waren
nicht sonderlich tief und der Mörtel in der feuchten Luft schon
wieder zersprungen. Eine nach der anderen riss Valerius sie heraus
und lehnte sie gegen die Wand nahe dem Tunnel, der nach draußen
führte.
Mit dem Altar war es dagegen schon schwieriger. Er
war keineswegs hässlich; am richtigen Ort hätte er sogar
wunderschön wirken können, aber das hier war eben nicht der
richtige Ort. Valerius besah ihn sich genau und stellte fest, dass
er aus kleinen Einzelteilen gefertigt war. Nun verstand er auch,
wie man den Altar durch den Tunnel befördert hatte. Die glatte
Marmorplatte, die obenauf lag, ließ sich leicht abnehmen, und die
vier Seitenwände wurden im Inneren von hölzernen Pflöcken
zusammengehalten.
Es kostete zwar einige Anstrengung, den Sockel
auseinander zu stemmen, doch Valerius hatte Zeit und Kraft genug,
die er nun auf irgendetwas verwenden wollte. Das Gold und der
Plunder an den Rändern ließen sich leicht entfernen. Die einzige
Frage war also, wo er sich der Stücke entledigen wollte. Weder
konnte er sie in den See werfen - denn von allen Gewässern der Welt
war gerade dieses hier nicht Nemains -, noch konnte er den Marmor
allein und ohne Seile oder Rollen wieder durch den Tunnel nach
draußen schleifen.
Die Kerzen waren fast ganz heruntergebrannt.
Valerius entzündete die dritte am Stumpf der zweiten und
beobachtete, wie die beiden Flammen sich in der träge strömenden
Luft umeinander wanden. Sie neigten sich leicht nach links, in
Richtung des Eingangs jenes Tunnels, durch den Valerius
hereingekrochen war, angetrieben von einem Luftzug, der von der
gegenüberliegenden Seite der Kaverne herüberwehte. Valerius wandte
sich um und starrte zu der Wand aus dunklem Felsgestein
hinüber.
»Was meinst du, ob ich wohl jetzt endlich auch in
die andere Höhle darf? Bisher wollten die Götter mich dort nicht
hineinlassen.«
Er sprach an den Hund gewandt, der ihm natürlich
keine Antwort gab, der ihn aber auch nicht zurückhielt, als
Valerius sich unter den einen Arm ein Bündel eiserner Stangen
klemmte und sich dann auf die Suche begab nach der Öffnung jener
Höhle innerhalb der Höhle, die er bereits bei seinem früheren
Besuch entdeckt hatte. Dieser Höhleneingang war noch nicht mit
weißem Kalk umrahmt worden. Es war zwar unwahrscheinlich, dass die
Pioniere mit ihren Bohrern und dem Mörtel den Eingang nicht gesehen
hatten, aber ebenso, wie es auch Valerius bei seinem letzten Besuch
ergangen war, so waren vielleicht auch sie von einer Kraft vor dem
Nähertreten gewarnt worden, die einfach zu mächtig war, als dass
man sie hätte ignorieren können.
Auch jetzt sah der Eingang nicht einladender aus
als beim vorherigen Mal. Die Kerze flackerte und rußte und warf
mehr Schatten als Licht. Seitwärts gedreht zwängte Valerius sich
zunächst nur mit den Schultern in jene Kluft, die in die zweite
Höhle führte - und wartete.
Keine Stimme erschallte, um ihn aufzuhalten. Auch
aus der stillen kleinen Kammer in seiner Seele tönte ihm keinerlei
Warnung entgegen.
Ein etwas kräftigerer Luftzug blies die Kerze
aus.
Valerius hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Doch
dreimal hintereinander musste er sich im Stillen noch einmal an
diese Tatsache erinnern, während er die Eisenstangen nacheinander
in der inneren Höhle an die Wand lehnte, um sich anschließend
wieder den Rückweg zu ertasten. Die Jahre, die er in den Legionen
gedient hatte, hatten ihn gelehrt, immer dann, wenn es keine
bessere Lösung gab, stets ganz methodisch vorzugehen; die eisernen
Stangen hatte er nebeneinander aufgereiht und daneben, der Größe
nach geordnet, legte er die Teilstücke des Altars ab. Dies alles
nun in die innere Höhle hinüberzutragen, war allerdings eine
Arbeit, die nur langsam voranging. Da Valerius sich seinen Weg
mangels einer Lichtquelle nur ertasten konnte, zog sich die Aufgabe
noch zusätzlich in die Länge. Mit der Zeit jedoch erlangte er darin
einige Übung, und es ging etwas schneller voran, so dass der
Transport des Altargoldes und der dazugehörigen Symbolfiguren in
den inneren Höhlenraum hinein schließlich sogar recht zügig ablief.
In der kleinen Höhle angekommen, legte Valerius sie dann auf den
Felsvorsprüngen ab, deren Lage er sich bereits eingeprägt
hatte.
Als er das letzte Stück abgelegt hatte, blieb er
einen Augenblick stehen, sog prüfend die Luft ein, ganz so, wie es
vielleicht auch ein Reh oder Hirsch tun würde, um etwaige Gefahren
zu wittern. Er empfand keine unmittelbare Bedrohung, spürte aber,
dass da plötzlich etwas sehr Altes zugegen war und eine gespannte
Aufmerksamkeit in der Luft lag, die aber nicht von ihm ausging.
Außerdem nahm er eine vage Ahnung von etwas wahr, das ein Gruß
hätte sein können oder zumindest eine beifällige Wahrnehmung seiner
Anwesenheit. Und all diesen Eindrücken lag eine gewisse trockene
Aura zugrunde, die so gar nicht zu der Feuchtigkeit passen wollte,
welche die Kaverne erfüllte, sondern ihn vielmehr an gerade
abgefallene Blätter erinnerte, ehe die Regenschauer des Winters sie
zersetzen, oder auch an eine unmittelbar nach der Häutung gefundene
Schlangenhaut.
Er schritt noch ein wenig weiter, ging über den
Endpunkt seines bereits zuvor ertasteten Territoriums hinaus und
ließ sich von dem dort herrschenden Luftzug das Haar aus der Stirn
heben.
»Danke«, sagte er. »Ich lasse all dies hier nun in
deiner Obhut zurück. Die Stücke haben nichts Schlechtes an sich,
sie lagen nur aus den falschen Absichten heraus am falschen Ort.
Eines Tages erfüllen sie vielleicht ihren wahren Zweck.«
Die uralte, ihn musternde Dunkelheit öffnete sich
ein wenig und nahm Valerius’ Worte in sich auf. Er erwartete
irgendeine Art von Antwort und war enttäuscht, als nichts folgte.
Allein das noch immer nicht ganz verhallte Echo von Mithras’
letzten Worten durchwob zart die Luft; allerdings wogten diese
bedeutungsschwangeren Überreste der Stimme des Gottes schon seit
seinem Verschwinden durch die Höhle. Valerius würde sie also auch
weiterhin einfach ignorieren. Denn er hatte nicht die Absicht,
irgendeine Wahl zu treffen, ehe er nicht geschlafen und gegessen
hatte und außer Reichweite der Legionen war, die unten im Tal
lagerten.
Ohne weiter nachzudenken, schürzte er die Lippen
und pfiff leise nach dem Hund, ganz so, wie er auch nach Hail zu
pfeifen pflegte, als er noch ein Kind gewesen war. Sofort stupste
das Tier Valerius gegen den Oberschenkel - an jene Stelle, neben
der der Hund ganz einfach herzulaufen hatte, wo er ganz einfach
hingehörte -, und gemeinsam ertasteten sie sich ihren Weg durch
Mithras’ neu geweihte Höhle zurück bis zur Öffnung jenes Tunnels,
der sie wieder ins Freie führen würde.
Valerius sammelte die drei Kerzenstümpfe wieder ein
und verneigte sich noch einmal vor dem Schwarzwassersee. Er spürte
eine innerliche Reinheit, die ihn geradezu in Hochstimmung
versetzte und ihm die anstehende Entscheidung weniger schwer
erscheinen ließ. Das Wissen, dass in jenem Raum in seinem Inneren,
der allein von seinem Gott erfüllt sein sollte, gleich zwei Götter
wohnten, breitete eine Decke des Friedens über Valerius aus, die
nicht allein von Nemain stammte.
Er verweilte noch einen Augenblick bei diesem neuen
Gedanken. Dann sprach er: »Danke. Stets bin ich dankbar für das
Geschenk deiner Gegenwart, und ich werde dich auch weiterhin ehren,
was auch passieren mag.«
Das Echo der Stimme seines Gottes hüllte ihn ein:
Triff deine Entscheidung mit Bedacht, Valerius.
Als Valerius aus dem Tunnel heraus ins Freie kam,
fühlte er sich wie wiedergeboren, wiedergeboren in ein Gefühl der
reinen Freude hinein. Und eigentlich hatte er gedacht, dass er
dieses Erlebnis bereits nach seiner Zeit im Ahnenhügel von Hibernia
würde genießen dürfen; damals jedoch war es noch
ausgeblieben.
Nun aber blendeten ihn die späte Morgensonne und
das Glitzern jenes Sees unter dem Wasserfall. Das Tosen des Wassers
und der Schrei des Bussards schienen seine Ohren zu überfluten,
schienen sein Bewusstsein zu durchtränken. Die geradezu beißend
kalte Luft und das noch kältere Wasser schlugen ihm ins Gesicht,
und tief nahm er beide in sich auf, trank sie geradezu gierig,
selbst als die hinter ihm lauernden Männer urplötzlich aus ihrem
Versteck hervorstürzten, seine Arme packten, ihm Stricke um die
Handgelenke schnürten und ihn zweimal hart in den Bauch traten, so
dass Valerius zu Boden stürzte und krampfhaft nach Luft rang. Noch
immer war ein Teil von ihm umfangen von dem Glanz und der
Verzückung des Morgens und verstand nicht, was gerade
geschah.